Entscheidungsstichwort (Thema)
Erhebliche Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Merkzeichen "G". Unwiderlegliche Rechtsvermutung. Rechtsentziehung kraft Gesetzes
Orientierungssatz
Die aufgrund der Neufassung des § 58 Abs 1 S 2 SchwbG durch Art 20 Nr 2 HBegleitG vom 22.12.1983 erfolgte Entziehung des Merkzeichens G und somit der Berechtigung zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Nahverkehr ist rechtmäßig. Der Gesetzgeber war nicht gehindert, die als sozial schädlich erkannte Pauschalregelung des § 58 Abs 1 S 2 SchwbG aF zu ändern und dafür zu sorgen, daß in Zukunft allein diejenigen, bei denen die ausgleichungsbedürftigen Nachteile des § 58 Abs 1 S 1 SchwbG vorliegen, begünstigt werden. Damit ist auch dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 GG) Rechnung getragen.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 4, §§ 57, 58 Abs 1 S 1 Fassung: 1979-10-08, § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1979-10-08, § 58 Abs 1 S 2 Fassung: 1983-12-22; GG Art 3 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 19.11.1984; Aktenzeichen L 11 Vs 2184/84) |
SG Mannheim (Entscheidung vom 23.08.1984; Aktenzeichen S 10 Vs 1785/84) |
Tatbestand
Im November 1982 stellte der Beklagte bei der Klägerin Behinderungen im Sinne des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) fest, bewertete den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) für die Gesamtheit der Behinderungen weiterhin mit 80 vH und fügte dem den formularmäßig vorgesehenen Satz hinzu: "Sie sind in Ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt und erhalten Freifahrt im Nahverkehr - Merkzeichen G -" (Feststellungsbescheid vom 19. November 1982). Mit Bescheid vom 3. Januar 1984 stellte der Beklagte dagegen fest, die Klägerin sei nicht in ihrer Bewegungfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt. Die Feststellung des Merkmals "G" in der "entsprechenden Entscheidung" und in ihrem Ausweis werde mit Ablauf des 31. März 1984 aufgehoben. Dies folge aus der Neufassung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 (HBegleitG 1984) vom 22. Dezember 1983 BGBl I 1532) als wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen, wonach auch bei einer MdE von 80 vH und mehr die erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nicht mehr vermutet werde, sondern tatsächlich bestehen müsse.
Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat seine ablehnende Entscheidung ua darauf gestützt, daß bei der Klägerin tatsächlich keine Gehbehinderung bestehe. Hierzu hat es sachverständige Äußerungen eines Orthopäden und eines Neurologen beigezogen (Urteil vom 23. August 1984).
Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Klägerin, mit der sie sich nicht gegen die tatsächlichen Feststellungen des SG wendet, das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 19. November 1984): Der angefochtene Entziehungsbescheid sei ebenso wie der Widerspruchsbescheid schon deshalb rechtswidrig, weil er nach einem Verwaltungsverfahren erteilt worden sei, in dessen Verlauf wesentliche, zwingende Vorschriften des Verwaltungsverfahrensrechts verletzt worden seien (§ 20 Abs 1 und 2, §§ 21, 35 Sozialgesetzbuch, Verwaltungsverfahren, Zehntes Buch -SGB 10-). Anders als bei der durch das Widerspruchsverfahren nachgeholten Anhörung (§ 41 Abs 1 Nr 3 und Abs 2 SGB 10) habe der Beklagte die in beiden Verwaltungsakten fehlende, aber zwingend vorgeschriebene, ordnungsgemäße Begründung der belastenden Verwaltungsakte bis zum Ende des Verwaltungsverfahrens nicht nachgeholt. Bezüglich dieses Verfahrensfehlers könne er die begünstigende Vorschrift des § 41 Abs 1 Nr 2, Abs 2 SGB 10 nicht für sich in Anspruch nehmen. Die genannten Verfahrensfehler seien auch nicht geheilt iS von § 42 Satz 1 SGB 10. Das Ergebnis des Widerspruchsverfahrens lasse die Schlußfolgerung "im Ergebnis richtig" nicht zu. Die Voraussetzungen für eine Neufeststellung nach § 48 SGB 10 lägen aber auch nicht vor, weil der Bescheid vom 19. November 1982 entsprechend seinem Wortlaut nur dahin ausgelegt werden könne, daß damit die tatsächlichen Voraussetzungen des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG verbindlich festgestellt worden seien. Eine Änderung dessen sei nicht eingetreten. Selbst wenn die Feststellung der erheblichen Beeinträchtigung in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr entbehrlich gewesen sein sollte, könne das, was in einem Bescheid verbindlich festgestellt worden sei, nur durch einen rechtmäßigen weiteren Bescheid aufgehoben werden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Beklagte die rechtsirrtümliche Anwendung der vom LSG herangezogenen Vorschriften des SGB 10. Der angefochtene Bescheid sei ebenso wie der Widerspruchsbescheid verfahrensrechtlich einwandfrei erlassen worden und gemäß § 48 SGB 10 begründet. Die wesentliche Änderung liege in der Streichung der unwiderleglichen Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF, wonach alle Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH als erheblich beeinträchtigt iS des Satzes 1 aaO gälten. Anderes sei zuvor auch nicht festgestellt gewesen.
Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die gerügten Gesetzesverletzungen lägen nicht vor.
Entscheidungsgründe
Der Senat ist mit seinen ehrenamtlichen Richtern der gesetzliche Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz - GG -). Die Zweifel daran, ob der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA), wie es das Gesetz (§§ 45 f Sozialgerichtsgesetz -SGG-) vorsieht und das GG (Art 92) voraussetzt (vgl BVerfG SozR Nr 4 zu Art 101 GG), über die Berufung der ehrenamtlichen Richter eine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen hat, greifen nicht durch. Zwar hat sich der BMA in aller Regel an die von den Verbänden vorgelegten Vorschlagslisten gehalten. Er hat damit aber nicht die Vorschläge lediglich vollzogen, sondern nach seinem Ermessen gehandelt. Das hat der 1. Senat in seinem Beschluß vom 26. 9. 1985 - 1 S 12/85 -, der alle ehrenamtlichen Richter des Bundessozialgerichts (BSG) betrifft, festgestellt.
Ob der erkennende Senat an diese Feststellung gebunden ist, braucht nicht entschieden zu werden. Denn der erkennende Senat ist auch nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gekommen, daß der Minister jedenfalls bei der Berufung der ehrenamtlichen Richter der Senate der Kriegsopferversorgung gesetzmäßig vorgegangen ist. Denn keiner der hierfür vorschlagsberechtigten Verbände hat sich auf den Standpunkt gestellt, seine Vorschlagsliste sei für den BMA verbindlich.
Die Revision des Beklagten ist begründet. Das Urteil des LSG, das der Klage allein wegen der Verletzung vom Verwaltungsverfahrensrecht stattgab, war aufzuheben. Das SG hat indessen zu Recht entschieden, daß die Klägerin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr tatsächlich nicht erheblich beeinträchtigt ist und ihr deshalb das Merkzeichen "G" nicht zusteht. Da die Klägerin im Rechtsmittelverfahren nicht vorgetragen hat, sie sei entgegen der Entscheidung des LSG tatsächlich erheblich bewegungseingeschränkt gewesen, hatte das BSG in der Sache selbst zu entscheiden (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Wenn sich in der Zwischenzeit die Sach- oder Rechtslage wesentlich geändert haben sollte, hätte die Verwaltung erneut zu entscheiden (§ 48 SGB X). Für eine Zurückverweisung an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) besteht jedenfalls kein Grund.
§ 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Art 20 Nr 2 des HBegleitG 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532) hat die nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I, 1649) begründete Rechtsvermutung, wonach ein Schwerbehinderter mit einer MdE von mindestens 80 vH in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt gilt, mit Ablauf des 31. März 1984 beseitigt. Auf Grund dieser neuen Gesetzeslage war nunmehr zu prüfen, ob bei der Klägerin die tatsächlichen Voraussetzungen für eine unentgeltliche Beförderung im Personenverkehr (§ 57 SchwbG) gegeben sind, die nach der ab 1. April 1984 geltenden Fassung erforderlich sind. Diesen gesetzlichen Erfordernissen ist das SG nachgekommen. Es hat anhand sachverständiger Äußerungen des Orthopäden Dr. S und des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B festgestellt, daß bei der Klägerin eine erhebliche Bewegungsbehinderung im Sinne des ab 1. April 1984 geltenden § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nicht besteht. Hiergegen hat die Klägerin weder in der Berufungsinstanz Einwände erhoben noch in der Revisionsinstanz zulässige und begründete Revisionsrügen vorgebracht. Die tatsächlichen Feststellungen des SG sind somit für das BSG bindend (§ 163 SGG).Etwaige Ansprüche der Klägerin wegen Hilflosigkeit oder Gehörlosigkeit nach § 57 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF des Gesetzes zur Erweiterung der unentgeltlichen Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 11.7.1985 (BGBl I, 1516) sind nicht Gegenstand dieses Rechtsstreits. Darüber hat der Beklagte auch noch nicht entschieden.
Entgegen der Meinung des Vordergerichts führt die Klage nicht schon deshalb zum Erfolg, weil der Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden nicht rechtswirksam den verbindlich festgestellten Anspruch der Klägerin auf das Merkmal "G" entzogen hat (vgl ständige Rechtsprechung des Senats, zB in SozR 3870 § 58 Nr 1). Für die Vergangenheit vor dem 1. April 1984 kommt den angefochtenen Bescheiden nicht mehr als eine rechtsbelehrende Bedeutung zu.
In das Recht der Klägerin hat nämlich nicht die Verwaltung, sondern der Gesetzgeber unmittelbar eingegriffen. § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF des Art 20 Nr 2 des HBegleitG 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I, 1532) hat die nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG idF der Bekanntmachung vom 8. Oktober 1979 (BGBl I, 1649) begründete Vermutung, wonach ein Schwerbehinderter mit einer MdE von mindestens 80 vH in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erheblich beeinträchtigt gilt, mit Ablauf des 31. März 1984 beseitigt. Mit einer selbständigen Regelung hat es die Verwaltung nur abgelehnt, die tatsächliche Bewegungsbehinderung iS des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG nach § 3 Abs 4 SchwbG mit Wirkung ab 1. April 1984 festzustellen, wodurch sie für die Zukunft die unerläßliche Voraussetzung für einen Beförderungsanspruch nach § 57 SchwbG verneint hat.
Der Bescheid vom 3. Januar 1984 enthält allerdings in seinem Verfügungsteil folgenden Zusatz: "Die Feststellung des Merkzeichens 'G' in der entsprechenden Entscheidung und in Ihrem Ausweis werden mit Ablauf der 31. März 1984 aufgehoben". Darauf stützt sich die Meinung des Vordergerichts, erst die Verwaltung und nicht schon das Gesetz habe in das auf Grund des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF bestehende Recht eingegriffen. Diese Meinung trifft aber nicht zu.
Das Gesetz bringt mit hinreichender Klarheit zum Ausdruck, daß für die Beendigung des sich aus der Vermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF ergebenden Rechts keine Regelung der Verwaltung vorgesehen ist. Die Verwaltung hat nur eine Voraussetzung für die Rechtsstellung gemäß § 57 SchwbG für die Zukunft zu regeln.
Wenn Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH nach § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF eine erhebliche Bewegungsbehinderung iS des Satzes 1 nur mit einem Ausweis mit entsprechendem Aufdruck (Merkmal "G") nachweisen können, der ab 1. April 1984 gültig ist, und wenn wegen der Neufassung des Abs 1 als Voraussetzung für den neuen Ausweis eine tatsächliche Bewegungsbehinderung gemäß § 3 Abs 4 SchwbG festgestellt sein muß, dann ist die Rechtsstellung, die auf Grund der früheren Rechtsvermutung (§ 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF) bestand, kraft Gesetzes mit Ablauf des 31. März 1984 fortgefallen. Der Gesetzgeber hat nämlich nicht nur diejenigen Fälle erfaßt, die er im Ergebnis sachgerecht neu geregelt wissen wollte, und hat somit der Verwaltung nicht den Vollzug übertragen. Er hat ausnahmslos bei allen Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH die Zuerkennung der erheblichen Bewegungseinschränkung beendet, so wie er ihnen dieses Merkmal zuvor kraft Gesetzes durch die Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF eingeräumt hatte. Er verlangt von allen diesen Schwerbehinderten, daß sie sich einen neuen Ausweis beschaffen, wenn sie weiterhin die Vergünstigung der freien Beförderung im Nahverkehr genießen wollen. Der Sinn dieser Regelung ist es, die Verwaltung erstmals zu der Prüfung zu verpflichten, ob die Voraussetzungen des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG erfüllt sind, die für diesen Personenkreis neu gefordert werden. Diese Auslegung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF entspricht auch den Motiven des Gesetzgebers, wie sie in der Begründung des Regierungsentwurfs geschildert sind (vgl BR-Drucks 302/83 S 89). Der Gesetzgeber geht hier davon aus, daß schon die alte Fassung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG die Betroffenen unmittelbar begünstigte: Eine Feststellung der erheblichen Bewegungseinschränkung sei bei Schwerbehinderten mit einer MdE um wenigstens 80 vH bisher nicht erfolgt. Von diesem Ausgangspunkt aus lag es nahe, daß das neue Gesetz diese gesetzliche Vergünstigung auch ohne Mitwirkung der Verwaltung wiederum durch Gesetz beendete.
Die allein durch eine gesetzliche Regelung zuerkannte Rechtsstellung der Klägerin konnte durch eine Gesetzesvorschrift für die Zukunft beseitigt werden. Insoweit ist die Rechtslage anders, als wenn in den üblichen Fällen des Sozialrechts eine Leistung oder ein Recht durch Verwaltungsakt zuerkannt worden ist und nachträglich die gesetzlichen Voraussetzungen fortfallen; dann muß dies die Verwaltung in der Regel durch einen Änderungs- oder Aufhebungsbescheid aussprechen (vgl BSG SozR 5850 § 4 Nr 8). Dem Recht der Kriegsopferversorgung, nach dem sich die Anerkennung als Schwerbehinderter und das übrige Verfahrensrecht für Schwerbehinderte richten (§ 3 SchwbG), ist ein solcher Eingriff durch das Gesetz nicht fremd. Als dieses Rechtsgebiet durch das Bundesversorgungsgesetz (BVG) vom 20. Dezember 1950 (BGBl I, 791) vollkommen neugeordnet wurde, verloren die früheren Bescheide ihre Wirksamkeit mit zwei Ausnahmen: die Entscheidung über die Frage des ursächlichen Zusammenhanges einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang iS des § 1 BVG blieb für die Zukunft rechtsverbindlich (§ 85) und die auf Grund der bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften zu zahlenden Versorgungsbezüge wurden bis zu einer Feststellung nach dem neuen Gesetz weitergezahlt (§ 86).
Bei der durch § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF für den Einzelfall geschaffenen Rechtslage lag es nahe, daß die Verwaltung nicht einfach abwartete, wer von den Betroffenen einen Antrag stellen werde, sondern kraft ihrer Fürsorgeverpflichtung von sich aus tätig wurde. Auf diese Weise konnte sie verhindern, daß die wirklich erheblich in ihrer Bewegungsfähigkeit Behinderten am 1. April 1984 vor vollendeten Tatsachen standen und weder einen gültigen Ausweis besaßen, der zur unentgeltlichen Beförderung berechtigte, noch die für die Wirksamkeit in vielen Fällen erforderlichen 120,-- DM gezahlt hatten (vgl § 57 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF).
Die Verwaltung ist auch so tätig geworden.
In Baden-Württemberg hat die Verwaltung alle in Betracht kommenden Fälle (mehrere hunderttausend) überprüft und auf unterstellten Antrag über die tatsächliche Bewegungsbehinderung einige Monate vor dem 1. April 1984 entschieden. In Nordrhein-Westfalen hat die Verwaltung die Schwerbehinderten mit einer MdE von wenigstens 80 vH über die allgemeine Rechtslage, wie sie auch in diesem Urteil vertreten wird, aufgeklärt und ihnen anheimgegeben, einen Antrag zu stellen und sich zur Frage der tatsächlichen erheblichen Bewegungseinschränkung zu äußern. In Niedersachsen hat die Verwaltung offenbar wie in Baden-Württemberg alle Fälle geprüft. Sie hat in diesem Land auch versucht, möglichst alle Betroffenen anzuhören.
Da das neue Recht die Voraussetzung für eine unentgeltliche Beförderung allen Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH unmittelbar entzog, ist es für die Entscheidung des vorliegenden Falles unerheblich, wie ihnen diese nach altem Recht tatsächlich zuerkannt war. Nach altem Recht war eine erhebliche Bewegungseinschränkung für Schwerbehinderte mit einer MdE von mindestens 80 vH nicht durch die Verwaltung festzustellen. Davon geht auch, wie gesagt, die Gesetzesbegründung aus. Nach § 3 Abs 4 SchwbG waren - und sind - "weitere gesundheitliche Merkmale", dh andere als die MdE, nur dann festzustellen, wenn diese Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Vergünstigung sind. Bei den Schwerbehinderten mit einer MdE von mindestens 80 vH wurde eine solche Verwaltungsentscheidung aber gerade nicht für die Vergünstigung der Freifahrt verlangt. Vorausgesetzt wurde ausschließlich die MdE von mindestens 80 vH. Allein auf Grund einer Feststellung der MdE nach § 3 Abs 1 bis 3 SchwbG war ein Ausweis nach § 3 Abs 5 SchwbG, der zur unentgeltlichen Beförderung nach § 57 SchwbG berechtigte, kraft der gesetzlichen Vermutung auszustellen. Dieser Ausweis ist ab 1. April 1984 unwirksam, weil seine gesetzliche Voraussetzung durch die gesetzliche Neuregelung entfallen ist.
Wenn man entgegen dieser Vorstellung des Gesetzes in dem Schreiben der Verwaltung an die Klägerin, wonach diese besonders bewegungsbehindert ist, eine Feststellung iS des § 3 Abs 4 SchwbG sehen wollte, so könnte sich die Frage ergeben, ob diese Entscheidung wegen eines Vertrauensschutzes auf Dauer Bestand hätte. Hat aber, was oben begründet wurde, § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF, ohne daß es eines Vollzuges durch die Verwaltung bedarf, die sich aus § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF ergebenden Vergünstigungen gleichmäßig für alle Schwerbehinderten mit einer MdE um mindestens 80 vH beendet, so ist ein Vertrauensschutz für die Zeit ab 1. April 1984 nicht zu begründen. Die Neuregelung ist der Vertrauensvorschrift des § 45 SGB 10 gleichrangig und geht ihr deshalb als späteres Gesetz vor. Als Verwaltungsakt wäre die frühere - rechtswidrige - Feststellung, daß der Schwerbehinderte bewegungsbehindert sei, nach § 39 Abs 2 SGB 10 durch jene Neuregelung mit Ablauf des 31. März 1984 unwirksam geworden, denn der Verwaltungsakt hätte sich "auf andere Weise erledigt" als durch Rücknahme, Widerruf, Aufhebung oder Zeitablauf (vgl Kopp, Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Aufl, 1983, § 43 Rdz 17).
Verfassungsrechtliche Bedenken gegen § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG nF bestehen nicht. Solche Bedenken wären allenfalls dann begründet, wenn die von § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF betroffenen Schwerbehinderten geltend machen könnten, ihnen sei durch das Gesetz etwas zuerkannt worden, wofür sie eine Gegenleistung erbracht hätten oder worauf sie sich in ihrer Lebensgestaltung eingerichtet hätten und auch auf Dauer einstellen durften. Es kann dahinstehen, ob diejenigen sich darauf berufen können, bei denen wirklich die Nachteile vorliegen, die in § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG aF und nF geschildert sind. Nicht geltend machen können es jedenfalls diejenigen, bei denen durch die Pauschalregelung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF die erhebliche Bewegungseinschränkung unterstellt worden ist, obwohl sie nicht bestand. Der Gesetzgeber war jedenfalls nicht gehindert, die als sozial schädlich erkannte Pauschalregelung zu ändern und dafür zu sorgen, daß in Zukunft allein diejenigen, bei denen die ausgleichungsbedürftigen Nachteile des § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG vorliegen, begünstigt werden. Damit ist dem verfassungsrechtlichen Gebot der Gleichbehandlung (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes) Rechnung getragen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen