Leitsatz (amtlich)
1. RKG § 45 Abs 1 Nr 2 ist in der bis 1968-01-01 gültig gewesenen Fassung auch für die Zeit danach anzuwenden, wenn die materiellen Anspruchsvoraussetzungen vorher erfüllt waren und nur der Rentenantrag später gestellt wurde.
2. Eine Dienstzeit im öffentlichen Dienst gilt solange nicht als fiktive Nachversicherungszeit, wie die zuständige Verwaltungsstelle nicht die dienstrechtlichen Voraussetzungen durch Verwaltungsakt festgestellt hat.
Normenkette
RKG § 45 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1957-05-21, § 49 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21, § 50 Fassung: 1965-06-09; AKG § 99 Abs. 1 Fassung: 1957-11-05, Abs. 9 Fassung: 1957-11-05
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 23. Januar 1975 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für die Revisionsinstanz zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger die Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) zusteht, insbesondere ob die Wartezeit erfüllt ist.
Der am 26. Mai 1917 geborene Kläger leistete nach bestandener Reifeprüfung vom 1. April bis zum 30. September 1936 Arbeitsdienst, vom 1. Oktober 1936 bis zum 30. September 1938 aktiven Wehrdienst und - nachdem er als für ein drittes Jahr freiwillig längerdienender Reserveoffiziersanwärter wegen des Kriegsbeginns nicht entlassen wurde - weiterhin Kriegsdienst. Er wurde am 21. Juli 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Der Kläger ist seit August 1945 im Bergbau tätig, und zwar seit 1963 als Grubeninspektor. Bis zur Vollendung des 50. Lebensjahres hatte er 258 Beitragsmonate in der knappschaftlichen Rentenversicherung zurückgelegt und mehr als 180 Monate der Hauerarbeit gleichgestellte Arbeiten verrichtet.
Das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen lehnte mit Bescheid vom 21. März 1969 den Antrag des Klägers auf Erteilung einer Bescheinigung über das Vorliegen der Voraussetzungen für die Nachversicherung nach § 72 des Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 des Grundgesetzes (GG) fallenden Personen (G 131) in der Fassung vom 13. Oktober 1965 (BGBl I, 1685) ab. Gleichzeitig bescheinigte es jedoch, daß der Kläger zu dem Personenkreis des § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) vom 5. November 1957 (BGBl I 1747) gehört und die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945 für die Nachversicherung nach diesem Gesetz in Betracht kommt. Diese Bescheinigung wurde auf den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 3. Juni 1969 aufgehoben und für ungültig erklärt, weil ein entsprechender Antrag nicht gestellt worden sei.
Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), die die genannte Zeit in ihrer Beitragsübersicht vom 16. Juni 1969 als Nachversicherungszeit in der Angestelltenversicherung ausgewiesen hatte, teilte der Beklagte am 16. Oktober 1969 mit, die Beitragsübersicht sei gegenstandslos; Beiträge zur Angestelltenversicherung seien nicht nachgewiesen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 17. Februar 1970 den Antrag des Klägers vom 28. Februar 1968 auf Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG ab, weil die Wartezeit von 300 Beitragsmonaten in der knappschaftlichen Rentenversicherung nicht erfüllt sei. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 23. Februar 1971 den Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 1970 in der Fassung des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Bergmannsrente nach § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG für die Zeit vom 1. März 1968 an zu gewähren. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 23. Januar 1975 zurückgewiesen. Es hat angenommen, die Wartezeit sei erfüllt. Zu den 258 Beitragsmonaten komme die Kriegsdienstzeit, die als Ersatzzeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung anzurechnen sei. Dem stehe die Möglichkeit der fiktiven Nachversicherung in der Angestelltenversicherung nach § 99 Abs. 1 AKG für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945 nicht entgegen. Abgesehen davon, daß die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG zweifelhaft seien, sei eine solche Nachversicherung nicht durchgeführt worden und könne daher die in Frage kommenden Ersatzzeiten nicht verdrängen. Eine Feststellung der fiktiven Nachversicherung nach § 99 Abs. 9 AKG, die konstitutiven Charakter habe, sei nicht getroffen worden. Im übrigen habe der Kläger auch wirksam auf den Anteil aus der Angestelltenversicherung verzichtet, so daß er so zu behandeln sei, als seien keine Beiträge in der Angestelltenversicherung vorhanden.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, eine Ersatzzeit in der knappschaftlichen Rentenversicherung komme nicht in Betracht, weil für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945 eine fiktive Nachversicherung in der Angestelltenversicherung bestehe. Da die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG vorlägen und ein Antrag nicht erforderlich sei, gelte der Kläger kraft Gesetzes als in der Angestelltenversicherung nachversichert. Für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 30. September 1939, während der der Kläger nicht aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges Militärdienst geleistet habe, könne er auf die Nachversicherung nicht verzichten, da hier ein echter Tatbestand für die Nachversicherung vorliege. Da diese Nachversicherung in der Angestelltenversicherung durchgeführt werde, müßten auch die Zeiten von April 1936 bis September 1938 und von September 1939 bis zum 21. Juli 1945 der Angestelltenversicherung zugerechnet werden, selbst wenn diese Zeiten als Ersatzzeiten bewertet würden.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 23. Februar 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis und in der Begründung für richtig und ist der Ansicht, die Revision der Beklagten sei unbegründet. Zusätzlich trägt er noch vor, er erfülle die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG nicht, denn er sei nicht vor dem 8. Mai 1945 aus dem öffentlichen Dienst ausgeschieden und gehöre auch nicht zu dem Personenkreis des § 1242 b der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF.
