Orientierungssatz
Die Darstellung des Sachverhalts darf in der mündlichen Verhandlung nicht deshalb unterbleiben, weil schon in einer früheren Verhandlung der Sachverhalt dargestellt worden war.
Normenkette
SGG § 112 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 12. Oktober 1965 aufgehoben, soweit das Landessozialgericht die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 10. September 1964 zurückgewiesen hat. Insoweit wird der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten um die Höhe des Altersruhegeldes, das die Beklagte der Klägerin nach § 25 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) gewährt.
Die Klägerin ist 1903 geboren; sie besuchte 1922 ein halbes Jahr eine Handelsschule und war anschließend in der Tschechoslowakei bis April 1933 und wieder von Mai 1936 bis Dezember 1938 in Anwaltsbüros beschäftigt; danach arbeitete sie bis Mai 1945 als Sekretärin und Disponentin in einer Prager Holzgroßhandlung.
Mit ihrer Klage hatte die Klägerin erst im zweiten Rechtszug einen Teilerfolg. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) entschied, daß die bis dahin unberücksichtigte Beschäftigungszeit von September 1923 bis September 1924 anzurechnen und die Klägerin für die Zeit von Juli 1930 bis April 1933 als Sekretärin und Bürovorsteherin in die Leistungsgruppe 4 (Anlage 1 B zu § 22 des Fremdrentengesetzes - FRG -) einzustufen sei. Keinen Erfolg hatte die Klägerin, soweit sie für die Beschäftigung in den Anwaltsbüros ab Januar 1926 die Einstufung in die Leistungsgruppe 3 (anstelle von 5 bzw. 4) und für die Beschäftigung in der Holzgroßhandlung die Einstufung in die Leistungsgruppe 2 (anstelle von 3) begehrte.
Mit der nicht zugelassenen Revision beantragte die Klägerin,
das Urteil des LSG aufzuheben, soweit ihre Berufung zurückgewiesen wurde, und insoweit die Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügte Verstöße gegen die §§ 112 Abs. 1 Satz 2, 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und sachlich-rechtlich eine Verletzung des § 22 FRG. Zur Begründung der Verfahrensrügen trug sie vor: In der Verhandlung vom 12. Oktober 1965 sei die Darstellung des Sachverhalts unterblieben; hinsichtlich der Zeit vom Juli 1930 bis April 1933 habe das LSG die Aufgaben und Tätigkeiten eines Bürovorstehers nicht geklärt und den Verhandlungsstoff nicht voll gewürdigt; hinsichtlich der übrigen Beschäftigungen in Anwaltsbüros habe es seine Überzeugung ebenfalls nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gebildet.
Die Beklagte stellte keinen Antrag.
II
Die Revision ist zulässig. Sie ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden und nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Für die Statthaftigkeit genügt die Rüge einer Verletzung des § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG.
Das Urteil des LSG ist auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 1965 ergangen. In dieser Verhandlung ist, wie die Sitzungsniederschrift beweist, der Sachverhalt von keinem der beteiligten Richter dargestellt worden. Damit hat das LSG § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG verletzt. Die Darstellung des Sachverhalts ist hier nicht deshalb entbehrlich gewesen, weil der Sachverhalt schon in der Verhandlung des LSG vom 25. Mai 1965 dargestellt worden ist. Das Gesetz läßt nicht erkennen, daß die Sachverhaltsdarstellung in einem solchen Fall entfallen darf. § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG soll sicherstellen, daß die beisitzenden Richter und die Beteiligten den Sachverhalt erfahren, den der vortragende Richter für wesentlich hält (SozR Nr. 5 zu § 112 SGG). Danach besteht aber ein Bedürfnis für die Sachverhaltsdarstellung auch in späteren Verhandlungen. Das gilt besonders auch hier; von den fünf Richtern der Richterbank vom 25. Mai 1965 hat nur noch einer zur Richterbank vom 12. Oktober 1965 gehört; außerdem war inzwischen weiterer Beweis aufgenommen worden.
Der erkennende Senat ist mit dem 12. und 4. Senat des Bundessozialgerichts (Entscheidungen vom 27. Februar 1964 und 29. Juli 1965, SozR Nr. 5 und 6 zu § 112 SGG) der Meinung, daß das Unterbleiben der Darstellung des Sachverhalts ein wesentlicher Verfahrensmangel ist. Nach der Auffassung des 12. Senats ist § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG eine Verfahrensvorschrift, die zwingend ist, weil sie aus rechtsstaatlichen Gründen im öffentlichen Interesse erlassen worden ist. Damit vereinbart sich kaum die Ansicht des 4. Senats, daß der Verstoß nach § 295 der Zivilprozeßordnung (ZPO) i. V. m. § 202 SGG heilbar ist (vgl. § 295 Abs. 2 ZPO). Zu diesen Fragen braucht der erkennende Senat jedoch keine Stellung zu nehmen, weil der Verstoß des LSG gegen § 112 Abs. 1 Satz 2 SGG im Falle der Heilbarkeit nicht geheilt wäre. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Klägerin am 12. Oktober 1965 auf die Darstellung des Sachverhalts ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet hat. Eine Heilung des Mangels käme daher nur in Betracht, wenn die Klägerin "bei der nächsten mündlichen Verhandlung" den Mangel nicht gerügt hätte, "obgleich sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein mußte" (2. Alternative des § 295 Abs. 1 ZPO). Insoweit bestehen schon Zweifel, ob die Verhandlung vom 12. Oktober 1965 eine "nächste" Verhandlung war und was unter dem Begriff der "nächsten Verhandlung" im Sinne des § 295 Abs. 1 ZPO zu verstehen ist (vgl. dazu Zeihe, SozVers 1966, 196); der 4. Senat hat sich in seiner Entscheidung vom 29. Juli 1965, SozR Nr. 6 zu § 112 SGG, zu diese Frage nicht näher geäußert; auch sie kann jedoch wiederum offen bleiben. Letztlich scheitert eine Heilung des Mangels nämlich daran, daß der Mangel der Klägerin weder bekannt war noch bekannt sein mußte. Die Entscheidung des 4. Senats hat einen Fall betroffen, in dem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung durch einen Prozeßbevollmächtigten vertreten gewesen ist; hierauf sind die Ausführungen des 4. Senats abgestellt. Hier jedoch war die Klägerin vor dem LSG nicht vertreten. Wie der erkennende Senat aber schon in einer früheren Entscheidung (Urteil vom 2. September 1964, NJW 1964, 2227 = SozR Nr. 4 zu § 107 SGG) dargelegt hat, fordert die 2. Alternative des § 295 Abs. 1 ZPO das Wissen oder Wissenmüssen davon, daß das Gericht gegen die ihm obliegenden Verfahrenspflichten verstoßen hat; denn erst dann ist der Verfahrensmangel den Beteiligten bekannt oder doch erkennbar. Bei nicht vertretenen rechtsunkundigen Beteiligten darf eine Kenntnis der Verfahrensvorschriften in aller Regel nicht vorausgesetzt werden (vgl. Haueisen, NJW 1965, 195 ff). Das gilt auch für die Klägerin, obgleich sie ohne Zweifel rechtskundiger ist als manche andere der vor den Sozialgerichten klagenden Beteiligten; denn die Kenntnis, daß ein Gericht verfahrensrechtlich zur Darstellung des Sachverhalts in der mündlichen Verhandlung verpflichtet ist und das selbst bei wiederholten Verhandlungen, kann auch bei ihr nicht vorausgesetzt werden.
Auf dem Verfahrensmangel beruht das angefochtene Urteil. Ein Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel schon dann, wenn sich ein Einfluß des Verfahrensmangels auf das Urteil nicht ausschließen läßt. Einen solchen Einfluß kann der Senat hier nicht ausschließen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Klägerin, wie sie vorträgt, den Bericht über den Sachverhalt noch hätte ergänzen können; es genügt bereits die Erwägung, daß nicht feststeht, welche Entscheidung das LSG getroffen hätte, wenn der Sachverhalt in der Verhandlung vom 12. Oktober 1965 von einem der Richter dargestellt worden wäre.
Die Revision ist daher zulässig und begründet. Der Senat kann in der Sache selbst nicht entscheiden. Deshalb muß der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden. Dieses Gericht hat dann auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu befinden.
Fundstellen