Entscheidungsstichwort (Thema)
Begründung einer Ermessensentscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Für die Aufhebung eines vor dem 1.1.1981 erlassenen begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung ist nach diesem Zeitpunkt jedenfalls in der sozialen Entschädigung § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 Alt 2 SGB 10 auch dann maßgebend, wenn sich nach Erlaß des Bescheides die rechtserheblichen Verhältnisse vor dem 1.1.1981 geändert haben (Ergänzung zu BSG 11.4.1985 4b/9a RV 23/84 = SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 7, BSG 26.6.1985 4b/9a RV 20/84).
2. Zur Ermessensausübung bei der Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit.
Orientierungssatz
Ist ein Bescheid in das Ermessen der Verwaltung gestellt, müssen in diesem nach § 35 Abs 1 S 3 SGB 10 die "wesentlichen" Gesichtspunkte mitgeteilt werden, von denen das Versorgungsamt bei der Ausübung eines Ermessens hätte ausgehen müssen. Dem Betroffenen muß so viel mitgeteilt werden, daß er seine Rechte demgegenüber angemessen verteidigen kann (vgl BSG vom 21.2.1985 4 RJ 103/83).
Normenkette
SGB 10 § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 Alt 2 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 1 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art 2 § 40 Abs 2 S 2 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 § 48 Abs 4 S 1 Fassung: 1980-08-18, § 45 Abs 4 S 2, § 35 Abs 1 S 3 Fassung: 1980-08-18, § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 Fassung: 1980-08-18; SGG § 54 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 01.02.1983; Aktenzeichen L 6 V 153/81) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 14.04.1981; Aktenzeichen S 30 V 71/80) |
Tatbestand
Der Beklagte setzte die Witwen-Ausgleichsrente der Klägerin aufgrund des 7. Gesetzes über die Anpassung der Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz -BVG- (AnpG-KOV) für die Zeit ab 1. Juli 1975 unter Berücksichtigung ihrer Witwenrente aus der Rentenversicherung neu fest (Bescheid vom 24. Oktober 1975). Dementsprechend wurden die Versorgungsbezüge nach dem 8., 9. und 10. AnpG-KOV angepaßt (Bescheide vom 31. Mai 1976, 6. Juni 1977 und 28. November 1978). In diesen Bescheiden wurde die Klägerin über ihre Anzeigepflicht belehrt. Mit Bescheid vom 27. Januar 1978 gewährte ihr die Landesversicherungsanstalt (LVA) ab 1. November 1976 eine Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit aus der Rentenversicherung. Nach einem Zusatz in dem Bescheid behielt sie die Nachzahlung vorerst ein, weil die Höhe eines Ersatzanspruches des Versorgungsamtes noch nicht bekannt war. Der Nachzahlungsbetrag von 4.766,40 DM wurde ausgezahlt, nachdem das Versorgungsamt der LVA auf Anfrage mitgeteilt hatte, ein Ersatzanspruch für F. F. werde nicht geltend gemacht. Mit einer am 24. August 1979 beim Versorgungsamt eingegangenen Einkommenserklärung gab die Klägerin bekannt, daß sie auch eine Rente aus eigener Rentenversicherung beziehe. Der Beklagte berechnete gemäß § 60a BVG die Versorgungsleistungen unter Berücksichtigung jener Rente für die Zeit von November 1976 bis November 1979 neu und forderte einen überzahlten Betrag von 7.372,-- DM zurück (Bescheid vom 27. September 1979, Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 1980). Das Sozialgericht (SG) hat diese Verwaltungsakte aufgehoben, weil die Voraussetzungen für eine vorläufige Feststellung nach § 60a BVG nicht gegeben seien (Urteil vom 14. April 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten, soweit sie die Höhe der Ausgleichsrente betraf, als unzulässig verworfen, bezüglich der Rückforderung als unbegründet zurückgewiesen und einen auf § 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) gestützten Bescheid vom 19. November 1981 aufgehoben, durch den die gleiche Regelung wie zuvor geschaffen wurde (Urteil vom 1. Februar 1983). Die nachträgliche Rücknahme des Rentenbescheides vom 24. Oktober 1975 nach § 48 SGB X hält das Gericht deshalb für unberechtigt, weil die hier zu beachtende Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X seit Kenntnis der eine Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen verstrichen sei. Diese Kenntnis habe die Verwaltung ab 31. August 1979 gehabt. Die bezeichnete Frist beginne in Altfällen - wie hier - nicht erst mit dem Inkrafttreten des SGB X, dh am 1. Januar 1981.
Der erkennende Senat hat die Revision gegen das Berufungsurteil zugelassen, soweit der Bescheid vom 19. November 1981 aufgehoben worden ist. Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X. Die einjährige Frist der letztgenannten Vorschrift könne nicht vor dem Inkrafttreten des SGB X zu laufen begonnen haben. Eine vorher erlangte Kenntnis rechtserheblicher Tatsachen hätte in jener Zeit noch nicht eine Ausschlußfrist für eine neue Entscheidung ausgelöst. Andererseits sei ein Vertrauensschutz für die Betroffene erst durch die neue Regelung mit Wirkung ab 1. Januar 1981 geschaffen worden. Die Schutzfrist sei aber für denjenigen, der schon vorher durch einen auf eine andere Rechtsgrundlage gestützten Bescheid unterrichtet worden sei, nicht mehr geboten.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts zu ändern und die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 19. November 1981 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg.
Zutreffend hat das LSG den auf § 48 SGB X vom 18. August 1980 (BGBl I, 1469) gestützten Bescheid vom 19. November 1981, durch den nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ein vorher erlassener Bescheid teilweise aufgehoben wurde (Altfall), auf seine Rechtmäßigkeit nach der genannten Vorschrift geprüft. Diese gilt nach Art II § 40 Abs 2 Satz 1 und 2 SGB X für die Aufhebung eines vor jenem Zeitpunkt ergangenen Verwaltungsaktes uneingeschränkt. Sie ist jedenfalls gegenüber einem Bescheid mit Dauerwirkung, durch den Ansprüche aus der sozialen Entschädigung (§§ 5, 24, Art II § 1 Nr 11 des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil - -SGB I- vom 11. Dezember 1975 -BGBl I, 3015-, Art II §§ 15 bis 23 SGB X) zuerkannt worden waren, auch dann anzuwenden, wenn die Änderung der Verhältnisse schon vor dem 1. Januar 1981 eingetreten war. Das wird durch die Ausnahmeregelung des Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X bestätigt; sie schreibt lediglich für bestimmte bestandskräftige Verwaltungsakte in der Sozialversicherung etwas anderes vor. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des BSG (1. Senat vom 27. April 1982 - BSGE 53, 235 = SozR 1300 § 48 Nr 2 -, allerdings zugunsten des Berechtigten; 2. Senat vom 23. Juni 1983 - BSGE 55, 165 = SozR 1300 § 45 Nr 5 - und vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 81/82 -; 6. Senat vom 24. Oktober 1984 - 6 RKa 10/83 - SozSich 1985, 158; 7. Senat vom 15. November 1984 - SozR 1300 § 45 Nr 13 -; 10. Senat vom 24. März 1983 - SozR 5870 § 2 Nr 30 -; 10. Senat vom 25. Oktober 1984 - SozR 1300 § 45 Nr 12 -). Das gilt vor allem für das Recht der sozialen Entschädigung, für das die oben genannte Ausnahmeregelung nicht wirkt (Urteile des 9a Senats vom 21. September 1983 - SozR 1300 § 48 Nr 6 -; 9b Senat vom 16. Mai 1984 - 9b RU 48/82 -). Ob für § 48 Abs 1 Nr 3, 1. Alternative SGB X etwas anderes gilt, was der 4. Senat in seinen Urteilen vom 11. April 1985 in SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 7 und vom 26. Juni 1985 - 4b/9a RV 20/84 - ausgeführt hat, braucht nicht entschieden zu werden, weil hier § 48 Abs 1 Nr 3, 2. Alternative SGB I einschlägig ist. Abgesehen davon wäre der erkennende Senat auch in den vom 4. Senat entschiedenen Fällen zu keinem anderen Ergebnis gekommen. Die Anwendung des neuen Rechts führt bei der von dem erkennenden Senat vertretenen Auslegung zu keinem für die Leistungsempfänger nachteiligerem Ergebnis als das frühere Recht.
Gerade für die Aufhebung von Verwaltungsakten in der sozialen Entschädigung hat das SGB X keine allgemeinen Verschlechterungen eingeführt, schon gar nicht derart, daß jetzt in die Bestandskraft weitergehend eingegriffen werden dürfte, während dies früher grundsätzlich ausgeschlossen gewesen wäre. Dies gilt gerade nicht für Fälle wie den gegenwärtigen und für diejenigen, über die der 4b Senat entschieden hat.
Nach § 62 Abs 1 BVG aF war über einen Anspruch bei nachträglicher Änderung der maßgebend gewesenen Verhältnisse pflichtgemäß neu zu entscheiden; dies war nicht ins Ermessen der Verwaltung gestellt. Bei unrichtiger Berechnung von einkommensabhängigen Leistungen war die Nichtberücksichtigung anderen Einkommens regelmäßig "zweifelsfrei" unrichtig, und deshalb durfte und mußte die unrichtige Feststellung nach § 41 KOVVfG aF berichtigt werden. Im Unterschied dazu darf nunmehr ein begünstigender Verwaltungsakt, der von vornherein unrichtig war, nach § 45 SGB X lediglich unter Abwägung der beiderseitigen Interessen zurückgenommen werden (Abs 2). Nach herrschender Meinung ist dieser Eingriff in das Ermessen der Verwaltung gestellt (BSG SozR 1300 § 45 Nr 12 sowie alle einschlägigen Kommentare, auch zum Verwaltungsverfahrensgesetz). Zudem gelten allgemein zum Schutz des Berechtigten zwei Fristen, die neu sind (§ 45 Abs 3 SGB X). Eine nachträgliche Änderung führt wohl nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X für die Zukunft stets zu einer Aufhebung, was indes nicht ungünstiger ist als nach altem Recht. Doch für die Vergangenheit "soll" ein begünstigender Verwaltungsakt nur unter bestimmten Voraussetzungen zurückgenommen werden, ua wegen nachträglichen Erwerbs von Einkommen oder Vermögen, das zu berücksichtigen ist. Dies ist für den Berechtigten im allgemeinen günstiger, jedenfalls in Fällen wie dem gegenwärtigen, wie noch im einzelnen darzulegen ist. Außerdem ist die rückwirkende Aufhebung durch zwei verschiedene Fristvorschriften eingeschränkt (§ 48 Abs 4 SGB X), was dem früheren Recht fremd war.
Bei diesem Rechtsvergleich geht es allein um die Grenzen der in Art II § 40 Abs 2 SGB X geregelten Anwendbarkeit der §§ 44 bis 49 SGB X auf Altfälle. Die Vorschrift des § 50 SGB X über die Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen bleibt ausgeschlossen; sie gilt ab 1. Januar 1981 uneingeschränkt (Art II § 40 Abs 1 SGB X). Mit der neuen Rechtslage sind mithin lediglich § 62 BVG aF sowie die §§ 40 bis 42 KOVVfG aF zu vergleichen. Es geht allein um die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen nach früherem und nach jetzigem Recht ein Verwaltungsakt aufgehoben werden durfte und darf. Entscheidungen darüber sind auch weitestgehend von der Berufung im Sozialgerichtsverfahren ausgeschlossen (§§ 145 bis 148 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) und verfahrensmäßig anders zu behandeln als solche auf Rückerstattungen (§ 149 SGG), so daß sie im Gerichtsverfahren rechtsverbindlich werden können, bevor sachlich über die davon abhängige Rückforderung zu befinden ist. Bei einer Berichtigung für die Vergangenheit - wie hier - ist zwar die Rechtsfolge, eine Rückerstattung der erhaltenen Leistungen, in der Regel auch umstritten. Aber über sie wird besonders entschieden. In erster Linie geht es um die Voraussetzung, die Anwendbarkeit des neuen Rechtes beim Eingriff in rechtsverbindliche Verwaltungsakte.
Allerdings sind nach § 50 Abs 1 SGB X die zu Unrecht erhaltenen Leistungen stets zurückzuerstatten. Diese Verpflichtung wird indes durch eine Härteregelung gemildert. Nach § 59 Abs 1 Satz 1 Nr 3 Satz 1 Bundeshaushaltsordnung darf der zuständige Bundesminister Ansprüche erlassen, wenn die Einziehung nach der Lage des Falles für den Anspruchsgegner eine besondere Härte bedeuten würde; diese Befugnis kann er übertragen (Abs 1 Satz 2). Hingegen war die Erstattung nach § 47 Abs 1 KOVVfG von verschiedenen Voraussetzungen abhängig. Aber selbst wenn bei dem Rechtsvergleich diese unterschiedlichen Rechtsfolgen der Aufhebung, um deren Rechtsgrundlage es bei den Übergangsfällen geht, mitberücksichtigt würden, fiele ins Gewicht, daß nach früherem Recht allgemein weitergehend in die Bestandskraft eingegriffen werden durfte. Jedenfalls war dies nicht ausgeschlossen mit der Folge, daß ein Vertrauen entstanden wäre, das die Anwendung der neuen Vorschriften auf Altfälle ausschlösse. Schließlich war in Fällen wie dem gegenwärtigen allgemein der überzahlte Betrag zurückzuerstatten, weil dies wegen der Nachzahlung aus der Sozialversicherung vertretbar war (§ 47 Abs 1 Nr 1 Buchstabe b, 2. Alternative KOVVfG aF).
Im gegenwärtigen Fall durfte der vor dem 1. Januar 1981 erlassene Bescheid entgegen der Ansicht des LSG nach § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht deshalb nicht mehr teilweise aufgehoben werden, weil, wie das LSG meint, die Frist von einem Jahr nach Bekanntwerden der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen verstrichen war. Selbst wenn die Frist mit der tatsächlichen Kenntnis vor dem 1. Januar 1981 begonnen hätte und nicht erst, wie das BSG bisher angenommen hat (Urteil des 7. Senats in SozR 1300 § 45 Nr 13), mit dem Inkrafttreten des SGB X, wäre sie durch den auf § 60a BVG gestützten Bescheid gewahrt gewesen. Das geböten Sinn und Zweck der genannten Schutzbestimmung. Mit dem ersten Neufeststellungsbescheid von 1979 wertete die Verwaltung ihre Kenntnis des Einkommens aus der Rentenversicherung zu Ungunsten der Klägerin rechtzeitig aus. Dadurch wurde das Vertrauen der Begünstigten in die Bindungswirkung der früheren Feststellung erschüttert. Die Aufhebung dieses rechtzeitig erlassenen Änderungsbescheides durch das SG war noch nicht rechtskräftig, als der neue Verwaltungsakt am 19. November 1981 erlassen wurde. Außerdem wies das SG in der Begründung ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, ungeachtet seiner Entscheidung den 1975 erlassenen Bescheid über die Ausgleichsrente nach § 62 BVG aF und in der Zeit ab 1. Januar 1981 nach der entsprechenden Vorschrift des SGB X zurückzunehmen.
Jedoch ist die Neufeststellung der einkommensabhängigen Versorgungsleistungen aus einem anderen Grunde aufzuheben, als ihn das LSG angenommen hat. Die Verwaltung hat die Soll-Vorschrift des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X nicht richtig angewandt. Nach ihr "soll" mit Wirkung für die Vergangenheit der nachträglich unrichtig gewordene Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufgehoben werden, soweit nach seinem Erlaß der Berechtigte Einkommen erzielt, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3, 2. Alternative), und zwar ab Beginn des Anrechnungszeitraumes (Satz 3). Das "Sollen" bedeutet im allgemein anerkannten juristischen Sprachgebrauch eine Verpflichtung für den Regelfall und eine Ermessensfreiheit in nichttypischen Fällen, dh in solchen, in denen ein wichtiger Grund der vorgeschriebenen Maßnahme der Rücknahme entgegensteht (BSGE 35, 267, 270 f = SozR Nr 5 zu § 551 RVO mN; BSG SozR 5870 § 2 Nr 30; BVerwGE 49, 16, 19, 23; 56, 220, 223; 62, 230, 242; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl 1980, § 114, Rz 10; Obermayer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 1983, § 40, Rz 48). Hier ist ein nichttypischer Fall gegeben, der der Verwaltung grundsätzlich eine Ermessensfreiheit einräumt. Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob abweichend davon stets ein Regelfall anzunehmen ist, wenn der Berechtigte nachträglich für lange Zeit rückwirkend eine Rente aus der Rentenversicherung, von der Leistungen nach dem BVG abhängig sind, erhält, und wenn der Nachzahlungsbetrag ausbezahlt wird. Der gegenwärtige Fall ist durch eine Besonderheit gekennzeichnet. Die Landesversicherungsanstalt behielt die Nachzahlung ein und unterrichtete die Klägerin ausdrücklich darüber, daß endgültig erst darüber entschieden werde, wenn ein Ersatzanspruch des Versorgungsamtes geklärt sei; ein Bescheid über die Verrechnung wurde in Aussicht gestellt. Durch dieses Verhalten und durch die spätere Auszahlung durch die Landesversicherungsanstalt, mithin durch das Zusammenwirken dieses Leistungsträgers mit dem Versorgungsamt, mußte bei der Klägerin der Eindruck entstehen, sie brauche dieses Einkommen, das das Versorgungsamt nicht für eine Verrechnung beanspruche, nicht nach § 60 Nr 1 SGB I anzuzeigen. Sie konnte auf Grund dessen damit rechnen, daß die Verwaltung keinen Rücknahmebescheid nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 4 SGB X erlassen werde. Die Verwaltung ließ die Klägerin darauf vertrauen, daß sie von ihrer Meldepflicht befreit sei. Warum es irrtümlich zu einer Auszahlung der höheren Rente kam, war der Klägerin nicht bekannt.
Abweichend von dieser Rechtslage hat der Beklagte keinen Ermessensspielraum für seine Entscheidung angenommen, sondern eine Verpflichtung zur Änderung seines Rentenbescheides zu Lasten der Klägerin. In der Begründung des neuen Bescheides und auch des Widerspruchsbescheides wird lediglich auf § 48 SGB X und auf § 60 Abs 4 BVG verwiesen.
Damit fehlt schon die nach § 35 Abs 1 SGB X erforderliche Begründung des in das Ermessen der Verwaltung gestellten Bescheides. In diesem hätten nach § 35 Abs 1 Satz 3 SGB X die "wesentlichen" (Satz 2) Gesichtspunkte mitgeteilt werden müssen, von denen das Versorgungsamt bei der Ausübung eines Ermessens (vgl dazu § 54 Abs 2 Satz 2 SGG; für Leistungsentscheidungen: § 39 SGB I) hätte ausgehen müssen (vgl dazu BSGE 27, 34, 38 f = SozR Nr 3 zu § 1236 RVO; Dolzer, Die öffentliche Verwaltung 1985, 913 ff; Redeker/von Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl 1985, § 42 Rz 70, § 115, Rz 18). Dem Betroffenen muß so viel mitgeteilt werden, daß er seine Rechte demgegenüber angemessen verteidigen kann (BSG 21. Februar 1985 - 4 RJ 103/83 - mN). Daran fehlt es hier. Wichtige Beurteilungsmaßstäbe für das Ermessen hätten dem § 45 Abs 2 Satz 1 bis 3 SGB X, der die Rücknahme unrichtig gewesener Verwaltungsakte betrifft, entnommen werden können; diese müßten auch hier für den Vertrauensschutz maßgebend sein. Außerdem wäre zu berücksichtigen gewesen, daß eine Aufhebung im Unterschied zum früheren Recht stets zur Rückerstattung führt. Der bezeichnete Formfehler (Hauck/Haines, Kommentar zum Sozialgesetzbuch SGB X, 1, 2, K § 35 Rz 28) hätte im Widerspruchsbescheid geheilt werden können (§ 41 Abs 1 Nr 2 iVm Abs 2 SGB X); das hat der Beklagte versäumt. Allein dieser Rechtsfehler führt in solchen Fällen regelmäßig nach § 42 Satz 1 SGB X zur Aufhebung; denn die Richter der Sozialgerichtsbarkeit können im allgemeinen nicht zu dem Ergebnis gelangen, daß keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Das ist in der Regel die Folge des Fehlens einer Begründung für eine Ermessensentscheidung, weil die Gerichte wegen der Gewaltentrennung nicht anstelle der Verwaltung deren Ermessen ausüben dürfen (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 SGG; dazu zB BSGE 27, 154, 158 = SozR Nr 15 zu § 368n RVO). Abweichend von dieser allgemeinen Rechtslage nimmt der Senat wegen der dargelegten Besonderheiten dieses Falles, die einen außerordentlichen Vertrauensschutz begründet haben, an, daß der Ermessensspielraum "auf Null", dh auf eine einzige richtige Entscheidungsmöglichkeit, geschrumpft war. Dann ist der Verwaltung eine nachgeholte Ermessensausübung verwehrt (BVerwGE 62, 108, 116; Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl 1983, § 46 Rz 24 und 25; Eyermann/Fröhler, aaO, § 114 Rz 6).
Außerdem waren die angefochtenen Bescheide - ebenso wie bei einem Ermessensfehler (BSGE 2, 142, 148) - allein wegen der Nichtausübung des Ermessens, dh deshalb aufzuheben, weil die Verwaltung irrtümlich eine rechtliche Verpflichtung zum Eingriff angenommen hat (Redeker/von Oertzen, aaO, § 114 Rz 9 mN). In diesem besonderen Fall hat die Verwaltung die sonst bestehende Möglichkeit, diesen Fehler durch eine erneute Entscheidung zu beheben, wie dargelegt, verwirkt.
Entgegen der vom Beklagten im Revisionsverfahren geäußerten Rechtsauffassung war die angefochtene Neufeststellung nicht allein deshalb nach § 61 iVm § 60 Abs 4, besonders Satz 2 BVG berechtigt, weil diese nicht durch das SGB X aufgehobenen Vorschriften als Sonderregelungen gegenüber § 48 SGB X gültig sein sollen. Die letztgenannte Bestimmung tritt an die Stelle des durch Art II § 15 Nr 1 SGB X aufgehobenen § 62 BVG und behandelt ebenso wie diese Regelung den Eingriff in die Bestandskraft eines Verwaltungsaktes wegen nachträglicher Änderung der maßgebenden Verhältnisse. Demgegenüber ist in den §§ 60 und 61 BVG lediglich der Beginn einer Leistung unter der Voraussetzung geregelt, daß darüber erstmalig oder unter Beseitigung einer Bindungswirkung entschieden werden darf und muß. Ob diese Feststellung zulässig und geboten ist, richtete sich früher nach § 62 BVG und bestimmt sich jetzt für Fälle wie den gegenwärtigen nach dem SGB X.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen