Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 01.03.1968) |
SG Karlsruhe (Urteil vom 28.04.1967) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 1. März 1968, das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. April 1967 sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. Oktober 1965 und 25. Januar 1966 aufgehoben, soweit darin die Versicherungspflicht der Beigeladenen festgestellt ist.
Es wird festgestellt, daß die Beigeladene in der Beschäftigung bei der Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis 9. Januar 1966 versicherungsfrei gewesen ist.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beigeladene in ihrer Beschäftigung bei der Klägerin (Deutsche Bundespost) während der Zeit vom 1. Juli 1965 bis 9. Januar 1966 gemäß § 168 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. b der Reichsversicherungsordnung (RVO) versicherungsfrei gewesen ist.
Die Klägerin beschäftigte die Beigeladene in dieser Zeit als „Reinemachefrau” bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden und einem monatlichen Entgelt von 127,66 DM. Daneben arbeitete die Beigeladene 22 Stunden in der Woche als Zeitungsausträgerin gegen ein Entgelt von 292,90 DM monatlich.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Beschäftigung der Beigeladenen als Zeitungsausträgerin sei eine regelmäßige, die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung i. S. des § 168 Abs. 1 Nr. 1 RVO, die bei ihr ausgeübte als Raumpflegerin dagegen nur eine nach dieser Bestimmung versicherungsfreie Nebenbeschäftigung. Mit Schreiben an die beklagte Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) vom 2. September 1965 verneinte sie deshalb ihre Beitragspflicht und forderte den für Juli 1965 bereits gezahlten Beitrag (13,52 DM) zurück.
Mit Bescheid vom 22. Oktober 1965 stellte die AOK fest, daß (auch) die Beschäftigung der Beigeladenen bei der Klägerin versicherungspflichtig sei, und lehnte die von der Klägerin begehrte Beitragserstattung ab.
Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos getrieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Eine versicherungsfreie Nebenbeschäftigung i. S. des § 168 Abs. 1 Nr. 1 RVO setze eine regelmäßige, die Versicherungspflicht begründende weitere Beschäftigung voraus. Von einer solchen könne nur bei einer Beschäftigung gesprochen werden, die wegen der zeitlichen Inanspruchnahme des Beschäftigten als berufliche Tätigkeit („Hauptbeschäftigung”) anzusehen sei und nicht daneben noch eine andere berufliche Tätigkeit zulasse. In einer Großstadt, wo die Zeitungen in den frühen Morgenstunden vor Beginn der allgemeinen Arbeitszeit ausgetragen werden müßten, stehe eine wöchentlich nur 22 Stunden in Anspruch nehmende Tätigkeit dieser Art der Ausübung einer anderen beruflichen Tätigkeit nicht im Wege.
Hiergegen richtet sich die – vom LSG zugelassene – Revision der Klägerin: Da die Beigeladene in ihrer Beschäftigung als Zeitungsausträgerin der Versicherungspflicht unterliege, sei sie in der – alle Merkmale einer Nebenbeschäftigung erfüllenden – Beschäftigung bei der Klägerin versicherungsfrei. Im übrigen stelle eine Beschäftigung von mehr als 20 Stunden wöchentlich – wie die Beigeladene sie als Zeitungsausträgerin ausübe – in der Regel eine berufliche oder Hauptbeschäftigung dar, weil sie daneben eine andere hauptberufliche Tätigkeit nicht zulasse. Entgegen der Auffassung des LSG könne dabei nicht von der Tageszeit, zu der eine Person beschäftigt sei, auf die zeitliche Inanspruchnahme durch die Beschäftigung geschlossen werden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
- die Urteile des LSG Baden-Württemberg vom 1. März 1968 und des Sozialgerichts Karlsruhe vom 28. April 1967 sowie den Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 1965 i.d.F. des widerspruchsbescheides vom 25. Januar 1966 insoweit aufzuheben, als darin die Versicherungspflicht der Beigeladenen festgestellt ist,
- festzustellen, daß die Beigeladene in ihrer Beschäftigung bei der Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis 9. Januar 1966 versicherungsfrei ist.
Die beklagte AOK beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist begründet. Die Vorinstanzen haben zu Unrecht entschieden, daß die Beschäftigung der Beigeladenen bei der Klägerin während des streitigen Zeitraums keine nach § 168 Abs. 1 RVO versicherungsfreie Nebenbeschäftigung gewesen ist.
