Leitsatz (amtlich)
Die Rückwirkungsvorschrift des § 6 Abs 1 BKVO idF vom 31.10.1997 (BGBl I 2623) schließt auch aus, für vor dem vorgeschriebenen Rückwirkungszeitraum eingetretene Versicherungsfälle noch eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO zuzusprechen (Bestätigung von BSG vom 25.8.1994 – 2 RU 42/93 = BSGE 75, 51 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6).
Stand: 05. Juni 2000
Beteiligte
Textil- und Bekleidungs-Berufsgenossenschaft |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. September 1998 und das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 23. Oktober 1996 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob die bei der Klägerin bestehende Enzephalopathie in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms als oder wie eine Berufskrankheit (BK) nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 vH zu entschädigen ist.
Die im Jahre 1952 geborene Klägerin war von Januar 1972 bis Februar 1973 in der Textilstanzerei und Näherei und vom Jahre 1983 bis Mai 1988 in der Gummistiefelproduktion der Firma L. & Co KG beschäftigt, zuletzt in deren Werk in T. Dort hatte sie Umgang mit organischen Lösemittelgemischen, vor allem mit Benzin 80/110, und zwar praktisch den gesamten Arbeitstag. Neben Verpackungsarbeiten, die weniger als 10% der Arbeitszeit in Anspruch nahmen, mußte die Klägerin die meisten Schuhe mit Lösemitteln abwaschen. Dabei wurden oft mehr als zehn Liter Benzin am Tag verbraucht. Die Lösungsmittel befanden sich in Dosen, in die die Klägerin mit einem Lappen hineingreifen mußte. Eine Absaugung war am Arbeitsplatz der Klägerin nicht vorhanden. Am Anfang ihrer Tätigkeit hatte die Klägerin keine Handschuhe. Vor einer Schadstoffmessung durch die Beklagte bei der Firma L. wurde dort der Nitroverdünner entfernt. Die von der Beklagten und dem Gewerbeaufsichtsamt durchgeführten Messungen ergaben keine Erhöhung der zulässigen Schadstoffwerte. Die Meßergebnisse entsprachen nicht den üblichen Gegebenheiten in der Firma L. im Zeitraum der Beschäftigung der Klägerin.
Im September 1988 erstattete der Nervenarzt Dr. Bi. eine BK-Anzeige, in der er eine psychoorganische Leistungsminderung der Klägerin auf berufliche Lösungsmitteleinwirkungen zurückführte. Der Technische Aufsichtsdienst (TAD) der Beklagten vermerkte im Dezember 1988, daß die Klägerin in der Zeit von 1983 bis 1988 neben Näharbeiten, Bandkontrolle und auch Bandbedienung gelegentlich PU-Sohlen mit Benzin 80/110 habe abwaschen müssen, und zwar bis zu ihrer Versetzung in die Näherei des Werkes G. der Firma L. am 15. September 1988. In seinem auf Veranlassung der Beklagten erstatteten Gutachten stellte der Nervenarzt Prof. Dr. Sch. ein leichtes hirnorganisches Psychosyndrom mit Wesensveränderung fest, das eine MdE um 30 vH hervorrufe. Der Arbeitsmediziner Prof. Dr. Bu. vertrat die Auffassung, daß das hirnorganische Psychosyndrom der Klägerin als Quasi-BK mit einer MdE um 30 vH anzuerkennen sei, wenn man die tatsächlichen Angaben der Klägerin bezüglich ihres Umgangs mit Benzin, Aceton und Nitroverdünnern mit mindestens sieben Stunden pro Arbeitstag zugrunde lege. Der Staatliche Gewerbearzt Dr. St. vertrat demgegenüber die gegenteilige Auffassung, ua weil keine gravierende Lösungsmittelexposition nachgewiesen sei. Darauf gestützt lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. April 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 10. Februar 1994 Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung ab.
Das Sozialgericht (SG) Trier hat ein arbeits- und sozialmedizinisches Gutachten von Prof. Dr. K. eingeholt. Dieser ist im April 1996 zu dem Ergebnis gelangt, daß unter der Voraussetzung von mehr als halbschichtigen bis fast vollschichtigen schädigenden Einwirkungen durch Lösemittel, vornehmlich Benzin, in den Jahren 1983 bis 1988 für diesen Zeitraum eine hohe, potentiell gesundheitsschädliche Exposition gegenüber einem neurotoxischen Lösungsmittelgemisch anzunehmen sei. Hiervon ausgehend sei das leichte hirnorganische Psychosyndrom der Klägerin als Quasi-BK mit einer MdE um 30 vH zu entschädigen. Das SG hat ferner Zeugenbeweis über die Verhältnisse am Arbeitsplatz der Klägerin erhoben und durch Urteil vom 23. Oktober 1996 die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, bei der Klägerin ein hirnorganisches Psychosyndrom als BK nach § 551 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuerkennen und mit einer MdE um 30 vH ausgehend von einem Versicherungsfall am 11. Mai 1988 zu entschädigen.
Im Berufungsverfahren hat das Landessozialgericht (LSG) weitere Zeugen vernommen und Auskünfte des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) von Mai 1997 und August 1998 sowie eine gutachterliche Äußerung von Prof. Dr. K. von April 1998 eingeholt. Durch Urteil vom 22. September 1998 hat es die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Bei der Klägerin lägen die Entschädigungsvoraussetzungen gemäß § 551 Abs 2 RVO nach einem Versicherungsfall am 11. Mai 1988 (Arbeitsaufgabe) vor. Trotz Aufnahme der „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel” als Nr 1317 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) vom 31. Oktober 1997 und trotz der in § 6 Abs 1 BKVO verfügten Rückwirkung für Versicherungsfälle nach dem 31. Dezember 1992 sowie schließlich trotz der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach ein derartiger Rückwirkungsausschluß in der Regel auch eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO ausschließe, rechtfertige die vorliegende Fallgestaltung ausnahmsweise die Annahme, daß der Rückwirkungsausschluß des § 6 Abs 1 BKVO die Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO nicht erfasse. § 6 Abs 1 BKVO schließe den Entschädigungsanspruch der Klägerin in verfassungskonformer Auslegung nicht aus. Zwar bewirke § 6 Abs 1 BKVO keine echte Rückwirkung, welche verfassungsrechtlich im Regelfall unzulässig sei. Eine solche erfordere, daß in einen bestehenden Anspruch eingegriffen werde, was vorliegend nicht der Fall sei. Denn der Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO entstehe erst, nachdem er von der Verwaltung oder in einem Gerichtsverfahren mit Bindungswirkung zuerkannt worden sei. Es liege aber eine sog unechte Rückwirkung vor, weil § 6 Abs 1 BKVO auf einen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt einwirke, wodurch die betreffende Rechtsposition nachträglich entwertet werde. Zwar begegne eine derartige unechte Rückwirkung im Regelfall keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. In Ausnahmefällen sei sie indessen im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip unzulässig, weil das Vertrauen des Betroffenen in den Bestand der vorherigen Regelung schutzwürdiger sei als das von der Neuregelung verfolgte Anliegen. Eine solche Sachlage sei in Anbetracht des Zeitraums zwischen dem Beginn des Feststellungsverfahrens im Jahre 1988 und dem Inkrafttreten der BKVO vom 31. Oktober 1997 gegeben. Es könne offenbleiben, ob die BK-Reife nach § 551 Abs 2 iVm Abs 1 RVO, wie Prof. Dr. K. meine, bereits 1987 eingetreten sei, oder, wie der von Prof. Dr. K. zitierte Arbeitsmediziner Prof. Dr. T. meine, erst im Jahre 1990. In jedem Falle hätte die Klägerin spätestens ab dem Jahr 1990 bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung vom 31. Oktober 1997 einen Anspruch auf Leistungen nach § 551 Abs 2 RVO erwerben können, ohne daß dieser durch einen Rückwirkungsausschluß in Frage gestellt worden wäre. Dieser Anspruch wäre auch nicht daran gescheitert, daß zwischen dem Beginn des Feststellungsverfahrens bei der Beklagten und der Verordnung vom 31. Oktober 1997 noch die Zweite Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 ergangen sei. Eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO setze nur dann zusätzliche Erkenntnisse über einen generellen Ursachenzusammenhang zwischen den Einwirkungen und der Erkrankung zwischen der letzten Neufassung der BKVO voraus, wenn bei dieser eine erkennbare Prüfung, ob die Aufnahme in den Katalog der BKen zu erfolgen habe, stattgefunden habe. Eine Aufnahme von Enzephalopathien durch Lösungsmittelgemische in den Katalog der BKen sei jedoch im Zeitraum zwischen dem Jahr 1988 und der Verordnung vom 31. Oktober 1997 vom Verordnungsgeber bzw von dem diesen beratenden ärztlichen Sachverständigenbeirat nicht bewußt abgelehnt worden. Dies habe der BMA auf Anfrage im August 1998 bestätigt. Danach sei im ärztlichen Sachverständigenbeirat die Prüfung der Frage eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Exposition gegenüber organischen Lösungsmittelgemischen und einer Enzephalopathie erst Anfang 1993 begonnen worden. Bis dahin sei dies nicht Gegenstand von Beratungen der zuständigen Gremien gewesen. Die lange Verfahrensdauer sei bei der Klägerin insbesondere auf die Schwierigkeit der tatsächlichen und rechtlichen Beurteilung und die Überlastung der ärztlichen Sachverständigen zurückzuführen. So habe Prof. Dr. K. für sein Gutachten von April 1996 mehr als eineinhalb Jahre benötigt. Zwar könne man deshalb weder der Beklagten noch den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit einen Vorwurf machen. Es sei indessen rechtsstaatlich nicht zu rechtfertigen, daß sich eine so außergewöhnlich lange Verfahrensdauer letztlich zum Nachteil des Versicherten auswirken sollte.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 551 Abs 2 RVO. Nach den Feststellungen des LSG hätten neue medizinische Erkenntnisse bezüglich des Zusammenhangs Enzephalopathie-organische Lösemittelgemische zwar nicht zum Zeitpunkt des angenommenen Versicherungsfalls, spätestens aber im Jahr 1990 vorgelegen. Nach der neueren Rechtsprechung des BSG (BSGE 79, 250, 253) sei für das Vorliegen neuer Erkenntnisse nicht auf den Erkrankungszeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen, was neuerdings auch ausdrücklich in § 9 Abs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) geregelt sei. Im Falle eines Rechtsstreits sei dies der Zeitpunkt der letzten Tatsachenentscheidung, also im vorliegenden Fall die Verkündung des LSG-Urteils in der mündlichen Verhandlung vom 22. September 1998. Zu diesem Zeitpunkt indessen könnten die Erkenntnisse nicht mehr als neu iS des § 551 Abs 2 RVO angesehen werden. Das BSG habe hierzu nämlich (BSGE 72, 303, 305 und BSGE 75, 51, 55) den Standpunkt vertreten, daß neue Erkenntnisse nicht mehr vorlägen, wenn der Verordnungsgeber es trotz der Erkenntnisse bereits abgelehnt habe, die Krankheit als BK in die Liste aufzunehmen, oder wenn der Verordnungsgeber aufgrund dieser Erkenntnisse die Krankheit in die Liste aufgenommen habe. Unter diesen Umständen sei nach Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Dezember 1997 eine Anerkennung der Krankheit der Klägerin nach § 551 Abs 2 RVO ausgeschlossen, weil die Erkenntnisse nicht mehr neu seien.
Das angegriffene Urteil verletze auch die Vorschrift des § 6 Abs 1 BKVO und die Auslegungsregeln. § 6 Abs 1 BKVO bestimme, daß, wenn ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit nach Nr 1317 der Anlage zur BKVO leide, diese auf Antrag als BK anzuerkennen sei, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten sei. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 72, 303; 75, 51; 79, 250; SozR 3-2200 § 551 Nr 6) erfaßten die Rückwirkungsvorschriften in den Änderungsverordnungen zur BKVO regelmäßig auch die noch nicht bindend festgestellten Fälle des Versicherungsschutzes nach § 551 Abs 2 RVO. Der Entscheidung des Verordnungsgebers komme der Vorrang vor der Entscheidung der Verwaltung zu. Das bedeute vorliegend, daß angesichts des zur Zeit des Inkrafttretens der Änderungsverordnung noch laufenden Berufungsverfahrens ein Versicherungsfall der Nr 1317 nicht anerkannt werden könne, weil dieser vor dem 31. Dezember 1992 läge. Das LSG beziehe sich für seine Auffassung, vorliegend komme doch ausnahmsweise eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO in Betracht, auf eine Passage des Urteils des BSG vom 30. Juni 1993 (BSGE 72, 303, 307), in der offengelassen werde, wie bei einer relativ kurzen zeitlichen Rückwirkung einer Rückwirkungsvorschrift und bei in angemessener Zeit nach Auftreten der Krankheit gestelltem Antrag auf Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO eine Entscheidung nach Erlaß der Änderungsverordnung zu ergehen habe. Das LSG begründe die Ausnahme mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Vertrauensschutzgrundsatz. Dieser sei aber im vorliegenden Falle nicht verletzt. Nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 75, 55) entstehe ein Anspruch des Versicherten nach § 551 Abs 2 RVO erst mit seiner Feststellung durch den Unfallversicherungsträger bzw die Gerichte. Dies werde auch vom LSG anerkannt. Es müsse daher aber eine den Vertrauensschutz begründende Rechtsposition verneint werden. Erst mit einer letztverbindlichen (Gerichts-)Entscheidung werde überhaupt ein Vertrauensschutztatbestand geschaffen. Raum für eine Ausnahme sei auch deshalb nicht gegeben, weil der in § 6 Abs 1 BKVO festgelegte Rückwirkungszeitraum von rund fünf Jahren als ausreichend angesehen werden müsse, zumal sich die neuen Erkenntnisse hinsichtlich des Zusammenhangs Enzephalopathie-organische Lösungsmittelgemischeinwirkung erst zu Beginn der 90er Jahre verdichtet hätten. Schließlich sei auch nicht während der gesamten Laufzeit des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens bis zum Inkrafttreten der Änderungsverordnung am 1. Dezember 1997 eine Anerkennung nach § 551 Abs 2 RVO möglich gewesen, da erst ab 1990 (die BK-Anzeige stamme vom 19. August 1988) neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorgelegen hätten. Bei einer Entscheidung zum Antragszeitpunkt hätte beispielsweise eine Anerkennung nach § 551 Abs 2 RVO abgelehnt werden müssen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 22. September 1998 und das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 23. Oktober 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich dem angefochtenen Urteil an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Verletztenrente. Ihre Enzephalopathie in Form eines hirnorganischen Psychosyndroms ist weder als BK gemäß § 551 Abs 1 RVO noch wie eine BK nach § 551 Abs 2 RVO zu entschädigen.
Der von der Klägerin verfolgte Anspruch auf Verletztenrente richtet sich nach den bis zum 31. Dezember 1996 geltenden Vorschriften der RVO, da der diesem Anspruch zugrundeliegende Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversichersicherungs-Einordnungsgesetzes ≪UVEG≫, § 212 SGB VII).
Obgleich die Anlage zur BKVO vom 31. Oktober 1997 (BGBl I S 2623) um die Nr 1317 (Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische) erweitert worden ist und nach den mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit gemäß § 163 SGG für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG die Erkrankung der Klägerin darunter fällt, hat sie keinen Anspruch auf Entschädigung nach § 551 Abs 1 RVO. Denn nach § 6 Abs 1 BKVO ist, sofern ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit ua nach Nr 1317 der Anlage leidet, diese auf Antrag nur dann als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG lag die Enzephalopathie der Klägerin aber bereits seit 11. Mai 1988 vor und bedingte eine MdE um 30 vH. Der Versicherungsfall war damit iS des § 551 Abs 3 Satz 2 RVO (Zeitpunkt des Beginns der Krankheit iS der Krankenversicherung oder des Beginns der MdE) vor dem 1. Januar 1993 eingetreten.
Die genannte Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKVO ist rechtswirksam. Das BSG hat derartige Rückwirkungsklauseln der BKVO bisher weder hinsichtlich ihrer prinzipiellen Zulässigkeit noch mit Blick auf die entschiedenen Einzelfälle, konkret also wegen der zeitlichen Länge der ihnen beigemessenen Rückwirkung, beanstandet (BSGE 6, 29, 33; Urteil vom 23. Februar 1966 – 2 RU 103/62 – BG 1967, 75; BSGE 75, 51, 53 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6; zuletzt Urteil vom 30. September 1999 – B 8 KN 5/98 U R – zur Veröffentlichung vorgesehen). Eine, wie durch § 6 Abs 1 BKVO ebenfalls vorgenommene, nur begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle in den Versicherungsschutz ist nicht nur von der Ermächtigung des § 551 Abs 1 RVO gedeckt, sondern auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BSGE 72, 303, 304 = SozR 3-2500 § 551 Nr 3; BSGE 75, 51, 53 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6; BSG vom 19. Januar 1994 – 2 RU 14/94 – HVBG-Info 1995, 1331; vgl auch BVerfGE 85, 1, 47).
Der Senat hat hierzu mehrfach entschieden, daß es im allgemeinen dem Gesetzgeber oder – wie hier – dem Verordnungsgeber überlassen bleibt, inwieweit er neu eingeführte Leistungsverbesserungen auch auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte (Versicherungsfälle) ausdehnt (BSGE 21, 296, 297 = SozR Nr 1 zu § 551 RVO; BSGE 22, 63, 65 = SozR Nr 2 zu 6. BKVO § 4; BSGE 72, 303, 304 = SozR 3-2200 § 551 Nr 3; BSG Urteil vom 19. Januar 1994, aaO, und – 2 RU 20/94 – HVBG-Info 1995, 1141; vgl auch BVerfGE 75, 108, 157). Es entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), daß es dem Gesetzgeber (Verordnungsgeber) durch Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) grundsätzlich nicht verwehrt ist, zur Regelung bestimmter Sachverhalte Stichtagsregelungen einzuführen, obgleich jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt; die Wahl des Zeitpunktes muß sich allerdings am gegebenen Sachverhalt orientieren (BVerfGE 87, 1, 43; 88, 203, 262). Dies ist hier der Fall. Ähnlich wie § 6 Abs 1 BKVO war die rückwirkende Geltung von neu in die BK-Liste aufgenommenen Positionen auch schon in den Übergangsbestimmungen früherer Verordnungen geregelt (Art 2 Abs 2 Satz 1 der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 – BGBl I 2343 –; Art 3 Abs 2 Satz 1 der Verordnung zur Änderung der BKVO vom 22. März 1988 – BGBl I 1988 –; s BSGE 21, 296, 297 = SozR aaO; 72, 303, 304 = SozR aaO). Auch der völlige Ausschluß einer Rückwirkung wurde nicht als Verstoß gegen den Gleichheitssatz angesehen (BSGE 22, 63, 65 = SozR aaO). In dieser Entscheidung hat der Senat aber auch klargestellt, daß im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip in Art 20 Abs 1 GG eine „rückwirkende Gewährung von Leistungen in gewissen Grenzen” bei berufsbedingten Erkrankungen sogar geboten sein kann.
Soweit der Senat für die Rechtswirksamkeit einer Rückwirkungsvorschrift auch darauf abgestellt hat, ob der Verordnungsgeber sie im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten auf ausreichend in der Vergangenheit liegende Versicherungsfälle erstreckt hat (BSGE 72, 303, 306 = SozR aaO), ist diese Voraussetzung in § 6 Abs 1 BKVO gewahrt. Zwar ist nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, wonach die sog BK-Reife der späteren Nr 1317 der Anlage zur BKVO spätestens im Jahre 1990 eingetreten und bei der Neufassung der BKVO zum 1. Januar 1993 ihre Aufnahme in die Anlage 1 nicht geprüft worden ist, ersichtlich, daß die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKVO für diese neue BK nicht auf den Zeitpunkt der sog BK-Reife zurückreicht. Indessen ist diese Entscheidung des Verordnungsgebers bewußt getroffen worden. Aus der Begründung der Verordnung der Bundesregierung zur Vorlage an den Bundesrat ergibt sich, daß für die rückwirkende Anerkennung (§ 6 Abs 1 BKVO) nicht von Bedeutung war, wann die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse, die letztlich zur Aufnahme der Erkrankung in die Verordnung geführt haben, nach Überzeugung der Fachwelt vorgelegen haben (BR-Drucks 642/97 S 13 zu § 6). Damit hat der Verordnungsgeber deutlich gemacht, daß er die Rückwirkung für alle neu in die Liste aufgenommenen BKen einheitlich auf die zeitlich davor liegende Neufassung der BKVO beziehen wollte. Das kann hier auch deshalb nicht beanstandet werden, weil der Verordnungsgeber sich mit der Vorschrift des § 6 Abs 1 BKVO erkennbar so verhalten wollte wie in den vorausgegangenen Änderungen der BKVO. Nach der amtlichen Begründung entspricht die Rückwirkungsvorschrift in ihrer Konzeption und Ausgestaltung vergleichbaren Regelungen in früheren Änderungsverordnungen (BR-Drucks 642/97 S 13/14 zu § 6). In der Tat enthielten – wie erwähnt – die Änderungsverordnungen vom 22. März 1988 und 18. Dezember 1992 insoweit gleiche Regelungen. Dieses Verhalten des Normgebers läßt erwarten, daß er auch bei zukünftigen Änderungen der BKVO entsprechende Regelungen treffen wird. Es schafft Rechtssicherheit und führt zur Gleichbehandlung aller Versicherten, die an den neu in die BK-Liste aufgenommenen Krankheiten leiden.
Schließlich ließ die zeitliche Länge der Rückwirkung des § 6 Abs 1 BKVO von vier Jahren und elf Monaten durchaus erwarten, daß alle vor der Neufassung der BKVO zum 1. Dezember 1997 nach § 551 Abs 2 RVO begonnenen Verfahren, in denen Versicherungsfälle vor dem Stichtag am 1. Januar 1993 geltend gemacht waren, bis zum Inkrafttreten der Neufassung abgeschlossen sein würden, jedenfalls wenn die entsprechenden Anzeigen oder Leistungsanträge in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auftreten der Erkrankung gestellt waren. Daß es neben dem vorliegenden Verfahren noch weitere Verfahren in nennenswerter Zahl gegeben hat oder gibt, in denen das Verfahren insgesamt erheblich länger als diese rund fünf Jahre der Rückwirkungsfrist angedauert hat, ist dem Senat weder aufgrund der Feststellungen des LSG noch nach dem Vortrag der Beteiligten im Revisionsverfahren ersichtlich.
Insgesamt entspricht die Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKVO der Ermächtigungsnorm des § 551 Abs 1 Satz 3 RVO, die dem Verordnungsgeber ein weites normatives Ermessen nicht nur für die Entscheidung über die Aufnahme einer Krankheit in die BK-Liste, sondern auch für die Frage der rückwirkenden Erstreckung der neuen Verordnung einräumt. Für die gerichtliche Überprüfung einer derartigen Rückwirkungsklausel gilt dort, wo dem Verordnungsgeber durch höherrangige Rechtsvorschriften keine Schranken gesetzt sind, ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosevorrang des Normgebers. Dieser ist durch die Rechtsprechung so lange zu beachten, wie er in vertretbarer Weise gehandhabt wurde (BVerfGE 80, 355, 370; 88, 203, 262). Das ist, wie dargelegt, in Bezug auf § 6 Abs 1 BKVO der Fall.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Entschädigung gemäß § 551 Abs 2 RVO. Das BSG hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß die Anwendung des § 551 Abs 2 RVO ua dann ausgeschlossen ist, wenn der Verordnungsgeber nach § 551 Abs 1 RVO die einschlägige Erkrankung in die Liste der BKen aufnimmt oder deren Aufnahme prüft und ablehnt (BSG BG 1967, 75; BSGE 44, 90, 93, 94 = SozR 2200 § 551 Nr 9; BSGE 72, 303, 305 mwN = SozR 3-2200 § 551 Nr 3; BSGE 75, 51, 53, 54 = SozR 3-2200 § 551 Nr 6; Urteil vom 19. Januar 1995 – 2 RU 14/94 – HVBG-Info 1995, 1331; BSGE 79, 250, 254 = SozR 3-2200 § 551 Nr 9). Ab diesem Zeitpunkt liegen nämlich, wie in § 551 Abs 2 RVO ausdrücklich verlangt, „neue Erkenntnisse” über die übrigen Voraussetzungen des Abs 1 nicht mehr vor. Mit der Entscheidung des Verordnungsgebers ist es dem Unfallversicherungsträger untersagt, anstelle des Verordnungsgebers in diesem Einzelfall festzustellen, daß die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs 1 RVO erfüllt sind und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine BK zu entschädigen ist. In beiden Fällen tritt mit der Entscheidung des Verordnungsgebers dessen Vorrang vor der Entscheidung des Unfallversicherungsträgers im Einzelfall ein (BSG aaO). Das gilt auch, wenn der Verordnungsgeber der neugefaßten BKVO Rückwirkung beilegt. Eine wirksame Rückwirkungsvorschrift schließt auch aus, für alle Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung nach § 551 Abs 2 RVO zuzusprechen (BSGE 72, 303, 306 = SozR aaO; BSGE 75, 51 = SozR aaO).
Der Senat hat bereits mehrfach die folgenden Grundsätze dargelegt (zuletzt Urteil vom 19. Januar 1995 – 2 RU 14/94 – HVBG-Info 1995, 1331):
Die Ermächtigung des Verordnungsgebers, frühere Versicherungsfälle sowohl im Hinblick auf § 551 Abs 1 RVO als auch auf § 551 Abs 2 RVO nur begrenzt in den Versicherungsschutz einzubeziehen, folgt bereits aus dem einheitlichen BK-Recht, das der Gesetzgeber in den inhaltlich verbundenen Abs 1 und 2 des § 551 RVO geregelt hat (BSGE 75, 51, 53 = SozR aaO). In § 551 Abs 1 Satz 2 RVO hat er den Grundsatz des inzwischen sozialpolitisch umstrittenen „Listensystems” verankert. „Berufskrankheiten sind (nur) die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet ….” und nicht (aufgrund einer von einigen Seiten gewünschten „Generalklausel”, s BSGE 59, 295, 297 mwN = SozR 2200 § 551 Nr 27) alle Krankheiten, die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (s auch BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr 5). Der Gesetzgeber hat (allein) die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 551 Abs 1 Satz 3 RVO).
Von dieser Regelung macht § 551 Abs 2 RVO nur insoweit eine Ausnahme für den Einzelfall, wenn der Verordnungsgeber wegen der regelmäßig notwendigen mehrjährigen Intervalle zwischen den Anpassungen der BKVO an die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht rechtzeitig tätig geworden ist. Ausdrücklich nur wenn der Verordnungsgeber eine Krankheit nicht in der BKVO bezeichnet oder die dort bisher bestimmten (einschränkenden) Voraussetzungen noch nicht aufgehoben hat, räumt der Gesetzgeber in § 551 Abs 2 RVO dem Träger der Unfallversicherung das Recht und die Pflicht ein, im Einzelfall anstelle des noch nicht tätig gewordenen Verordnungsgebers in zwei voneinander zu unterscheidenden Verfahrensschritten vorzugehen. Dann soll der Unfallversicherungsträger zunächst – wie der Verordnungsgeber auch – in einem ersten Abschnitt feststellen, ob nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen des Abs 1 Satz 3 aaO für die Aufnahme der betreffenden Krankheit in die BKVO erfüllt sind und danach, wenn die Prüfung im ersten Abschnitt positiv ausgefallen ist, in dem Entschädigungsabschnitt nach Maßgabe seiner gewöhnlichen Entschädigungsaufgaben die betreffende Krankheit wie eine BK entschädigen. Dem eigentlichen Entschädigungsanspruch des Erkrankten nach § 551 Abs 2 (2. Abschnitt) RVO muß also die entsprechende Feststellung des Unfallversicherungsträgers im ersten Abschnitt vorausgehen.
Nach der Rechtsprechung des BSG zu dem Begriff neue (medizinisch-wissenschaftliche) Erkenntnisse in § 551 Abs 2 RVO (s BSGE 44, 90, 93 = SozR aaO; 72, 303, 305 = SozR aaO; BSG BG 1967, 75, 76; s auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 492p) hat der Gesetzgeber in § 551 Abs 1 und 2 RVO dem Träger der Unfallversicherung das oben beschriebene Recht und die Pflicht nach § 551 Abs 2 RVO weiter einschränkend nur für den Fall eingeräumt, daß von dem Verordnungsgeber noch nicht die betreffenden medizinischen Erkenntnisse als unzureichend eingestuft worden sind. Hätte der Verordnungsgeber es trotz dieser Erkenntnis abgelehnt, eine bestimmte Krankheit in die BKVO aufzunehmen, dann wären diese Erkenntnisse bei einer Prüfung im Rahmen des § 551 Abs 2 RVO nicht mehr neu (BSGE 52, 272, 274 = SozR 2200 § 551 Nr 20).
Entscheidend für den Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO hinsichtlich der von dem Träger der Unfallversicherung vorzunehmenden Feststellung im ersten Verwaltungsabschnitt ist, daß insoweit neue medizinische Erkenntnisse vorliegen, die der Verordnungsgeber noch nicht geprüft hat und über die er infolgedessen bisher weder positiv durch die Aufnahme noch negativ durch die Ablehnung, die Krankheit in die BKVO aufzunehmen, entschieden hat. In beiden Fällen zeigt sich der gesetzlich vorgeschriebene Vorrang der Entscheidung des Verordnungsgebers vor derjenigen der Verwaltung (BSGE 72, 303, 305 mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum = SozR aaO). Dem trägt auch der insoweit begrenzte Zweck des § 551 Abs 2 RVO Rechnung. Er zielt in Übereinstimmung mit Abs 1 dieser Vorschrift auch nicht darauf, daß mit seiner Hilfe eine bereits durch den Verordnungsgeber geschaffene und ausreichend weit zurückreichende Rückwirkung noch erweitert wird. Er soll nicht dazu führen, daß der Unfallversicherungsträger anstelle des Verordnungsgebers in Fällen tätig wird, in denen dieser über bestimmte neue medizinische Erkenntnisse bereits dadurch entschieden hat, daß er die betreffende Krankheit in die BKVO aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch eine Rückwirkung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit begrenzt hat (BSGE 72, 303, 306 mwN = SozR aaO). Der Träger der Unfallversicherung hat vielmehr nur dann das Recht und die Pflicht, anstelle des Verordnungsgebers nach § 551 Abs 2 RVO tätig zu werden, wenn es neue medizinische Erkenntnisse in dem oa Sinne gibt, über die der Verordnungsgeber noch nicht entschieden hat oder die zur Zeit einer ablehnenden Entscheidung noch nicht zur BK-Reife verdichtet waren (s dazu BSGE 72, 303, 305 mwN = SozR aaO). Darauf hat der Erkrankte aber nur so lange einen Rechtsanspruch, wie der Verordnungsgeber nicht in der oa Weise entschieden hat. Damit greift der Verordnungsgeber nicht etwa in einen unabhängig von seinen Entscheidungen nach § 551 Abs 1 RVO begründeten Rechtsanspruch auf Entschädigung ein; denn der betreffende Entschädigungsanspruch des Erkrankten kann erst dann entstehen, wenn gemäß § 551 Abs 2 RVO festgestellt worden ist, daß nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen des § 551 Abs 1 Satz 3 RVO erfüllt sind. Der Eingriff des Verordnungsgebers erfolgt vielmehr nur in einen begrenzten Anspruch des Erkrankten gegen den Träger der Unfallversicherung auf ein Tätigwerden iS des § 551 Abs 2 RVO, während und solange es der Verordnungsgeber an einer entsprechenden Entscheidung fehlen läßt. Diese Gesamtregelung des § 551 Abs 1 und 2 RVO kann weder als Verletzung des Vorrangs eines Gesetzes noch des Prinzips der Gewaltenteilung gewertet werden (BSGE 75, 51, 55 = SozR aaO).
Das bedeutet für den Unfallversicherungsschutz, den § 551 RVO gegen die Risiken der BK begründet: Er besteht nur gegen diejenigen Krankheiten, die der Verordnungsgeber in die Anlage 1 zur BKVO aufgenommen hat (Abs 1). Eine Erweiterung dieses Unfallversicherungsschutzes gegen andere Krankheiten auch in die Vergangenheit hinein ist rechtlich möglich, entsteht aber selbst beim Vorliegen neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse noch nicht kraft Gesetzes (Abs 2). Der erweiterte Unfallversicherungsschutz nach § 551 Abs 2 RVO setzt vor allem eine entsprechende Feststellung des Unfallversicherungsträgers voraus. Der Rechtsanspruch des Erkrankten darauf ist auch durch das Gericht überprüfbar und die betreffende Feststellung gerichtlich ersetzbar. Aber selbst das Gericht muß den Vorrang der Entscheidung des Verordnungsgebers beachten. An diesen Grundsätzen hält der Senat fest.
Weil der Verordnungsgeber im vorliegenden Fall die Nr 1317 der Anlage 1 zur BKVO mit Wirkung vom 1. Dezember 1997 in die BKVO aufgenommen und in § 6 Abs 1 BKVO die Versicherungsfälle von der Entschädigung ausgeschlossen hat, die vor dem 1. Januar 1993 eingetreten sind, kann der Klägerin somit ein Anspruch nach § 551 Abs 2 RVO auch durch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht mehr zugesprochen werden. Bei einer – auch hier vorliegenden – kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, bei der dem Antrag auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids keine selbständige Bedeutung beizumessen ist, kommt es grundsätzlich darauf an, ob die Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung noch rechtmäßig ist. Dabei sind Rechtsänderungen – durch Gesetz oder Verordnung –, die während der Rechtshängigkeit einer Verpflichtungsklage eintreten, grundsätzlich vom Gericht zu beachten (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 2. Aufl, 1997, VI, RdNr 123; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, § 54 RdNr 34). Das gilt auch und insbesondere für Klagen eines Versicherten auf Entschädigung einer Erkrankung als BK oder wie eine BK (BSG Urteil vom 19. Januar 1995 – 2 RU 14/94 – HVBG-Info 1995, 1331). Voraussetzung ist dabei, daß die neue Regelung nach ihrem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (BSGE 41, 38, 39; 43, 1, 5; BSG SozR 3-1500 § 54 Nr 18, jeweils mwN). Das ist – wie den obigen Erörterungen zu entnehmen ist – hier der Fall. Zwar wird der für die gerichtliche Entscheidung maßgebliche Zeitpunkt für Anfechtungsklagen und für Verpflichtungsklagen nicht generell durch Regelungen oder Grundsätze des Prozeßrechts bestimmt, sondern hängt allein von den Besonderheiten des streitigen materiellen Rechtsanspruchs ab. Zahlreiche Entscheidungen über Abweichungen von dem Grundsatz, daß für Anfechtungsklagen der Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes maßgeblich ist, für Verpflichtungsklagen dagegen der Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Entscheidung, lassen sich anführen (für die Anfechtung der Entziehung der Zulassung als Kassenarzt vgl zuletzt BSGE 73, 234, 236 = SozR 3-2500 § 95 Nr 4; für die Anfechtung der zeitlich unbegrenzten Heranziehung zur Winterbauumlage vgl BSGE 61, 250, 253 = SozR 4100 § 185a Nr 21). Derartige besondere Umstände sind indessen für Verpflichtungsklagen auf Entschädigung als BK oder wie eine BK nicht ersichtlich, so daß es bei dem Grundsatz des Abstellens auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung verbleiben muß.
Soweit in Teilen der Literatur die Auffassung vertreten wird, es dürfe wegen der gebotenen Gleichbehandlung der Versicherten nicht dazu kommen, daß ein Teil der Versicherten über § 551 Abs 2 RVO entschädigt wird, ein anderer Teil wegen der begrenzten Rückwirkung nach Inkrafttreten einer neuen Verordnung oder Änderungsverordnung aber nicht (vgl zB Koch in Lauterbach, UV-SGB VII, § 9 RdNr 296), ist dem beizupflichten. Indessen hat weder das LSG festgestellt noch ist dies von der Klägerin bisher vorgetragen worden, daß es vor Inkrafttreten der BKVO am 1. Dezember 1997 eine nennenswerte Zahl von Fällen gegeben hat, in denen Entschädigungsansprüche nach § 551 Abs 2 RVO für Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1993 für der späteren BK Nr 1317 entsprechende Erkrankungen zugesprochen worden sind.
Anders als das LSG kann der Senat in den Wirkungen der Aufnahme der BK Nr 1317 in die Anlage zur BKVO iVm der Rückwirkungsklausel des § 6 Abs 1 BKVO auf noch laufende Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren unabhängig von deren konkreter Dauer im Einzelfall keine verfassungsrechtlich unzulässige Rückwirkung sehen. Insbesondere ist es durch das Rechtsstaatsprinzip des Art 20 GG nicht geboten, der Klägerin allein wegen der überlangen Verfahrensdauer einen Entschädigungsanspruch gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung zuzusprechen. Die vom LSG angenommene sog unechte Rückwirkung der Entscheidung des Verordnungsgebers, die sich im übrigen nicht unmittelbar, sondern nur wegen der gesetzlichen Systematik der Absätze 1 und 2 des § 551 RVO ergibt, wäre nur dann zu beanstanden, wenn der davon Betroffene billigerweise damit nicht zu rechnen brauchte. Das LSG hat insoweit allein aufgrund der überlangen Dauer des Verfahrens eine Schutzwürdigkeit der Klägerin angenommen. Dabei ist es der vorrangigen Frage, ob die Klägerin überhaupt auf den Fortbestand der im Jahre 1988 bestehenden Rechtslage vertrauen durfte, nicht nachgegangen. Insoweit durfte die Klägerin aber, wie im übrigen jeder Antragsteller auf Leistungen aufgrund § 551 Abs 2 RVO, grundsätzlich nicht darauf vertrauen, daß es Entscheidungen des Verordnungsgebers über die Aufnahme der entsprechenden Erkrankung in die BK-Liste nicht geben werde. Wer nämlich – wie die Klägerin – Ansprüche nach § 551 Abs 2 RVO geltend macht, behauptet angesichts der tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Norm, daß seine Erkrankung eigentlich in die Liste der BKen aufgenommen werden muß oder schon hätte aufgenommen werden müssen. Demzufolge muß der Antragsteller ständig damit rechnen, daß der Verordnungsgeber im Rahmen des § 551 Abs 1 RVO tätig wird. Angesichts der schon Jahrzehnte alten – oben dargelegten – Rechtsprechung des BSG über das Zusammenwirken der Absätze 1 und 2 des § 551 RVO konnte auch die Klägerin ihr Verhalten in der Vergangenheit darauf einrichten, etwa indem sie parallel zu dem Verfahren gegen die Beklagte nach § 551 Abs 2 RVO Schadensersatzansprüche gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber wegen Verletzung arbeitsvertraglicher Schutzpflichten oder aus unerlaubter Handlung geltend machte. Erweist sich nämlich, daß die Klägerin wegen ihrer durch Einflüsse am Arbeitsplatz hervorgerufenen Enzephalopathie keine Entschädigungsansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung besitzt, greift der zugunsten der Unternehmer geschaffene Haftungsausschluß des § 636 RVO nicht durch. Dieser wird nur wirksam, wenn es sich um einen „Arbeitsunfall” oder eine gemäß § 551 Abs 1 Satz 1 RVO dem Arbeitsunfall gleichgestellte BK handelt.
Der Senat verkennt nicht, daß die Klägerin durch die zeitliche Länge ihres Verfahrens und die das Zuerkennen der Ansprüche nach § 551 Abs 2 RVO ausschließende Entscheidung des Verordnungsgebers über die Aufnahme der Erkrankung in die BK-Liste besonders betroffen ist. Dieser Ausschluß ihrer Ansprüche ist die Folge einer im Grundsatz zugunsten aller in der gesetzlichen Unfallversicherung Versicherten geschaffenen Regelung, die insgesamt aber nicht in allen Fällen mit der Grundsatzregelung in § 551 Abs 1 RVO harmoniert. Indessen ist neben den vom 8. Senat des BSG in seiner Entscheidung vom 30. September 1999 (B 8 KN 5/98 U R) genannten zwei Möglichkeiten der Vermeidung jeglicher Härten oder Ungerechtigkeiten bei der Neueinführung einer Listen-BK als weitere Möglichkeit die Rückkehr des Gesetzes zum reinen Listenprinzip denkbar. Insoweit sieht sich der Senat aber außerstande, der Entscheidung des Gesetzgebers zur Neustrukturierung des BK-Rechts etwa zur Schaffung der Grundlagen für eine der genannten Möglichkeiten vorzugreifen. Nach der derzeitigen Gesetzeslage schließt die Entscheidung des Verordnungsgebers das Zusprechen von Ansprüchen nach § 551 Abs 2 RVO aus, und zwar unabhängig von der von vielen Faktoren beeinflußbaren zeitlichen Länge des Feststellungsverfahrens über diese Ansprüche.
Nach alledem waren auf die Revision der Beklagten die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2001, 100 |
SozSi 2001, 108 |