Das beigeladene Land Nordrhein-Westfalen, das in der Berufungsinstanz vorgetragen hatte, eine Nachversicherung sei für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945 möglich, hat sich in der Revisionsinstanz nicht weiter geäußert. Die beigeladene BfA, die keinen Antrag gestellt hat, teilt den Rechtsstandpunkt der Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage stattgebende Urteil des SG zurückgewiesen. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Bergmannsrente.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG in der bis zum 1. Januar 1968 gültig gewesenen Fassung (aF) anzuwenden ist, so daß die Verrichtung einer gleichwertigen Arbeit unschädlich ist. Der Kläger hat zwar den Rentenantrag nach dem 1. Januar 1968 und damit nach Inkrafttreten der Neufassung durch das Finanzänderungsgesetz 1967 gestellt, so daß auch nur der Anspruch auf Bergmannsrente für die Zeit danach Gegenstand des Verfahrens ist. Gleichwohl richtet sich der Anspruch nach dem bis zum 1. Januar 1968 gültig gewesenen Recht, da sämtliche materiellen Anspruchsvoraussetzungen bereits vor Inkrafttreten des Finanzänderungsgesetzes 1967 erfüllt waren. Das Finanzänderungsgesetz 1967 enthält für die Neufassung des § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG keine Übergangsvorschrift und läßt auch sonst nicht erkennen, daß es sich auf Fälle erstrecken will, bei denen die materiellen Anspruchsvoraussetzungen bereits vor dem 1. Januar 1968 erfüllt waren. Der Rentenantrag, den der Kläger nach dem 1. Januar 1968 gestellt hat, gehörte jedenfalls bis zum Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes (RRG) am 1. Januar 1973 nicht zu den materiellen Anspruchsvoraussetzungen für die Bergmannsrente, wie insbesondere § 82 RKG erkennen läßt, der zwischen den Voraussetzungen der Rente und dem Antrag unterscheidet. Ist danach aber § 45 Abs. 1 Nr. 2 RKG in der bis zum 1. Januar 1968 gültig gewesenen Fassung anzuwenden, so ist es für den geltend gemachten Anspruch auf Bergmannsrente unschädlich, daß der Kläger noch eine wirtschaftlich gleichwertige Arbeit verrichtet.
Der Kläger hat auch die Wartezeit des § 49 Abs. 2 RKG erfüllt. Insbesondere hat er eine Versicherungszeit von 300 Kalendermonaten in der knappschaftlichen Rentenversicherung zurückgelegt. Zu den 258 Beitragsmonaten kommt nach § 50 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a RKG in Verbindung mit § 51 Abs. 1 Nr. 1 RKG die Zeit vom 1. April 1936 bis zum 30. September 1938 sowie vom 1. September 1939 bis zum 21. Juli 1945 als Ersatzzeit. Ob auch die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 31. August 1939 als Ersatzzeit anzurechnen ist, kann dahingestellt bleiben. Der Anrechnung der Ersatzzeit steht nicht entgegen, daß für die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 8. Mai 1945 möglicherweise die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG für eine fiktive Nachversicherung vorliegen. Zwar gilt sowohl nach § 50 Abs. 3 RKG als auch nach § 99 Abs. 9 AKG in Verbindung mit § 72 Abs. 10 G 131 eine Kriegsdienstzeit nicht als Ersatzzeit, wenn für den gleichen Zeitraum die Nachversicherung als durchgeführt gilt. Im vorliegenden Fall gilt die Zeit des Militärdienstes aber nicht als Beitragszeit in der Angestelltenversicherung aufgrund fiktiver Nachversicherung, selbst wenn die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG vorliegen sollten. Nach § 99 Abs. 9 AKG hat die Feststellung nach Abs. 1 aaO die Stelle zu treffen, die nach dem G 131 zuständig sein würde, wenn das Dienstverhältnis bis zum 8. Mai 1945 fortgesetzt worden wäre. Die danach erforderliche Feststellung liegt im vorliegenden Fall nicht vor. Zwar war sie mit dem Bescheid des Landesamts für Besoldung und Versorgung vom 21. März 1969 getroffen worden. Sie ist aber auf den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 3. Juni 1969 aufgehoben und für ungültig erklärt worden. Sie ist daher als nicht vorhanden anzusehen, da der Aufhebungsbescheid bindend geworden ist. Da allein die in § 99 Abs. 9 AKG genannte Stelle für die Feststellung zuständig ist, ob die Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 AKG vorliegen, können diese Voraussetzungen - auch nicht als Vorfrage im Rahmen eines anderen Rechtsverhältnisses - von einer anderen Stelle oder von einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit festgestellt werden. Mit der Durchführung der fiktiven Nachversicherung sind sowohl Versorgungsdienststellen als auch die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung befaßt. Über die dienstrechtlichen Vorfragen haben nicht die Träger der Sozialversicherung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden, sondern - für diese bindend - die obersten Bundes- und Landesbehörden. Die nach § 99 Abs. 9 AKG erforderliche Feststellung ist ein Verwaltungsakt, der nur im Verfahren vor den allgemeinen Verwaltungsgerichten nachgeprüft werden kann (vgl. BSG 11, 63, 65 ff). Dem erkennenden Senat ist die Prüfung verwehrt, ob das Landesamt für Besoldung und Versorgung die mit Bescheid vom 21. März 1969 getroffene Feststellung zu Recht oder zu Unrecht aufgehoben hat. Da der Aufhebungsbescheid verbindlich geworden ist, muß davon ausgegangen werden, daß ein Feststellungsbescheid im Sinne des § 99 Abs. 9 AKG nicht vorliegt. Ein solcher Feststellungsbescheid kann auch nicht in dem beim LSG eingereichten Schriftsatz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 6. September 1974 gesehen werden. Die Feststellung nach § 99 Abs. 9 AKG hat konstitutiven Charakter. Das bedeutet, daß die Nachversicherung so lange nicht als durchgeführt gilt, wie die Feststellung nach § 99 Abs. 9 AKG nicht getroffen worden ist.
Der Senat hat zwar erwogen, das Verfahren nach § 114 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auszusetzen, weil die Entscheidung des Rechtsstreits vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Die Aussetzung des Verfahrens, die nach § 114 Abs. 2 SGG im Ermessen des Gerichts steht, erschien dem Senat aber untunlich, weil sowohl das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein-Westfalen als auch der Finanzminister des Landes Nordrhein-Westfalen zu erkennen gegeben haben, daß sie eine solche Feststellung nur auf Antrag des Klägers treffen würden.
Das Fehlen der erforderlichen Feststellung kann nicht dem Kläger angelastet werden. Entgegen der Ansicht der Beklagten kann in der unterlassenen Antragstellung durch den Kläger nicht ein Rechtsmißbrauch gesehen werden. Zwar spricht vieles für die Ansicht der Beklagten, daß ein Versicherter nicht durch Verzicht auf eine Beitragszeit die Zuordnung einer bestimmten Zeit als Ersatzzeit zu einem bestimmten Versicherungszweig erreichen kann. Von einem Verzicht auf eine Beitragszeit kann im vorliegenden Fall jedoch nicht die Rede sein, denn die Zeit vom 1. Oktober 1938 bis zum 31. Mai 1945 könnte erst dann als Beitragszeit gelten, wenn die Feststellung der dienstrechtlichen Voraussetzungen nach § 99 Abs. 1 und 9 AKG getroffen worden wäre. Ein Versicherter, der einen gesetzlich vorgesehenen Antrag nicht stellt, handelt aber nicht mißbräuchlich. Wenn ein Antrag gesetzlich Voraussetzung für ein Verwaltungshandeln ist, so ist es ja gerade der Sinn einer solchen Regelung, es dem Ermessen des Betroffenen zu überlassen, ob er einen Antrag stellen oder nicht stellen will. Hier kommt hinzu, daß der Kläger berechtigte Zweifel daran hat, ob er überhaupt zu dem in § 99 Abs. 1 AKG genannten Personenkreis gehört.
Liegt eine fiktive Nachversicherungszeit aber nicht vor, so steht sie der Anrechnung der Zeiten des Arbeits-, Wehr- und Kriegsdienstes als Ersatzzeit nicht entgegen. Mangels einer Vorversicherungszeit muß die Ersatzzeit nach § 50 Abs. 3 Satz 2 Buchst. a RKG der knappschaftlichen Rentenversicherung zugerechnet werden, weil der Kläger innerhalb der in dieser Vorschrift genannten Frist eine knappschaftlich versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat.
Da der Kläger auch die übrigen Voraussetzungen des § 45 Abs. 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 49 Abs. 2 RKG erfüllt, steht ihm nach § 82 Abs. 2 RKG für die Zeit vom 1. März 1968 an die Bergmannsrente zu, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen