Entscheidungsstichwort (Thema)
Unfallversicherungsschutz auf einem Weg, der im Zusammenhang mit der Erfüllung arbeitsvertraglicher Pflichten steht
Leitsatz (amtlich)
Zum Unfallversicherungsschutz nach RVO § 550 S 1 auf dem Weg zur Arbeitsstätte, den ein Beschäftigter antritt, um sein mehrtägiges Fehlen zu entschuldigen und für einige Tage unbezahlten Urlaub zu beantragen oder sich notfalls krank zu melden, zumal wenn der Beschäftigte hierdurch den drohenden Verlust seines Arbeitsplatzes abwenden will.
Leitsatz (redaktionell)
Sucht der Arbeitnehmer den Betrieb auf, um arbeitsvertragliche Pflichten (zB Anzeige und Nachweis der Arbeitsunfähigkeit) zu erfüllen oder eine drohende Kündigung des Arbeitsverhältnisses abzuwenden bzw gegen sie beim Betriebsrat Einspruch zu erheben, so sind die damit zusammenhängenden Wege seiner Tätigkeit zuzurechnen und stehen mithin unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Normenkette
RVO § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. März 1968 und des Sozialgerichts Köln vom 19. April 1966 sowie der Bescheid der Beklagten vom 10. August 1965 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, den Klägerinnen Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren.
Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des Montageschlossers P L (L.), der am Mittwoch, dem 15. April 1964, gegen 12 Uhr auf der mit dem Moped angetretenen Fahrt von seinem Wohnort O nach seiner Arbeitsstätte, einer Achsenfabrik in W, tödlich verunglückte.
L., der seit 1954 dort beschäftigt und vom 11. bis zum 24. März 1964 arbeitsunfähig krank gewesen war, blieb seit dem 10. April 1964 erneut der Arbeit fern, weil er sich nicht wohlfühlte. Nachdem er am 14. April 1964 den praktischen Arzt Dr. U und den Nervenarzt Dr. H sowie am Vormittag des 15. April 1964 nochmals Dr. U aufgesucht hatte, fuhr L. zum Betrieb, um dort den ihm vorgesetzten Werkmeister P zu sprechen; diesem wollte er die bisherige Fehlzeit erklären und sich möglicherweise dafür entschuldigen, ferner wollte er für die nächsten Tage das Einverständnis des Vorgesetzten mit dem weiterhin beabsichtigten Fernbleiben erlangen (Bewilligung eines unbezahlten Urlaubs) und - im Fall der Ablehnung - ankündigen, daß er eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von Dr. U beschaffen werde; L. sah sich hierzu dadurch veranlaßt, daß er befürchtete, der Arbeitgeber werde aus dem bisherigen unentschuldigten Fehlen Konsequenzen ziehen, insbesondere die fristlose Kündigung aussprechen; diese Befürchtung leitete L. daraus her, daß der Werkmeister, nachdem dieser ihn schon häufig zurechtgewiesen hatte, ihm kurz vor dem 10. April 1964 bei erneuten Schwierigkeiten angedroht hatte, er werde ihn bei nächster Wiederholung "zum Teufel jagen".
Die Beklagte lehnte die Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, die unfallbringende Fahrt, die nicht der Arbeitsaufnahme gegolten habe, stehe in keinem inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit.
Das Sozialgericht (SG) Köln hat durch Urteil vom 19. April 1966 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat durch Urteil vom 28. März 1968 die Berufung der Klägerinnen zurückgewiesen: Nicht jeder Weg, dessen Ziel der Ort der Tätigkeit sei, stehe unter dem Unfallversicherungs- (UV)schutz nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Die ursächliche Verknüpfung zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit müsse vielmehr rechtlich so wesentlich sein, daß daneben andere, mit dieser Tätigkeit nicht zusammenhängende Umstände in den Hintergrund träten und als rechtlich unwesentlich nicht zu berücksichtigen seien (BSG 1, 171; 8, 53); an diesem rechtlich wesentlichen Zusammenhang habe es bei der Fahrt gefehlt, auf der L. tödlich verunglückte. Im Anschluß an diese Fahrt habe L. nicht seine versicherte Tätigkeit aufnehmen wollen. Die Fahrt habe ausschlaggebend seinen privaten Zwecken gedient. Ein wesentliches Interesse des Arbeitgebers an dem von L. beabsichtigten Gespräch mit dem Werkmeister sei nicht ersichtlich; denn der Betrieb habe sich bereits seit dem 10. April 1964 - durch Einsatz einer Ersatzkraft oder durch Mehrleistung der zur Kolonne des L. gehörenden Arbeiter - auf das Fernbleiben von L. einstellen müssen; die beabsichtigte Mitteilung des L., auch in den nächsten Tagen die Arbeit noch nicht aufnehmen zu wollen, sei - anders als etwa die Ankündigung, bei der nächsten Schicht wieder anzufangen - für den Betrieb allenfalls von geringfügigem, rechtlich nicht wesentlichen Interesse gewesen, weil sich dadurch an dem schon mehrere Arbeitstage bestehenden Zustand nichts geändert hätte.
Aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 8, 176, SozR Nr. 43 zu § 543 RVO aF) könne man folgern, daß die Erfüllung einer aus dem Arbeitsvertrag sich ergebenden Verpflichtung nur dann der versicherten Tätigkeit eines Arbeitnehmers gleich zu erachten sei, wenn sie zugleich wesentlich im Interesse des Arbeitgebers liege; wegen der Wechselbeziehung der Arbeitsverträge dürfte allerdings bei Erfüllung hieraus folgender Verpflichtungen in der Regel das Interesse beider Vertragspartner nicht unwesentlich berührt werden. Die unfallbringende Fahrt des L. habe jedoch nicht wesentlich der ordnungsgemäßen Erfüllung einer sich unmittelbar aus dem Arbeitsverhältnis ergebenden Verpflichtung gedient. Zwar sei L. nach § 5 des Manteltarifvertrages (MTV) für die gewerblichen Arbeitnehmer der Eisen-, Metall- und Elektroindustrie in Nordrhein-Westfalen verpflichtet gewesen, den Grund und die voraussichtliche Dauer seiner Arbeitsverhinderung unverzüglich dem Arbeitgeber anzuzeigen. Er habe sich jedoch nicht in ordnungsgemäßer Erfüllung dieser Pflicht zum Betrieb begeben. Dahingestellt könne bleiben, ob bei dem - nicht krankgeschriebenen - L. überhaupt eine Arbeitsverhinderung im Sinne des MTV vorgelegen habe. Wesentlicher Zweck der Fahrt sei nicht die ordnungsgemäße Erfüllung der Anzeigepflicht gewesen, vielmehr habe es sich für L., der durch unangekündigtes Fehlen an drei Arbeitstagen seiner Vertragspflicht schon zuwidergehandelt hatte, nur darum handeln können, sein vertragswidriges Verhalten zu entschuldigen und seinen Vorgesetzten nach Möglichkeit dahin zu beeinflussen, daraus keine nachteiligen Konsequenzen - etwa in Form einer Kündigung - zu ziehen.
Nach den glaubhaften Angaben des sachverständigen Zeugen Dr. U sei nicht erwiesen, daß L. am 10., 13. oder 14. April 1964 arbeitsunfähig krank gewesen sei; unerörtert müsse daher bleiben, ob eine andere Beurteilung gerechtfertigt wäre, wenn L. vor dem 15. April 1964 außerstande gewesen sein sollte, seiner Anzeigepflicht - auch durch telefonische Mitteilung oder Vermittlung anderer Personen - nachzukommen. Der Umstand allein, daß L. an dem Ort, den er aufsuchen wollte, bisher seine versicherte Tätigkeit verrichtete, reiche demgegenüber nicht aus, die Fahrt als einen mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg anzusehen.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 9. Mai 1968 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 28. Mai 1968 Revision eingelegt und sie am 30. Mai 1968 wie folgt begründet:
Das LSG habe nicht genügend beachtet, daß das beabsichtigte Aufsuchen des Meisters dazu gedient hätte, diesem die nötigen Umdispositionen am Montageband zu erleichtern. Es dürfe auch nicht übersehen werden, daß die ausschlaggebende Ursache für die Unglücksfahrt in einem betrieblichen Vorgang, nämlich der Drohung des Werkmeisters P zu suchen sei; hätte der nervlich schwer belastete L. nicht unter dem Eindruck dieser Drohung gestanden, wäre er überhaupt nicht veranlaßt gewesen, sich beim Meister zu entschuldigen und um Urlaub zu bitten, sondern er hätte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eingereicht und krank gefeiert.
Die Klägerinnen beantragen,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zu verurteilen, den Klägerinnen Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtenen Urteil für zutreffend.
II
Die zulässige Revision der Klägerinnen ist begründet.
Die Vorinstanzen haben den UV-Schutz nach § 550 Satz 1 RVO verneint, weil nach ihrer Auffassung die zum tödlichen Unfall führende Fahrt des L. mit dessen versicherter Tätigkeit nicht rechtlich wesentlich zusammengehangen, sondern ausschlaggebend privaten, dem unversicherten Bereich zuzurechnenden Zwecken gedient habe. Dieser Auffassung pflichtet der erkennende Senat nicht bei. Der Senat hat in seinem Urteil vom 21. Oktober 1958 (BSG 8, 176, 178) entschieden, daß ein Weg, dessen Zweck der Erfüllung einer sich aus dem bestehenden Arbeitsverhältnis ergebenden Vertragspflicht dient, schon aus diesem Grunde unmittelbar zu den im Rahmen des versicherten Beschäftigungsverhältnisses verrichteten Tätigkeiten gehört; dabei komme es nicht darauf an, in wessen Interesse die Erfüllung dieser Pflicht lag; im übrigen sei auch der Arbeitgeber in jedem Fall an einer ordnungsgemäßen Vertragsabwicklung - hier der Kündigung - wesentlich interessiert. Diese Auffassung hat der Senat dann in seinem Urteil vom 30. August 1963 (SozR Nr. 43 zu § 543 RVO aF) bestätigt. Daß in dieser Rechtsprechung auf ein wesentliches Interesse auch des Arbeitgebers an einer vom Beschäftigten erklärten ordnungsgemäßen Kündigung hingewiesen worden ist, bedeutet nicht, es sei bei einer Erfüllung von Pflichten aus dem Arbeitsvertrag jeweils nachzuprüfen, welches Interesse ein Vertragspartner an der Erfüllung der im Einzelfall in Betracht kommenden Vertragspflicht haben könnte. Die Erfüllung von Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis ist vielmehr ohne Rücksicht hierauf regelmäßig als versicherungsrechtlich erheblich anzusehen, auch wenn hierbei persönliche Motivationen des Arbeitnehmers hineinspielen mögen; es kommt also grundsätzlich nicht darauf an, wie stark ein - etwa wirtschaftliches - Interesse des Unternehmers an der Erfüllung einer solchen Vertragspflicht erkennbar wird. All dies steht in Einklang mit der - auch vom LSG zutreffend erkannten - Wechselbeziehung der Arbeitsverträge.
Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen wollte L., der am 14./15. April 1964 zwei Ärzte konsultiert hatte, jedoch - noch - nicht krankgeschrieben war, seinem Meister das Fernbleiben seit dem 10. April erklären, sich ggf. deswegen entschuldigen, für die nächsten Tage um Beurlaubung bitten und - falls ihm diese abgeschlagen wurde - seine auf ein noch zu beschaffendes ärztliches Attest gestützte Krankmeldung ankündigen. Diesem Sachverhalt kann - entgegen der vom LSG vertretenen Auffassung - bei Heranziehung arbeitsrechtlicher Grundsätze nicht ein völlig privates, dem Beschäftigungsverhältnis nicht zurechenbares Verhalten des L. entnommen werden.
L. war laut § 5 Nr. 9 MTV gehalten, seinem Arbeitgeber den Grund und die voraussichtliche Dauer einer Arbeitsverhinderung unverzüglich mitzuteilen. Diese Tarifbestimmung bringt eine schon längst im arbeitsrechtlichen Schrifttum postulierte Mitteilungspflicht des Arbeitnehmers zum Ausdruck (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts Band I 7. Aufl. S. 221, 602). L. hat nun zwar seine "Arbeitsverhinderung" erst am 15. April 1964, als er schon drei Arbeitstage versäumt hatte, dem Vorgesetzten mitteilen wollen, und es erscheint fragwürdig, ob hierin noch eine "unverzügliche" Mitteilung zu erblicken wäre. Ob eine verzögerte und damit nicht ordnungsgemäße Erfüllung der Mitteilungspflicht für den UV-Schutz im allgemeinen bedeutsam ist, kann jedoch dahinstehen. Sofern man - mit dem LSG - als den Zweck der von L. angetretenen Fahrt nicht die Erfüllung der arbeitsvertraglichen Mitteilungspflicht, sondern eine nachträgliche Entschuldigung für vertragswidriges Verhalten ansieht, kann es auch offen bleiben, ob dieser Zweck versicherungsrechtlich relevant ist. L. verfolgte nämlich mit seiner Fahrt zur Arbeitsstätte außerdem das Anliegen, seinen Vorgesetzten für die nächsten Tage um Gewährung unbezahlten Urlaubs zu bitten oder ggf. ihm die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Aussicht zu stellen. Mit diesen Erklärungen hätte L. nicht lediglich sein bisheriges - unter Umständen vertragswidriges - Verhalten entschuldigt; sie wären vielmehr dazu geeignet gewesen, den bisherigen Zustand faktischer Arbeitsversäumnis zu legalisieren und arbeitsvertragskonform zu gestalten (Hueck/Nipperdey aaO, S. 457, 458, 395, Fußnote 14). Aus diesem vom LSG nicht hinreichend berücksichtigten Blickwinkel zeigt es sich, daß L. die unfallbringende Fahrt auch zwecks Erfüllung von Vertragsverpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis unternommen hat. Die Fahrt zur Arbeitsstätte war somit nicht ausschlaggebend von privaten Zwecken bestimmt, sondern hing rechtlich wesentlich (BSG 3, 240; 20, 215) mit der versicherten Tätigkeit zusammen, so daß für L. der UV-Schutz nach § 550 Satz 1 RVO bestand. Dabei darf nicht übersehen werden, daß L. bei seinem gespannten Verhältnis zum Werkmeister ein persönliches Gespräch mit diesem für eher angemessen halten mußte als einen Telefonanruf oder eine Benachrichtigung durch dritte Personen.
Nicht zu Unrecht hält die Revision auch die scharfe Zurechtweisung, die der Werkmeister kurz vor dem 10. April 1964 gegenüber L. ausgesprochen hatte, für versicherungsrechtlich bedeutsam. In den damals geäußerten Worten ist zweifellos die unmißverständliche Androhung einer Kündigung zu erblicken. Ohne daß es auf die - objektive - Berechtigung einer solchen Drohung ankäme, muß das Bestreben eines Arbeitnehmers, mit geeigneten Mitteln sein grundsätzlich anerkanntes Recht auf Beibehaltung seines Arbeitsplatzes (vgl. Hueck-Nipperdey aaO S. 628) geltend zu machen, im allgemeinen als mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängend anerkannt werden. Die der Abwendung einer Kündigung dienende Besprechung des Arbeitnehmers mit einem Vorgesetzten kann deshalb ebenso wenig als eine rein private Verrichtung angesehen werden wie etwa - nach erfolgter Kündigung - eine Vorsprache beim Betriebsrat zwecks Einlegung des Einspruches (§ 3 Kündigungsschutzgesetz idF vom 25.8.69 - BGBl I 1317).
Auf die somit begründete Revision mußte unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte dem Klagantrag entsprechend verurteilt werden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen