Entscheidungsstichwort (Thema)
Lösung von der versicherten Tätigkeit durch Unterbrechungen des Heimweges. Besorgungen während des Heimweges. Straßenbreite als Maßstab der Geringfügigkeit eines Abstechers. Abstecher
Leitsatz (amtlich)
1. Unterbrechungen des Weges von dem Ort der versicherten Tätigkeit (RVO § 550 Abs 1), die insgesamt 2 Stunden nicht überschreiten, schließen den Versicherungsschutz für den Rest des Heimweges nicht aus; insoweit kommt es auf die Gründe der Unterbrechung nicht an (Anschluß an BSG 1976-04-28 2 RU 147/75 = Breith 1976, 918-920).
2. Auf einem - räumlich und zeitlich geringfügigen - Abstecher von dem Heimweg bleibt der Versicherungsschutz auch dann erhalten, wenn der Abstecher über das Ziel des Weges (Wohnung) hinausführt; das gilt jedenfalls, solange der Versicherte sich im öffentlichen Straßenbereich befindet.
3. Zur Abgrenzung eines geringfügigen Abstechers.
Leitsatz (redaktionell)
Ein geringfügiger Abstecher liegt solange vor, als das Ziel des Weges sich noch innerhalb des - der Breite der Straße entsprechenden und auf den öffentlichen Straßenbereich beschränkten - Radius befindet, sofern auch die zeitlichen Grenzen der Geringfügigkeit eingehalten sind. Dies wird bei kurzen Besorgungen in der Regel zutreffen.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1974-01-01
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. September 1975 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Kläger sind die Witwe und die Kinder des am 28. Oktober 1971 tödlich verunglückten griechischen Gastarbeiters S W (W.). Dieser war in einer Färberei in Wuppertal-Barmen als Hilfsarbeiter beschäftigt und wohnte in derselben Straße, in der der Betrieb lag (Friedrich-Engels-Allee), etwa 500 m von seiner Arbeitsstätte entfernt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nach der zuletzt gegebenen Darstellung der Kläger, von der das Landessozialgericht (LSG) bei seiner Entscheidung ausgegangen ist, verließ er an dem genannten Tag den Betrieb gegen 17.25 Uhr und nahm in einer Gaststätte (M), die ebenfalls in der Friedrich-Engels-Allee lag, und zwar auf der Seite des Betriebs zwischen diesem und der Wohnung, das Abendessen ein. Nach etwa einer halben Stunde setzte er den Weg auf derselben Straßenseite fort, ging aber, nachdem er die Höhe seines Wohnhauses erreicht hatte, nicht in dieses hinüber, sondern weiter zu einem neben einer Imbißstube gelegenen Zeitungsstand, wo er eine Zeitung kaufte. Darauf betrat er die Imbißstube (B) auf Veranlassung ihres Inhabers, um einen für ihn aus Griechenland eingetroffenen Brief abzuholen. Nach kurzem Aufenthalt machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung; beim Überqueren der Friedrich-Engels-Allee wurde er gegen 18.10 Uhr von einem Auto erfaßt und starb an den erlittenen Verletzungen wenig später.
Die Beklagte hat Entschädigungsansprüche der Kläger abgelehnt, nachdem ein Wohnungsgenosse des Verunglückten zunächst ausgesagt hatte, dieser sei vor dem Besuch der Imbißstube schon in der Wohnung gewesen (Bescheid vom 27. Juni 1972).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, weil wegen der widersprüchlichen Zeugenaussagen nicht mehr geklärt werden könne, ob W. auf dem Heimweg von der Arbeit verunglückt sei (Urteil vom 7. August 1973). Das LSG hat die Berufung der Kläger z. T. verworfen und im übrigen zurückgewiesen und ausgeführt: W. habe jedenfalls mit dem aus privaten Gründen unternommenen Abstecher zum Zeitungsstand und zur Imbißstube endgültig die Beziehung zum versicherten Heimweg gelöst und deshalb im Unfallzeitpunkt nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden; dabei sei es unerheblich, wie lange er sich in der Imbißstube aufgehalten habe, wie weit diese von seiner Wohnung entfernt gewesen sei, auf welchem Wege er zu seiner Wohnung habe zurückkehren wollen und an welcher Stelle er von dem Auto angefahren worden sei. Im übrigen sei nach den beigezogenen Unterlagen nicht mehr sicher feststellbar, wo sich der Unfall ereignet habe und ob W. im Unfallzeitpunkt wieder einen Punkt erreicht gehabt habe, den er auch auf seinem betrieblich bedingten Heimweg begangen hätte (Urteil vom 18. September 1975).
Die Kläger haben die vom Senat zugelassene Revision eingelegt, mit der sie vor allem geltend machen, der Verunglückte habe sich nach den gesamten Umständen des Falles im Zeitpunkt des Unfalles noch auf dem versicherten Heimweg befunden. Eine Unterbrechung des Weges durch den Abstecher zum Zeitungsstand und zur Imbißstube sei spätestens mit dem Betreten der Fahrbahn der Friedrich-Engels-Allee beendet gewesen, da W. die Fahrbahn mindestens gegenüber seinem Wohnhaus, wenn nicht sogar weiter westlich (d.h. in Richtung des Betriebes), betreten habe. Bei Ausschöpfung aller Aufklärungsmöglichkeiten und richtiger Würdigung der vorliegenden Beweise hätte das LSG auch die genaue Unfallstelle feststellen können.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und die Beklagte zur Gewährung von Hinterbliebenenrenten zu verurteilen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Ihrer Ansicht nach hat sich W. im Unfallzeitpunkt nicht mehr auf dem Heimweg von der Arbeit, sondern auf dem Rückweg von privaten Verrichtungen befunden.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Kläger hat Erfolg. Das angefochtene Urteil kann mit der vom LSG gegebenen Begründung nicht aufrechterhalten werden.
Nach § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF vom 1. April 1974 - dieser Vorschrift entsprach zur Zeit des hier streitigen Unfalls Satz 1 des § 550 RVO - gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Das LSG hat die Voraussetzungen dieser Vorschrift im vorliegenden Fall nicht für erfüllt gehalten, weil der Ehemann und Vater der Kläger sich zur Zeit des Unfalls nicht mehr auf dem Weg von dem Ort seiner beruflichen Tätigkeit befunden, sondern diesen Weg - wenn nicht schon mit dem Besuch der Gaststätte M - jedenfalls mit dem Abstecher zum Zeitungsstand und zur Imbißstube B beendet und sich einer dem privaten Lebensbereich zuzurechnenden Tätigkeit zugewandt habe. Dem kann der Senat nicht folgen.
Der Besuch der Gaststätte M diente allerdings einem persönlichen Zweck (Einnahme des Abendessens) und unterbrach, da er immerhin etwa eine halbe Stunde dauerte, den Heimweg und damit den Versicherungsschutz. Mit dem Verlassen der Gaststätte und der Fortsetzung des Heimweges lebte der Versicherungsschutz jedoch wieder auf. Ob der Abstecher zum Zeitungsstand und zur danebenliegenden Imbißstube den Heimweg nochmals unterbrach, kann zunächst dahinstehen. Endgültig gelöst wurde dadurch jedenfalls der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nicht.
Nach der neueren, an frühere Entscheidungen anknüpfenden Rechtsprechung des 2. Senats des BSG (Urteil vom 28. April 1976, 2 RU 147/75) steht ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der versicherten Tätigkeit bis zu 2 Stunden durch eine privaten Zwecken dienende Verrichtung unterbricht, auf dem anschließenden restlichen Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO; ein solcher Versicherter hat sich also trotz der Unterbrechung des Heimweges noch nicht endgültig von seiner versicherten Tätigkeit gelöst. Der erkennende Senat tritt dieser Auffassung auch für den Fall bei, daß der Heimweg mehrmals unterbrochen wird, die Unterbrechungen aber insgesamt 2 Stunden nicht überschreiten (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., 33. Nachtrag - Juni 1970, S 486 y). Diese zeitliche Abgrenzung wird einerseits den unterschiedlichen Fallgestaltungen, mit denen die Rechtsprechung bisher befaßt worden ist, in ausreichendem Maße gerecht; sie ermöglicht andererseits eine klare Entscheidung über das Bestehen von Versicherungsschutz, ohne daß jeweils geprüft zu werden braucht, welche Motive der Unterbrechung zugrundeliegen. Im Interesse der Rechtssicherheit müssen dabei gewisse Nachteile in Kauf genommen werden, die mit einer generalisierenden, von den besonderen Umständen des Einzelfalles abstrahierenden Betrachtungsweise verbunden sind. Da der Unfall, dem der Ehemann und Vater der Kläger zum Opfer gefallen ist, sich bereits gegen 18.10 Uhr, also weniger als 1 Stunde nach dem Verlassen der Arbeitsstätte gegen 17.25 Uhr, ereignet hat, war zu dieser Zeit - unabhängig von der Art der vom Verunglückten in den Heimweg eingeschobenen privaten Verrichtungen - eine endgültige "Lösung" von der versicherten Tätigkeit noch nicht erfolgt.
Ob der Verunglückte aus anderen Gründen im Unfallzeitpunkt nicht unter Versicherungsschutz stand, insbesondere weil der Unfall während einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes eintrat, ist nach den Feststellungen des LSG nicht abschließend zu beurteilen. Wenn W., als er auf dem Rückweg von der Imbißstube die Fahrbahn der Friedrich-Engels-Allee in Richtung seiner Wohnung zu überqueren versuchte, bereits wieder an eine Stelle gelangt war, die er auch ohne den Abstecher zum Zeitungsstand und zur Imbißstube passiert hätte, so käme es nicht darauf an, ob und wie lange der Versicherungsschutz durch jenen Abstecher unterbrochen worden ist; denn mit der Rückkehr auf den üblichen Heimweg zwischen Betrieb und Wohnung wäre die Unterbrechung in jedem Fall beendet gewesen. Eine Rückkehr in diesem Sinne wäre dabei aus Gründen der Praktikabilität schon dann zu bejahen, wenn W. die Fahrbahn gegenüber seinem Wohnhaus, wenn auch nicht genau gegenüber der Eingangstür, zu überqueren versucht hätte.
Sollte W. dagegen, bevor er die Fahrbahn betrat, die Friedrich-Engels-Allee nicht bis zur Höhe seines Wohnhauses zurückgegangen sein, dann hätte er den Unfall möglicherweise während einer rechtlich erheblichen Unterbrechung des Versicherungsschutzes erlitten. Ob eine - privaten Zwecken dienende - Unterbrechung des versicherten Heimweges rechtlich erheblich ist oder als geringfügig rechtlich unberücksichtigt bleibt, hängt in erster Linie von dem räumlichen und zeitlichen Umfang der Unterbrechung ab. Dabei hat die Rechtsprechung auch in Fällen, in denen ein Versicherter die Straße überquert hatte, um auf der anderen Seite Waren aus einem Automaten oder einem Ladengeschäft zu kaufen, noch eine geringfügige Unterbrechung angenommen und Versicherungsschutz jedenfalls für Unfälle bejaht, die sich innerhalb des öffentlichen Straßenbereichs ereignet hatten (vgl. SozR RVO § 543 aF Nr. 28: Besorgung von Zigaretten aus einem gegenüberliegenden Automaten; BSGE 20, 219: Aufsuchen eines auf der anderen Straßenseite gelegenen Konfitürengeschäftes vom parkenden Auto aus; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1976, 8 RU 2/76: Kauf eines Uhrenarmbandes in einem der Arbeitsstätte gegenüberliegenden Geschäft vor Antritt des Heimweges). In allen diesen Fällen hatten sich die Versicherten zur Unfallzeit nicht in Richtung auf ihr eigentliches Ziel (Arbeitsstätte, Wohnung) bewegt, jedoch den Straßenraum noch nicht verlassen oder schon wieder erreicht. Andererseits waren sie - im Gegensatz zur Gestaltung des vorliegenden Falles - nicht schon über ihr Ziel hinausgegangen. Diesen Umstand hält der Senat indessen nicht für entscheidend. Wäre zB in dem erwähnten Fall der Besorgung von Zigaretten aus einem Automaten dieser nicht gerade gegenüber dem Eingang zur Arbeitsstätte, sondern auf derselben Straßenseite einige Meter neben dem Betriebstor angebracht gewesen, dann hätte es für den Versicherungsschutz schwerlich einen Unterschied machen können, ob der Automat von den aus der einen Richtung oder aus der anderen zur Arbeitsstätte kommenden Beschäftigten aufgesucht worden wäre; selbst die aus der entgegengesetzten Richtung kommenden Arbeiter hätten, um den Automaten zu erreichen, nicht die Straße zu überqueren, sondern nur wenige Schritte über das Betriebstor hinaus zu gehen brauchen. Als räumliche Grenze einer geringfügigen und damit für den Versicherungsschutz unschädlichen Unterbrechung des versicherten Weges sieht der Senat dabei die Breite der Straße an, die der Versicherte sonst, dh bei einer Besorgung auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hätte überqueren müssen. Solange das Ziel des Weges sich noch innerhalb dieses - der Breite der Straße entsprechenden und auf den öffentlichen Straßenbereich beschränkten-Radius befindet, besteht Versicherungsschutz, sofern auch die zeitlichen Grenzen der Geringfügigkeit eingehalten sind (was bei kurzen Besorgungen, wie im vorliegenden Fall, in der Regel zutreffen wird).
Auch W. wäre hiernach auf dem Wege zum Zeitungsstand, der ihn - auf der bisher von ihm benutzten Straßenseite - über die Grenze des gegenüberliegenden Wohnhauses hinausführte, noch versichert gewesen, wenn dieser Weg nicht weiter gewesen wäre als der über die Fahrbahn zum Wohnhaus. Entsprechendes gilt für die Imbißstube und für den Rückweg von dem Abstecher dorthin. Dabei kann die Frage, ob W. auch während des kurzen Aufenthalts in der Imbißstube versichert war, hier offen bleiben, weil sich der Unfall nicht während dieser Zeit ereignet hat. Sollte der Zeitungsstand und/oder die Imbißstube dagegen weiter entfernt gewesen sein und W. bei der Rückkehr von seinem Abstecher auch die Höhe seines Wohnhauses noch nicht wieder erreicht haben, dann hätte er den Unfall während einer Unterbrechung des Versicherungsschutzes erlitten. Ob das eine oder das andere der Fall ist, wird das LSG unter Heranziehung aller geeigneten und erreichbaren Beweismittel versuchen müssen aufzuklären. Erst wenn sich die Unfallstelle trotz Erschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten nicht hinreichend sicher feststellen läßt, wird es auf die Frage der Beweislast ankommen, die für die anspruchsbegründenden Tatsachen, zu denen auch der ursächliche Zusammenhang zwischen betrieblicher Tätigkeit und Unfall gehört, allerdings die Kläger tragen.
Zur Nachholung der entsprechenden Feststellungen und abschließenden Entscheidung hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.
Fundstellen