Leitsatz (amtlich)

Zu den Beweisfragen, Beweismöglichkeiten und Beweismethoden bei Ermittlung und Konkretisierung des Verhältnisses der Anzahl vorhandener Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen - 75 : 100 - (Vergleiche BSG 1969-12-11 GS 4/69; BSG 1969-12-71 GS 2/68 = BSGE 30, 167; 30, 192).

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23, § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 103 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1967 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger hat als ungelernter Arbeiter Lohnarbeiten verrichtet. Er leidet hauptsächlich an einer Aortensklerose. Seine Arbeitsfähigkeit wurde dahin beurteilt, daß er nur noch leichte Arbeiten zu ebener Erde für 3 bis 4 Stunden täglich zu verrichten vermöge.

Der Kläger bezieht die Rente wegen Berufsunfähigkeit (Bescheid vom 20. Januar 1965). Er verlangt jedoch die Leistung wegen Erwerbsunfähigkeit. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben die Klage abgewiesen (Urteil des SG Gelsenkirchen vom 12. Mai 1966 und Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 9. November 1967). Das Berufungsgericht ist der Ansicht, daß es für den Kläger geeignete Teilzeitarbeitsplätze an sich gäbe. Ob er auch Gelegenheit finden werde, die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit zu nutzen, sei dagegen für die Anwendung des Begriffs der Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unerheblich.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt, die vorinstanzlichen Entscheidungen aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Für die Beurteilung, ob ein Versicherter berufsunfähig (§ 1246 Abs. 2 RVO) oder erwerbsunfähig (§ 1247 Abs. 2 RVO) ist, ist es-neben einer Leistungsminderung aus gesundheitlichen Gründen- erheblich, daß Arbeitsplätze, die er mit der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit noch ausfüllen kann, vorhanden sind. Auf Tätigkeiten, für die ihm der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist, darf er nicht verwiesen werden. Der Arbeitsmarkt ist ihm praktisch verschlossen, wenn das Verhältnis der im Verweisungsgebiet vorhandenen, für ihn in Betracht kommenden Teilzeitarbeitsplätze zur Zahl der Interessenten für solche Beschäftigungen ungünstiger ist als 75 zu 100. Hierauf kommt es allerdings dann nicht an, wenn der Versicherte einen entsprechenden Arbeitsplatz - jedoch nicht auf Kosten seiner Gesundheit oder nur vorübergehend - innehat oder die Annahme eines solchen ohne triftigen Grund ablehnt. Diese Grundsätze hat der Große Senat des Bundessozialgerichts (BSG) aus der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der beiden genannten Vorschriften - mit jeweils ausführlichen Begründungen - abgeleitet (BSG 30, 167; 30, 192). Ihre Anwendung zwingt bei der Prüfung, ob Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit vorliegt, zur Ermittlungen darüber, ob - und unter welchen Verhältnissen - der Rentenbewerber tatsächlich arbeitet, ob ihm ein angemessener Arbeitsplatz bekannt geworden oder ob für ihn ein entsprechendes Arbeitsfeld vorhanden ist. Im vorliegenden Fall sind solche Ermittlungen bisher nicht angestellt worden; bis zum Bekanntwerden der Entscheidungen des Großen Senats konnten sie in dieser Weise auch nicht angestellt werden. Sie sind nachzuholen. Dabei sind alle üblichen Beweismittel zu berücksichtigen und darüberhinaus - bedingt durch die vom Großen Senat entwickelte Rechtsauffassung - sonst weniger zugängliche Beweisquellen auszuschöpfen (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes).

Der Große Senat gibt in seinen Beschlüssen Hinweise, wie die für maßgebend erachteten Verhältniszahlen zu ermitteln sind. Er verweist u. a. auf statistische Untersuchungsergebnisse. Dazu nimmt er auf Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (§§ 3 und 6) Bezug, die es der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zur Aufgabe machen, die erforderlichen statistischen Erhebungen durchzuführen. Zugleich teilt der Große Senat mit, daß die BA zur Zeit noch nicht über unmittelbar verwertbare Unterlagen verfüge, daß aber das Statistische Bundesamt Material besitze, welches nach Aufbereitung den nötigen Aufschluß gäbe. Das LSG wird zu überlegen haben, auf welchem Wege es, solange Anfragen an die Arbeitsverwaltung über die Verhältnisse in der Vergangenheit wenig Erfolg versprechen, die vorhandenen - wohl aus Volks-, Berufs- und Arbeitsstättenzählungen (vgl. Volkszählungsgesetz 1970 vom 14. April 1969, BGBl I 292) gewonnenen - Befunde nutzbar machen oder wie sonst es die bestehenden Informationslücken schließen kann. Nach einer Mitteilung des Statistischen Bundesamtes vermag die Repräsentativstatistik der Bevölkerung und des Erwerbslebens - Mikrozensus - (Gesetz vom 21. Dezember 1962, BGBl I 767) Aufklärung über den Ausbildungsstand und die Art der Behinderung der Erwerbstätigen zu geben. Befragungsergebnisse hinsichtlich der geleisteten Arbeitszeit seien jedoch noch erst von weiteren Programmierarbeiten abhängig. Damit diese Maßnahmen eingeleitet werden können, wird der Berufungsrichter, wenn dazu nicht die BA in absehbarer Zeit das Erforderliche beitragen sollte, die Exekutive um Hilfe bitten müssen. Es ist nämlich zu beachten, daß nach der Entscheidung des Großen Senats die Tatsachengerichte sich nicht mit Auskünften der Arbeitsverwaltung zufrieden geben müssen oder auch nur dürfen. "Sie haben den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen, wobei das Ausmaß der Aufklärung und die Wahl der Beweismittel in ihr pflichtgemäßes Ermessen gestellt sind und weitgehend vom Einzelfall abhängen." Eine verläßliche Wirklichkeitsanalyse ist unentbehrlich, wenn nicht der vom Großen Senat aufgestellte Maßstab zur Abgrenzung der Rentenversicherung von der Arbeitslosenversicherung seinen Sinn verlieren soll.

Wertvolle Fingerzeige versprechen ferner Nachforschungen nach Zahlen zur Relation zwischen teilzeitarbeitsuchenden Männern und Einstellungen von Männern in Teilzeitbeschäftigungen während bestimmter Zeitabschnitte. Darüber dürften von der Arbeitsverwaltung brauchbare Angaben zu erhalten sein. Freilich wird es darauf ankommen, daß diese die für die zu treffende Entscheidung wichtigen Differenzierungen in bezug auf Geschlecht, Alter und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten enthalten.

Eine Anschauung von Angebot und Nachfrage auf dem Teilzeitarbeitsmarkt, der bisher weitgehend außerhalb der amtlichen Vermittlungstätigkeit funktionierte, könnte eine umfassende Auswertung der Nachuntersuchungsergebnisse der Rentenversicherungsträger liefern. Auch könnte es wertvoll sein, wenn sich diejenigen Nachweise systematisch erfassen ließen, welche die Finanzämter aufgrund der vereinfachten Lohn-Pauschal-Besteuerung besitzen (Rechtsgrundlage für diese Besteuerung sind § 35 b Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b der Lohnsteuer-Durchführungs-Verordnung in der Fassung vom 22. November 1965 - BGBl I, 1829 -. Dazu sind besondere Richtlinien ergangen, und zwar LStR 1966 Abschnitt 52 c, BStBl I 1966, 340, hier: 395). Diese Lohnbesteuerung wird für Beschäftigungen von nicht mehr als 20 Stunden oder gegen einen Arbeitslohn von nicht mehr als voraussichtlich 60.- DM wöchentlich durchgeführt. Eine Lohnsteuerkarte wird nicht verlangt. Der Arbeitgeber legt dem Finanzamt Aufzeichnungen vor, die Angaben über Dauer der Beschäftigungen und Höhe des Arbeitslohnes enthalten. Auf solche Belege gestützt, ließe sich erforschen, welcher Art die bei Teilzeitbeschäftigungen ausgeübten Tätigkeiten sind, welche Anforderungen dabei üblicherweise an das Leistungsvermögen gestellt werden, ob der Arbeitsplatz für den Teilzeitbeschäftigten besonders eingerichtet worden ist, welche Faktoren die Vergabe von Teilzeitbeschäftigungen begünstigen oder hemmen und welche Gründe für regionale Unterschiede bestehen. Der Zugriff auf die Lohnsteuerdaten ist freilich durch das Steuergeheimnis (§ 22 Abgabenordnung) behindert; er dürfte aber im öffentlichen Interesse nötig und deshalb nicht völlig versperrt sein, weil es nicht auf die individuellen Verhältnisse des einzelnen Steuerpflichtigen oder Arbeitgebers ankommt. Bei der Auswertung von Unterlagen zu statistischen Zwecken werden sich Vorkehrungen treffen lassen, die den Schutz der Individualsphäre gewährleisten.

An den vorbezeichneten und noch zu erschließenden Informationsquellen wird der Tatsachenrichter nicht vorbeigehen können, wenn er einen verläßlichen Ein- und Überblick über die hier anstehende Problematik gewinnen will. Bei der Abfassung sachangemessener Beweisfragen sowie bei der Suche nach geeigneten Beweismöglichkeiten und Beweismethoden wird nicht stets ohne Rat eines Sachverständigen, namentlich aus dem Bereich der Statistik, auszukommen sein. Der Tatsachenrichter wird sich nicht mit Beweisquellen begnügen dürfen, die nur Zufalls- oder Teilergebnisse bringen. Vielmehr muß er zu Resultaten vordringen, die repräsentativen Erkenntniswert haben.

Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen (vgl. auch BSG SozR zu RVO § 1247 Nr. 21).

Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1669676

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