Der Beginn des streitigen Zeitraums fällt auf den 1. Juli 1965. Die Beurteilung der Frage, ob die Beschäftigung der Beigeladenen bei der Klägerin als Nebenbeschäftigung versicherungsfrei gewesen ist, richtet sich deshalb nach § 168 Abs. 1 bis 3 RVO in der seit 1. Juli 1965 geltenden Fassung des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476; Art. 1 § 1 Nr. 1 i.V.m. Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchst. e des Gesetzes), durch die die Versicherungsfreiheit wegen Nebenbeschäftigung und Nebentätigkeit in der Krankenversicherung grundsätzlich an das für die gesetzlichen Rentenversicherungen maßgebende Recht angeglichen worden ist (vgl. Deutscher Bundestag, 4. Wahlperiode, zu Drucksache IV/3233, Schriftlicher Bericht S. 1).
Nach der – hier allein in Betracht zu ziehenden – Bestimmung des § 168 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF ist versicherungsfrei, wer neben einer regelmäßigen, die Versicherungspflicht begründenden Beschäftigung eine Nebenbeschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber oder eine Nebentätigkeit ausübt, in der Nebenbeschäftigung oder in der Nebentätigkeit. Unter welcher besonderen Voraussetzung eine Beschäftigung oder Tätigkeit eine Nebenbeschäftigung oder Nebentätigkeit darstellt, regelt § 168 Abs. 2 RVO nF. Danach gilt u. a. eine laufend oder in regelmäßiger Wiederkehr ausgeübte Beschäftigung oder Tätigkeit als Nebenbeschäftigung oder Nebentätigkeit, wenn der dadurch erzielte Entgelt oder das Arbeitseinkommen durchschnittlich im Monat ein Achtel der für Monatsbezüge in der Rentenversicherung der Arbeiter geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs. 2 RVO) oder bei höherem Entgelt oder Arbeitseinkommen ein Fünftel des Gesamteinkommens nicht überschreitet (§ 168 Abs. 2 Buchst. b RVO).
In ihrer Beschäftigung als Zeitungsausträgerin war die Beigeladene versicherungspflichtig, da diese Tätigkeit, die sie 22 Stunden in der Woche verrichtete und bei der sie ein Entgelt von 292,90 DM monatlich erzielte, eine die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung darstellt. Wie der Senat in seinen Urteilen vom 16. Februar 1961 (BSG 14, 29, 38) ausgeführt hat, liegt eine Nebenbeschäftigung regelmäßig nur dann vor, wenn sie den Beschäftigten jedenfalls nicht mehr als etwa 20 Stunden wöchentlich in Anspruch nimmt. Die Beschäftigung der Beigeladenen als Zeitungsausträgerin überschritt diese zeitliche Grenze, so daß sie als regelmäßige, die Versicherungspflicht begründende Beschäftigung im Sinne des § 168 Abs. 1 Nr. 1 RVO anzusehen ist. Das Gesetz verlangt nicht, daß diese Beschäftigung eine Vollbeschäftigung ist; es genügt vielmehr, daß sie versicherungspflichtig ist.
Die weitere Beschäftigung der Beigeladenen bei der Klägerin erfüllte die Voraussetzungen des Begriffs der Nebenbeschäftigung im Sinne des § 168 Abs. 2 Buchst. b RVO. Ihr monatliches Entgelt in Höhe von 127,66 DM erreichte nicht durchschnittlich im Monat ein Achtel der für Monatsbezüge in der Rentenversicherung der Arbeiter geltenden Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs. 2 RVO). Diese betrug für das Jahr 1965 1.200 DM monatlich und für das Jahr 1966 1.300 DM monatlich. Die Beigeladene war daher in ihrer Beschäftigung bei der Klägerin nach § 168 Abs. 2 Buchst. b RVO versicherungsfrei. Ob das Verhältnis von Haupt- zu Nebenbeschäftigung einen „deutlichen, ins Gewicht fallenden Abstand” (Jünemann, Die Beiträge 1965, 293, 296) beider Beschäftigungen voneinander voraussetzt, kann unentschieden bleiben. Sollte ein solcher Abstand zu fordern sein, hätte er hier jedenfalls vorgelegen, da Arbeitszeit und Entgelt der Beschäftigung als Raumpflegerin nicht einmal die Hälfte der Arbeitszeit und des Entgelts der Beschäftigung als Zeitungsausträgerin erreicht haben (vgl. § 168 Abs. 3 Satz 2 RVO aF).
Nach alledem war festzustellen, daß die Beigeladene in der Beschäftigung bei der Klägerin für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis 9. Januar 1966 Versicherungsfrei gewesen ist. Die entgegenstehenden Urteile des LSG und des Sozialgerichts sowie die Bescheide der Beklagten vom 22. Oktober 1965 und 25. Januar 1966 waren daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen