Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
Der Verfahrensgrundsatz der Amtsermittlungspflicht ist verletzt, wenn der vom Gericht festgestellte Sachverhalt nach der von ihm vertretenen sachlich-rechtlichen Auffassung zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht ausreichte, sondern zu einer weiteren Erforschung des Sachverhalts Anlaß gab (vgl BSG 1956-06-07 1 RA 135/55 = SozR Nr 7 zu § 103 SGG; BSG 1963-02-20 12 RJ 504/62 = SozR Nr 40 zu § 103 SGG).
Normenkette
SGG § 103
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 21.01.1964) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 1964 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 21. Januar 1964, in dem die Revision nicht zugelassen ist, hat der Kläger Revision eingelegt. Als wesentliche Mängel im Verfahren des Berufungsgerichts, welche die Statthaftigkeit der Revision begründen sollen, rügt er Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Er beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist die Revision statthaft, weil der Kläger wesentliche Mängel im Verfahren des LSG rügt, die auch vorliegen (BSG 1, 150).
Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen, ohne an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Dieser Verfahrensgrundsatz ist verletzt, wenn der vom Tatsachengericht festgestellte Sachverhalt nach der von ihm vertretenen sachlich-rechtlichen Auffassung zur Entscheidung des Rechtsstreits nicht ausreichte, sondern zu einer weiteren Erforschung des Sachverhalts Anlaß gab (BSG in SozR SGG § 103 Nr. 7 und Nr. 40). Eine solche Verletzung des § 103 SGG liegt hier vor.
Das LSG hat, wie sich aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ergibt, nach seiner sachlich-rechtlichen Auffassung entscheidend darauf abgestellt, daß es für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Klägers dahingestellt sein könne, ob er auf Grund seiner langjährigen Tätigkeit als erster Walzer einem gelernten Facharbeiter gleichzustellen oder ob er zwischen einem Facharbeiter und einem angelernten Arbeiter einzustufen sei; er könne selbst als Facharbeiter auf alle die Tätigkeiten verwiesen werden, die sich von einfachsten Hilfsarbeiten abhöben; um solche herausgehobene Arbeiten handle es sich offensichtlich bei der vom Kläger seit drei Jahren verrichteten Tätigkeit in der Ausgabe des Ersatzteillagers; auf diese Tätigkeit müsse der Kläger sich auch verweisen lassen; denn nach den übereinstimmenden ärztlichen Beurteilungen sei er noch fähig, zumindest leichte körperliche Arbeiten ohne größere Hitzeeinwirkung ganztägig mit den üblichen Arbeitspausen zu verrichten, insbesondere sei er - wie er selbst zugebe - in der Lage, den ihm seit dem 15. Mai 1961 zugewiesenen Arbeitsplatz in der Ausgabe des Ersatzteillagers voll auszufüllen.
Das Berufungsgericht hat hiernach den Kläger vor allem deshalb gesundheitlich noch für fähig angesehen, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen, weil er den ihm seit fast drei Jahren zugewiesenen Arbeitsplatz voll ausfülle. Die Urteilsgründe lassen erkennen, daß das LSG hierbei von der auch vom Bundessozialgericht vertretenen Rechtsauffassung ausgegangen ist, aus dem Umstand, daß ein Versicherter durch Ausübung einer an sich zumutbaren Tätigkeit tatsächlich mindestens die Hälfte dessen verdient, was eine Vergleichsperson i. S. des § 1246 Abs. 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu erwerben in der Lage ist, sei in der Regel zu schließen, daß seine Erwerbsfähigkeit trotz Vorliegens einer Krankheit oder anderer Gebrechen nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen der Vergleichsperson gesunken ist (BSG in SozR RVO § 1246 Nr. 24). Da das LSG besonders betont hat, der Kläger gebe selbst zu, daß er in der Lage sei, den ihm seit dem 15. Mai 1961 zugewiesenen Arbeitsplatz in der Ausgabe des Ersatzlagers voll auszufüllen, hätte es den Kläger nach der von ihm vertretenen Rechtsauffassung auf diese Tätigkeit nicht verwiesen, wenn die tatsächlichen Feststellungen ergeben hätten, daß er nach seinen körperlichen Kräften in Wirklichkeit nicht fähig ist, seiner Tätigkeit in der Ausgabe des Ersatzteillagers voll nachzugehen, weil es sich bei diesem Arbeitsplatz um eine vom Regelfall abweichende, besonders günstige Arbeitsgelegenheit handelt, etwa weil der Arbeitsplatz eine ungewöhnliche, besondere Gestaltung erfahren hat und nur aus diesem Grunde von dem in seiner Erwerbsfähigkeit geminderten Kläger im wesentlichen vollwertig ausgefüllt werden kann; wenn also die Arbeitsgelegenheit auf einem besonderen Wohlwollen des Arbeitgebers beruht. In dieser Hinsicht hat aber das Berufungsgericht, wie die Revision mit Recht bemängelt, den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt.
Dafür, daß der Kläger selbst zugegeben hat, daß er den Arbeitsplatz, den er seit dem 15. Mai 1961 inne hat, voll ausfüllt, läßt sich dem Akteninhalt nichts entnehmen; insbesondere findet sich in den eigenen Angaben des Klägers bei seiner persönlichen Anhörung am 30. September 1963 dafür kein Hinweis. Gegen eine solche Annahme sprechen die Ausführungen des Klägers in seinem Schriftsatz vom 21. Oktober 1963, in dem er vorgetragen hat, daß ihm sein Lohn wohlwollend gewährt werde und daß der Betriebschef Sp dies bezeugen könne. Das Berufungsgericht hätte sich nach der von ihm vertretenen sachlich-rechtlichen Auffassung auf Grund dieses Vorbringens und des Beweisantritts des Klägers veranlaßt sehen müssen, Ermittlungen darüber anzustellen, ob er seine bisherige Tätigkeit in der Ausgabe des Ersatzteillagers nur deshalb verrichten kann, weil dieser Arbeitsplatz durch ein besonderes Entgegenkommen und das Wohlwollen des Arbeitgebers eine außergewöhnliche Gestaltung erfahren hat. Daß das Berufungsgericht den Sachverhalt in dieser Richtung nicht aufgeklärt hat, stellt einen Verstoß gegen § 103 SGG dar. Zumindest hätte das LSG sich mit dem diesbezüglichen Vorbringen des Klägers in den Urteilsgründen auseinandersetzen müssen; es hätte darüber nicht ohne weiteres hinweggehen dürfen. Die Urteilsgründe lassen deshalb auch nicht erkennen, daß das LSG seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat, so daß auch § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG verletzt ist.
Da bereits insoweit die von der Revision gerügten wesentlichen Mängel im Verfahren des LSG vorliegen, braucht nicht geprüft und entschieden zu werden, ob auch die weitere Rüge der Revision durchgreift, das LSG hätte von dem Arzt Dr. H ein Gutachten beiziehen müssen.
Die sonach zulässige Revision ist auch begründet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es den Sachverhalt in der vorstehend aufgezeigten Richtung aufgeklärt hätte. Das Revisionsgericht selbst kann in der Sache nicht entscheiden, weil der vom LSG festgestellte Sachverhalt hierzu nicht ausreicht. Das angefochtene Urteil muß deshalb mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen