Orientierungssatz
Zur Gesetzesverletzung durch das Gericht bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.11.1972; Aktenzeichen L 2a Ua 7/67) |
SG Ulm (Entscheidung vom 14.12.1966; Aktenzeichen S 4 U 1102/65) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. November 1972 aufgehoben.
Die Sache wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der 1908 geborene Kläger stürzte am 26. März 1963 bei seiner Arbeit als Dachdecker aus etwa 7 m Höhe ab und zog sich dabei einen Schädelbasisbruch, Brüche der 2. bis 8. Rippe rechts sowie Brüche des linken oberen und unteren Schambeinastes zu. Bis zum 30. Juli 1963 wurde er stationär, danach ambulant behandelt. In einem Ersten Rentengutachten vom 15. Juni 1964, dem ein augenärztliches und ein nervenärztliches Zusatzgutachten zugrundelagen, schlug Dr. B (Chefarzt der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses G) entsprechend der Anregung des Nervenarztes Dr. B vor, dem Kläger zur Aktivierung der Genesung ein Heilverfahren in der neurologischen Klinik Dr. S zu gewähren; auf augenärztlichem Gebiet (ua wegen Doppelsehens rechts) wurde eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 25 v.H., auf neurologischem Gebiet wegen Contusionsfolgen eine MdE um 40 v.H. angenommen; zusammen mit den chirurgischen Folgen schätzte Dr. B die MdE auf 100 v.H. ein und empfahl, die Entscheidung über den Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit auf die Zeit nach Durchführung des Heilverfahrens zu verschieben.
Da der Kläger sich weigerte, die Klinik Dr. S aufzusuchen, kündigte die Beklagte ihm durch Bescheid vom 8. Juli 1964 an, bei weiterer Weigerung würden gemäß § 624 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Leistungen für die Folgen der anerkannten Verletzungen ganz oder teilweise versagt. Nach nochmaligen - formlosen - Hinweisen auf die Folgen seiner Weigerung versagte die Beklagte dem Kläger durch Bescheid vom 30. Dezember 1964 gemäß § 624 RVO die Leistungen von der Zustellung des Bescheides an in voller Höhe und führte aus, der Bescheid verliere seine Wirkung, sobald der Kläger sich zur Behandlung in die Klinik Dr. S begebe. Gegen den am 12. Januar 1965 zur Post gegebenen Bescheid hat der Kläger am 19. Mai 1965 Widerspruch erhoben, den die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1965 als unzulässig, weil verspätet, zurückwies.
Gegen den Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1965 hat der Kläger am 10. Juni 1965 Klage erhoben.
Durch Bescheid vom 11. Juli 1966 gewährte die Beklagte dem Kläger vom 15. Januar 1965 an eine Rente nach einer MdE um 40 v.H., vom 1. Februar 1966 an um 30 v.H.; sie hob zugleich den Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1965 auf, ebenso den Versagungsbescheid vom 30. Dezember 1964 insoweit, als nur die Leistungen gewährt würden, die bei Berücksichtigung eines normalen Heilverlaufs zu gewähren gewesen wären; sie führte die chirurgischen Verletzungen als Unfallfolgen auf und bemerkte, daß die vonseiten der Kopfverletzung noch vorliegenden Folgen nicht genau beschrieben werden könnten, da sich der Kläger einer nervenärztlichen Begutachtung entziehe; die Einschätzung der MdE habe deshalb aufgrund allgemeiner ärztlicher Erfahrung und unter Berücksichtigung eines normalen Heilverlaufs vorgenommen werden müssen.
Das Sozialgericht (SG) Ulm hat durch Urteil vom 14. Dezember 1966 die Klage abgewiesen. Es ist von einem Begehren des Klägers auf Gewährung der Vollrente ausgegangen und hat ausgeführt, aufgrund der vorliegenden Gutachten habe es sich nicht davon überzeugen können, daß die unfallbedingte MdE des Klägers mehr als 40 bzw. 30 v.H. betrage; der Kläger trage wegen seiner Weigerung, sich untersuchen zu lassen, die objektive Beweislast hinsichtlich einer nicht feststellbaren höheren MdE.
Während des Berufungsverfahrens wurde durch das Vormundschaftsgericht Geislingen/Steige am 12. Oktober 1967 für den Kläger Gebrechlichkeitspflegschaft angeordnet und am 11. Juli 1972 das Kreissozialamt Göppingen (Oberinspektor M) zum Pfleger bestellt.
Im Juni 1968 wurde der Kläger nach einem Suicidversuch wegen eines Verwirrungszustandes in das Landeskrankenhaus (LKH) S. eingewiesen und bisher nicht wieder entlassen.
Durch Bescheid vom 26. April 1971 gewährte die Beklagte dem Kläger in Änderung des Bescheides vom 11. Juli 1966 eine Rente von 40 v.H. auch über den 31. Januar 1966 hinaus. Im Verlauf des Berufungsverfahrens legte die Beklagte Gutachten des LKH S vom 16. Juni 1969 (Dr. K/Dr. L) und der Neurologischen und Poliklinik der Universität T (Prof. Dr. M/Dr. R) vom 11. August 1970 sowie gutachtliche Stellungnahmen des Chefarztes des LKH B, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S, vom 20. Januar 1970, 7. Dezember 1970 und 25. August 1972 vor.
Von Amts wegen hat das Landessozialgericht (LSG) ein Gutachten von Prof. Dr. H (Direktor des Psychiatrischen LKH W) vom 22. Mai 1972 eingeholt.
Durch Urteil vom 21. November 1972 hat das LSG die Beklagte dem Antrag des Klägers entsprechend unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Dezember 1964 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 1965 und unter Änderung der Bescheide vom 11. Juli 1966 und 26. April 1971 zur Gewährung der Vollrente vom 15. Januar 1965 an verurteilt. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Die Berufung des Klägers sei zulässig, da von dem Streit über die Gewährung der Vollrente, die der Kläger über die von der Beklagten hinaus zugebilligte Rente nach einer MdE um 40 v.H. begehre, die Schwerbeschädigteneigenschaft abhänge (§ 145 Nr. 4 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Bescheide vom 1. Juli 1966 und 26. April 1971 seien nach § 96 SGG Gegenstand des Rechtsstreits geworden. Der Kläger habe Anspruch auf die Vollrente, da er infolge des Unfalls seine Erwerbsfähigkeit verloren habe. In der Beurteilung der neurologischen Unfallfolgen bestehe unter den Gutachtern weitgehend Einigkeit. Danach habe der Kläger eine Contusio cerebri erlitten mit Lähmungserscheinungen der inneren und äußeren Augenmotorik rechts, einer Gaumensegelparese rechts, einer latenten beinbetonten Hemiparese links sowie leichten Koordinationsstörungen. Die Gutachten seien sich allerdings nicht einig darüber, ob es sich bei den Veränderungen auf psychischen Sektor um organische Wesensveränderungen handele oder um psychoreaktive paranoische Fehlentwicklungen. Diese medizinische Streitfrage könne dahingestellt bleiben, da in beiden Fällen ein Zusammenhang zwischen Unfall und Erwerbsunfähigkeit des Klägers wahrscheinlich und der Anspruch auf die Vollrente damit begründet sei. Der Sachverständige Prof. Dr. H habe bei dem praemorbid leicht auffälligen, kontaktarmen Kläger nach dem Unfall, und zwar spätestens seit 1964, eine deutliche Wesensänderung festgestellt, die auf hirnorganische Veränderungen zurückgeführt werde. Bei der Einschätzung der MdE habe Prof. Dr. H allerdings nicht beachtet, daß die unfallbedingte Erwerbsunfähigkeit mit einer MdE um 100 v.H. (§ 581 Abs. 1 RVO) und nicht nur um 80 v.H. zu bewerten sei. Die Erwerbsunfähigkeit des Klägers sei auf den Unfall auch zurückzuführen, wenn (wie von Professor Dr. M, Tübingen) nur eine leichte hirnorganische Schädigung bejaht und im übrigen das psychische Bild als Ausdruck einer paranoischen Entwicklung angesehen werde. Professor Dr. M habe nicht verkannt, daß es sich bei dem Kläger schon von jeher um einen einzelgängerischen, etwas skurrilen und schwernehmerischen Sonderling gehandelt habe und deshalb eine Trennung zwischen anlage- und persönlichkeitsbedingten Wesenseigentümlichkeiten und posttraumatischen Wesensveränderungen nicht leicht sei, zumal ein inzwischen (etwa 1969/70) abgelaufener Alterungsprozeß nicht ausgeschlossen werden könne. Es sei aber nicht erforderlich, daß der Unfall die alleinige Ursache der Krankheitserscheinungen sei, vielmehr sei eine Erwerbsunfähigkeit durch eine Vollrente zu entschädigen, wenn der Unfall die wesentliche (Teil-)Ursache hierfür gewesen sei. Selbst wenn mehrere Bedingungen gleichwertig oder annähernd gleichwertig zu dem Erfolg beigetragen hätten, sei jede von ihnen Ursache im Rechtssinne. Daß neben den persönlichkeitsbedingten Faktoren die unmittelbaren und mittelbaren Unfallfolgen ebenfalls als zumindest gleichwertige Bedingungen zu dem Erfolg beigetragen hätten, habe Professor Dr. M überzeugend begründet; er halte die Intensität des Unfallerlebnisses (Schlüsselerlebnis) zur Entstehung der krankhaften Entwicklung für ebenso entscheidend wie die präformierte Bereitschaft, wahnhaft zu reagieren. Zu der Stellungnahme von Dr. S vom 7. Dezember 1970 hat das LSG ausgeführt, auch dem Anlaß einer paranoischen Entwicklung könne, wie Professor Dr. M überzeugend dargelegt habe, die Eigenschaft einer wesentlichen Bedingung zukommen. Es sei unrichtig, daß Dr. S aus dem Umstand, daß der Unfall von Professor Dr. M nur als Teilursache für die krankhafte psychische Entwicklung angesehen werde, gefolgert habe, es dürfte dann bei der Bewertung der MdE auch nur ein entsprechender Bruchteil bei der Berentung berücksichtigt werden, so daß die Feststellung einer MdE von 100 v.H. widersprüchlich sei. Zutreffend sei vielmehr, daß der ganze Zustand, für dessen Entstehung ein Arbeitsunfall eine wesentliche (Teil-)Ursache gesetzt habe, nach den Grundsätzen der Unfallversicherung zu entschädigen sei. Heilmaßnahmen hätten nicht zur Besserung des Zustandes des Klägers und damit zu einer geringeren MdE geführt, so daß sich der Kläger nicht ohne triftigen Grund der Heilbehandlung entzogen habe. Der von der Beklagten nur teilweise im Bescheid vom 11. Juli 1966 aufgehobene Bescheid gemäß § 624 RVO vom 30. Dezember 1964 idF des Widerspruchsbescheides vom 24. Mai 1965 sei deshalb insgesamt aufzuheben gewesen. Die anfängliche Weigerung des Klägers, sich untersuchen zu lassen, habe letztlich auf den Folgen des Unfalls beruht.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Die Beklagte rügt mit der Revision wesentliche Mängel des Berufungsverfahrens sowie eine Verletzung des Gesetzes bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs der Gesundheitsstörungen mit dem Arbeitsunfall (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG idF vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 -.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21. November 1972 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Ulm vom 14. Dezember 1966 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Streitsache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Streitsache an das LSG zurückzuverweisen.
Nach seiner Ansicht liegen die von der Beklagten gerügten Verfahrensmängel und eine Verletzung der Kausalitätsnorm nicht vor.
II
Die Revision ist insofern begründet, als die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Zulässigkeit des Rechtsmittels richtet sich, da das angefochtene Urteil vor dem 1. Januar 1975 verkündet worden ist, nach den §§ 160 ff SGG in der Fassung vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des SGG vom 30. Juli 1974 - BGBl I 1625 - (s. Art. III dieses Gesetzes). Die vom LSG nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG aF zugelassene Revision ist nach Abs. 1 Nr. 3 dieser Vorschrift statthaft.
Zu Unrecht rügt die Beklagte allerdings, das LSG hätte die Berufung als unzulässig verwerfen müssen, soweit der Kläger Leistungen über die in den Bescheiden vom 11. Juli 1966 und vom 24. April 1971 gewährte Rente hinaus begehre, denn der Kläger habe gegen den Bescheid vom 30. Dezember 1964 nicht fristgerecht Widerspruch erhoben. Die Einhaltung der Widerspruchsfrist (§ 84 Abs. 1 SGG) ist keine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Berufung gegen das Urteil eines Sozialgerichts. Tatbestände, die nach den §§ 144 ff SGG der Zulässigkeit der Berufung entgegenstehen, hat die Beklagte mit der Revision nicht aufgezeigt und liegen auch nicht vor.
Die Rüge, das LSG habe bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem Arbeitsunfall das Gesetz verletzt (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG aF), greift dagegen durch.
Das LSG hat keine Feststellung darüber getroffen, welcher Art die bei dem Kläger bestehenden psychischen Störungen sind, die nach der Auffassung des LSG zusammen mit den neurologischen Unfallfolgen zur Erwerbsunfähigkeit des Klägers geführt haben. Es hat offengelassen, ob es sich um “organische Wesensveränderungen„ oder um “psychoreaktive paranoische Fehlentwicklungen„ handelt. Nach seiner Auffassung brauchte diese medizinische Streifrage nicht entschieden zu werden, da in beiden Fällen ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Erwerbsunfähigkeit des Klägers wahrscheinlich und der Anspruch auf die Vollrente somit begründet sei. Der - von der Beklagten vertretenen - Ansicht, die psychischen Veränderungen seien entweder insgesamt unfallunabhängig oder allenfalls teilweise als unfallbedingte Verschlimmerung eines anlage- bzw. altersbedingten Zustandes aufzufassen, ist es damit im Ergebnis nicht gefolgt.
Auch für den Fall, daß bei dem Kläger eine psychoreaktive paranoische Fehlentwicklung vorliegt, wie Professor Dr. M in seinem für die Beklagte erstatteten Gutachten - anders als der gerichtliche Sachverständige Professor Dr. H - annimmt, sieht das LSG in dem Unfallereignis eine nicht hinwegdenkbare Bedingung für diesen Zustand und bejaht damit einen Ursachenzusammenhang im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn zwischen der Gesundheitsstörung und dem Unfall. Den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist aber zu entnehmen, daß außer dem Unfallereignis auch andere Faktoren nicht hinweggedacht werden können, ohne daß der “Erfolg„ - hier die psychoreaktive paranoische Fehlentwicklung - entfiele. In diesem Zusammenhang hat das LSG ua festgestellt, daß es sich bei dem Kläger schon von jeher um einen einzelgängerischen, etwas skurrilen und schwernehmerischen Sonderling gehandelt hat und ein seit etwa 1969/1970 abgelaufener Alterungsprozeß “nicht ausgeschlossen„ werden kann. Das LSG bezeichnet diese Umstände als Anlage, als persönlichkeitsbedingte Wesenseigentümlichkeiten, als präformierte Bereitschaft wahnhaft zu reagieren, und sieht in ihnen ebenfalls Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn, die zu der psychoreaktiven paranoischen Fehlentwicklung beigetragen haben.
Nach der auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre von der wesentlichen Bedingung (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl. S. 480 d ff, 486 k II ff mit zahlreichen Nachweisen) sind von den Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn als Ursache und Mitursache unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes nur die Bedingungen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (BSG 1, 72, 76; Brackmann, aaO, S. 480 e mit weiteren Nachweisen). Davon geht auch das LSG aus, indem es jede von mehreren Bedingungen, die gleichwertig oder annähernd gleichwertig zum Erfolg beigetragen haben, als Ursachen im Rechtssinn ansieht. Das LSG hat jedoch die Kausalitätsnorm nicht richtig angewendet und damit das Gesetz bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG aF) verletzt, wie die Beklagte mit der Revision zutreffend gerügt hat.
Haben neben einem Unfallereignis auch Krankheitsanlagen des Versicherten oder bereits vorhandene krankhafte Veränderungen als Bedingungen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinn zu einer bestimmten Gesundheitsstörung beigetragen, erfordert die rechtliche Wertung, welche Bedingung wesentlich und damit Ursache im Rechtssinn ist, eine auf die Besonderheiten des Einzelfalls abgestellte abwägende Beurteilung. Bei der Abwägung des Wertes, den die einzelnen Bedingungen für den Erfolg gehabt haben, ist für den Fall einer kausalen Konkurrenz einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer krankhaften Anlage darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte. Eine wesentliche Bedingung und damit Ursache im Rechtssinn der auch durch eine Krankheitsanlage mitbedingten Gesundheitsstörung ist danach ein Unfallereignis nur, wenn unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls die Krankheitsanlage zu ihrer Auslösung besonderer in ihrer Art unersetzlicher Einwirkungen bedurft und das Unfallereignis diese Einwirkung gebildet hat (vgl. Brackmann, aaO, S. 488 1 mit Nachweisen insb. aus der Rechtsprechung). Auch psychoreaktive Störungen, denen psychopathische oder neuropathische Wesens- und Charakterzüge zugrundeliegen, können Unfallfolgen im Rechtssinn sein. Wie der erkennende Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1962 (BSG 18, 173, 176) näher dargelegt hat, sind ein Unfallereignis oder dessen Auswirkungen im Körperlich-Organischen nicht schon deshalb für psychische Reaktionen des Verletzten als Ursache rechtlich unwesentlich, weil diese Reaktionen eine entsprechende psychische “Anlage„ voraussetzen. Bei der rechtlichen Wertung sind grundsätzlich die gleichen Erwägungen anzustellen, die von Bedeutung sind, wenn bei dem Verletzten bereits vor dem Unfall ein Leiden in der Anlage oder in fortgeschrittener Entwicklung vorhanden war, das infolge der organischen Auswirkungen des Unfalls in Erscheinung tritt oder sich verschlimmert (s. hierzu Martineck, Breithaupt 1950, 1133, 1137). Bei psychischen Reaktionen ist folglich ebenfalls zu prüfen, ob das Unfallereignis seiner Eigenart und Stärke nach unersetzlich - zB nicht mit anderen alltäglich vorkommenden auch geringfügigeren Ereignissen austauschbar - ist, und ob die Anlage so leicht ansprechbar war, daß sie gegenüber den psychischen Auswirkungen des Unfallereignisses die rechtlich allein wesentliche Ursache ist.
Sofern daher das LSG davon ausgegangen ist, beim Kläger habe lediglich eine Krankheitsanlage bestanden - die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils lassen dies nicht eindeutig erkennen -, hätte es folglich in dem angeführten Sinne die Bedeutung und Stärke der Anlage im Vergleich zur Bedeutung des Unfallereignisses für die angenommene psychoreaktive paranoische Fehlentwicklung prüfen und gegeneinander abwägen müssen. Das LSG hat jedoch lediglich ausgeführt, neben den persönlichkeitsbedingten Faktoren hätten die unmittelbaren und mittelbaren Unfallfolgen ebenfalls als zumindest gleichwertige Bedingungen zu dem Erfolg beigetragen. Dagegen hat es nicht aufgezeigt, daß es zu diesem Ergebnis aufgrund einer abwägenden Wertung gelangt ist. Es fehlt schon an der Darlegung, welche Bedingungen im einzelnen den Erfolg mit herbeigeführt haben und in ihrer Bedeutung gegeneinander abzuwägen gewesen wären. Ebenso ist nicht ohne weiteres ersichtlich, was das LSG unter den unmittelbaren, insbesondere aber den “mittelbaren„ Unfallfolgen verstanden hat, die nach seiner Auffassung die psychoreaktive paranoische Fehlentwicklung mit verursacht haben. Die rechtliche Wertung wird nicht dadurch ersetzt oder entbehrlich, daß sich das LSG allgemein darauf bezieht, Professor Dr. M habe dies - den zumindest gleichwertigen Beitrag der Unfallfolgen - überzeugend begründet, zumal da das LSG auch nur das von Professor Dr. M für richtig gehaltene Ergebnis wiedergibt: er halte die Intensität des Unfallereignisses zur Entstehung der krankhaften Entwicklung für ebenso entscheidend wie die präformierte Bereitschaft des Klägers, wahnhaft zu reagieren. Der Hinweis im Urteil, es sei den gutachtlichen Ausführungen von Dr. S (Stellungnahme vom 7. Dezember 1970) nicht zu entnehmen, weshalb dem “Anlaß„ einer paranoischen Entwicklung nicht die Eigenschaft einer wesentlichen Bedingung zukommen könne, läßt darüber hinaus nicht erkennen, ob das LSG die Notwendigkeit erkannt hat, die Bedeutung und Stärke einer Krankheitsanlage (falls es von einer solchen ausgegangen ist) einerseits und die Bedeutung des Unfallereignisses andererseits für die Entstehung der Gesundheitsstörung gegeneinander abzuwägen.
Ist das LSG jedoch davon ausgegangen, daß bei dem Kläger nicht nur eine Krankheitsanlage, sondern bereits krankhafte Veränderungen vorgelegen haben, - Professor Dr. M, auf den sich das LSG beruft, hält ua (S. 170 der LSG-Akten) den Anteil des Unfalls an der “weiteren„ psychischen Fehlentwicklung für prüfungsbedürftig -, käme nach der Kausalitätslehre nur eine Verschlimmerung der bereits vorhandenen krankhaften Veränderungen durch das Unfallgeschehen in Betracht. In einem solchen Fall besteht der durch das Unfallereignis bedingte Gesundheitsschaden in einer Verschlimmerung des bereits vorhanden gewesenen krankhaften Zustandes, so daß nicht das Grundleiden als solches mit allen seinen Auswirkungen Unfallfolge ist, sondern nur der Anteil, der dem Einfluß des Unfalls auf das Leiden und seinen weiteren Verlauf zuzurechnen ist (BSG 7, 53, 56; Brackmann, aaO, S. 488 m I mit weiteren Nach - weisen). Dementsprechend ist bei Annahme einer bereits vorhanden gewesenen krankhaften Veränderung und einer unfallbedingten Verschlimmerung der Gesundheitsschaden rechtlich in zwei Teile zu zerlegen, in den allein vor dem Unfall vorhanden gewesenen und den danach gegebenen, durch ihn wesentlich bedingten Teil. Die Auffassung des LSG, die Erwerbsfähigkeit des Klägers sei durch Unfallfolgen um 100 vH gemindert, trifft danach jedenfalls bei einer unfallbedingten Verschlimmerung vorbestehender Gesundheitsschäden nicht zu. Auch dies hat die Beklagte zu Recht als Verletzung der Kausalitätsnorm (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG aF) gerügt.
Die Revision der Beklagten ist somit statthaft, auch im übrigen zulässig. Es bedarf keiner Entscheidung, ob auch andere von der Beklagten geltend gemachte Revisionsgründe (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) durchgreifen. Die Revision ist begründet, da nicht auszuschließen ist, daß das LSG bei zutreffender Anwendung der Kausalitätsnorm anders entschieden hätte.
Das BSG kann jedoch nicht selbst in der Sache entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen hierfür schon deshalb nicht aus, weil das LSG offengelassen hat, ob bei dem Kläger überhaupt eine psychoreaktive paranoische Fehlentwicklung vorliegt. Eine Entscheidung aufgrund der Annahme, bei dem Kläger bestünden organische Wesensveränderungen, ist dem BSG ebenfalls verwehrt, weil das LSG auch das Vorliegen einer solchen Gesundheitsstörung offengelassen und damit keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat.
Auf die Revision der Beklagten war deshalb das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen