Leitsatz (redaktionell)
Auch eine auf derselben Krankheit wie die Berufsunfähigkeit beruhende und gleichzeitig mit ihr eingetretene Arbeitsunfähigkeit hat als Ausfallzeit rentensteigernde Wirkung für das Altersruhegeld.
Normenkette
RVO § 1254 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1964 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 25. November 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Rechtsstreit wird um die Berücksichtigung einer Zeit der Arbeitsunfähigkeit als Ausfallzeit geführt.
Bei dem in der Rentenversicherung der Arbeiter versicherten Kläger trat am 1. November 1961 eine Erkrankung der Harnwege auf; sie hatte sowohl Arbeitsunfähigkeit als auch Berufsunfähigkeit zur Folge. Der Kläger bezog deshalb Krankengeld vom 2. November 1961 bis April 1963 und Rente wegen Berufsunfähigkeit vom 1. November 1961 an.
Durch Bescheid vom 26. April 1963 wandelte die Beklagte die Rente mit Wirkung vom 1. April 1963 an in das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres um. Dabei rechnete sie keine Ausfallzeiten an.
Mit der Klage hat der Kläger beantragt, ihm beim Ruhegeld die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit vom 1. November 1961 bis 3. April 1963 als Ausfallzeit anzurechnen.
Das Sozialgericht (SG) Lübeck hat durch Urteil vom 25. November 1963 der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) am 29. Juni 1964 die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: § 1254 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestatte bei der Berechnung des Altersruhegeldes zwar ausdrücklich nur die Berücksichtigung der nach Eintritt der Berufsunfähigkeit entrichteten Beiträge, das Gericht neige jedoch zu der in der Literatur weit verbreiteten Auffassung, daß das Gesetz zu eng gefaßt sei, daß nämlich - wie beim Übergang von der Berufsunfähigkeit zur Erwerbsunfähigkeit (§ 1253 Abs.2 RVO) - neben der Anrechnung von Beiträgen auch die Berücksichtigung von zwischenzeitlich zurückgelegten Ausfallzeiten zulässig sei. In einem Falle wie dem vorliegenden bestehe jedoch kein echtes Bedürfnis für die Anrechnung einer Ausfallzeit; auch die Gesetzessystematik lasse dies nicht zu. Grundsätzlich seien Ausfallzeiten längstens bis zum Eintritt des Versicherungsfalles anzurechnen (§ 1259 Abs. 2 RVO), worunter allerdings der jeweilige Versicherungsfall zu verstehen sei. Da aber in § 1258 Abs. 4 RVO vorgesehen sei, daß für die Rente wegen Berufsunfähigkeit nur die vor Eintritt der Berufsunfähigkeit und für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur die vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten zu berücksichtigen seien und die Umwandlungsvorschriften der §§ 1253 Abs. 2 und 1254 Abs. 2 RVO von einer zusätzlichen Anrechnung von nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegten Versicherungs- und Ausfallzeiten sprächen, zwinge schon der Wortlaut des Gesetzes dazu, mit dem ersten Versicherungsfall eine Zäsur zu machen; denn nur so habe das Tatbestandsmerkmal "zusätzlich" eine Bedeutung, während bei dem vom SG gewonnenen Ergebnis eine Rentenbezugszeit wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit immer Ausfallzeit wäre. Das aber sei durch § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO weitgehend ausgeschlossen. § 1254 Abs. 2 RVO könne nur in der Weise erweiternd ausgelegt werden, daß der Zäsur durch den Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit zunächst eine versicherungspflichtige Beschäftigung nachfolgen müsse, die dann ihrerseits wiederum durch eine Arbeitsunfähigkeit oder einen anderen Ausfalltatbestand unterbrochen werde. Erst dann bestehe ein Bedürfnis für die zusätzliche Anrechnung eines unverschuldeten Beitragsausfalls, während die durch den Eintritt der Berufsunfähigkeit erwachsenden Nachteile versicherungsrechtlich durch die deswegen gewährte Rente ausgeglichen würden. Diese Auffassung werde durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. November 1962 - 1 RA 101/61 - (Breithaupt 1963, 322) bestätigt, in der ausgeführt sei, daß während des Bezugs einer Rente wegen Berufsunfähigkeit Ausfallzeiten nur im Zusammenhang mit einer vom Rentner aufgenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigung erworben werden könnten.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat Revision eingelegt. Zu ihrer Begründung führt er aus: Da das Gesetz vorsehe, daß der Empfänger einer Rente wegen Berufsunfähigkeit grundsätzlich unter Ausnutzung der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit weiterarbeite, um eine spätere Rente aufzufüllen und weitere Versicherungszeiten zu erzielen, müsse dem Rentner zugestanden werden, bei Arbeitsunfähigkeit ebenfalls eine Rentenerhöhung beim späteren Versicherungsfall der Erwerbsunfähigkeit oder des Alters zu erreichen, nämlich durch die Berücksichtigung von Ausfallzeiten. Der durch Arbeitsunfähigkeit an der Ausübung einer versicherten Beschäftigung verhinderte Berufsunfähigkeits-Rentner dürfe nicht schlechter gestellt sein als der arbeitsfähige. Das Gesetz enthalte keine Regelung des Inhalts, daß während der Berufsunfähigkeit zurückgelegte Ausfallzeiten nur dann zu berücksichtigen seien, wenn nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zunächst wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen worden sei. Grundsätzlich seien vielmehr alle bis zum Eintritt des nächsthöheren Versicherungsfalles zurückgelegten Ausfallzeiten anzurechnen; dabei bleibe es gleichgültig, ob die Ausfallzeiten mit dem Bezug einer Rente aus einem weniger weitgehenden Versicherungsfall zusammengefallen seien.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Lübeck vom 25. November 1963 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie tritt dem Vorbringen der Revision - und der hiermit im Einklang stehenden Entscheidung des erkennenden Senats vom 13. Mai 1966 - 4 RJ 115/65 - (SozR RVO § 1259 Nr. 17) - mit den Gründen des angefochtenen Urteils entgegen. Vor allem weist sie darauf hin, daß nahezu in jedem Falle von Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auch Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit bestehe und daß dann, wenn man der Meinung der Revision folge, immer zugleich eine Ausfallzeit anzuerkennen wäre - ein Ergebnis, welches sich mit § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO nicht vereinbaren lasse.
Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.
Die den Gegenstand des Rechtsstreits bildende Frage, ob bei der Berechnung des dem Kläger im Jahre 1963 bewilligten, aus der Umwandlung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit hervorgegangenen Altersruhegeldes die Zeit der Arbeitsunfähigkeit von November 1961 bis April 1963 als Ausfallzeit berücksichtigt werden muß, ist nach § 1254 Abs. 2 RVO in der Fassung vor dem Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 (RVÄndG) zu beurteilen. Die Neufassung der Vorschrift durch das RVÄndG ist erst mit Wirkung vom 1. Januar 1966 in Kraft getreten (Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. d RVÄndG). In Satz 2 des § 1254 Abs. 2 RVO aF ist zwar ausdrücklich nur von nach Eintritt der Berufsunfähigkeit entrichteten Beiträgen - nicht von Ausfallzeiten - die Rede, die bei der Berechnung des Altersruhegeldes zusätzlich zu berücksichtigen sind; in der Literatur wird jedoch - darauf hat bereits das LSG hingewiesen, und auch der erkennende Senat hat dies in seiner - bereits angeführten - Entscheidung vom 13. Mai 1966 zum Ausdruck gebracht - mit Recht angenommen, daß die gegenüber § 1253 Abs. 2 Satz 4 RVO ("Versicherungs- und Ausfallzeiten ... sind zusätzlich zu berücksichtigen") unterschiedliche Gesetzesfassung zu eng ist. Es ist kein entscheidender Grund ersichtlich, der es rechtfertigen könnte, die während der Berufsunfähigkeit zurückgelegten Ausfallzeiten zwar für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, nicht aber für das Altersruhegeld zu berücksichtigen. Der Sinn des Gesetzes erfordert es vielmehr, § 1254 Abs. 2 Satz 2 RVO aF entsprechend dem Wortlaut des § 1253 Abs. 2 Satz 4 RVO aF zu deuten. Dieser Erwägung hat die Neufassung des § 1254 Abs. 2 RVO durch das RVÄndG Rechnung getragen (vgl. hierzu Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, § 1254 RVO Anm. II, 1; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, § 1254 Anm. 5).
Bei der Berechnung eines Altersruhegeldes sind somit auch nach § 1254 Abs. 2 Satz 2 RVO aF Ausfallzeiten zu berücksichtigen, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegt worden sind. Im vorliegenden Fall ist eine solche, den Tatbestand des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO erfüllende Ausfallzeit die Zeit der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers, deren Beginn mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit zusammengefallen ist und die sich bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres hin erstreckt hat. Sie hat die versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers "unterbrochen"; auch die sonstigen Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO sind gegeben. Daß eine auf Krankheit beruhende Arbeitsunfähigkeit auch dann eine versicherungspflichtige Beschäftigung zu unterbrechen vermag, wenn die Krankheit zugleich Berufsunfähigkeit auslöst, hat der erkennende Senat schon in seinem Urteil vom 13. Mai 1966 dargelegt. Darin ist weiter ausgeführt, daß in Fällen, in denen eine Krankheit sowohl zur Arbeitsunfähigkeit als auch zur Berufsunfähigkeit geführt hat, der Berücksichtigung des dem Eintritt von Berufsunfähigkeit folgenden Zeitabschnitts als Ausfallzeit nicht schon § 1259 Abs. 2 Satz 1 RVO entgegensteht. Die Vorschrift, wonach Ausfallzeiten längstens bis zum Eintritt des Versicherungsfalles angerechnet werden, hat nicht den ersten, sondern - dies verkennt auch das LSG nicht - den jeweiligen Versicherungsfall im Auge. Sie besagt, daß eine Ausfallzeit, soweit sie einen Zeitraum nach dem Eintritt eines bestimmten Versicherungsfalles ausfüllt, nicht bei der Rentenberechnung für diesen Versicherungsfall berücksichtigt werden darf; sie besagt dagegen nicht, daß jene Zeit nicht bei einem nachfolgenden höherstufigen Versicherungsfall angerechnet werden kann.
Die Auffassung des Senats, daß auch bei zeitlichem Zusammentreffen von Berufsunfähigkeit und krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit die Zeit der Arbeitsunfähigkeit - beim Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen - als Ausfallzeit für einen höherwertigen Versicherungsfall anzurechnen ist, wird schließlich weder durch die von der Beklagten angeführte Vorschrift des § 1259 Abs. 1 Nr. 5 RVO noch durch dessen Abs. 2 Satz 2 widerlegt. Dies hat der erkennende Senat ebenfalls schon in seinem Urteil vom 13. Mai 1956 ausgeführt. Diese Vorschriften sind nicht Ausfluß eines allgemeinen Rechtsgedankens des Inhalts, daß Rentenbezugszeiten und Ausfallzeiten nicht zusammenfallen können. Der Senat sieht sich durch das Vorbringen der Beklagten nicht veranlaßt, seine bisherige Rechtsauffassung aufzugeben.
Der Senat vermag auch nicht anzuerkennen, daß in Fällen wie dem vorliegenden - wie das LSG meint - "kein echtes Bedürfnis" zur Anrechnung einer Ausfallzeit bestehe. Mit der Rente wegen Berufsunfähigkeit wird lediglich der Ausfall an Erwerbseinkommen abgegolten, der darauf beruht, daß der Versicherte nicht mehr in der Lage ist, die gesetzliche Lohnhälfte in einer zumutbaren Beschäftigung oder Tätigkeit zu verdienen (§ 1246 Abs. 2 RVO). Dagegen kann einem Ausfall an - für einen höherwertigen Versicherungsfall anrechnungsfähigen - Versicherungsjahren nur dadurch entgegengewirkt werden, daß der berufsunfähig gewordene Versicherte entweder unter Ausnutzung der ihm verbliebenen Leistungsfähigkeit sich weitere Versicherungszeiten verschafft oder aber daß ihm die wegen Arbeitsunfähigkeit nicht erzielbare Versicherungszeit als Ausfallzeit angerechnet wird. Jedenfalls ist bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden ein Bedürfnis zur Anerkennung einer Ausfallzeit ebenso gegeben wie in einem - nach der Auffassung sowohl des LSG als auch der Beklagten zu Gunsten des Versicherten zu entscheidenden - Falle, in dem nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zunächst eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt, diese aber wegen Arbeitsunfähigkeit wieder abgebrochen worden ist.
Nach alledem hat der Kläger Anspruch auf Anrechnung der geltend gemachten Ausfallzeit. Das auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruhende Urteil des LSG ist aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen die erstinstanzliche Entscheidung zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen