Orientierungssatz
Grobe Nachlässigkeit iS des § 109 Abs 2 SGG:
Grobe Nachlässigkeit ist das Versäumen jeder prozessualen Sorgfalt. Sie liegt in der Regel vor, wenn der Versorgungsberechtigte den Antrag auf gutachterliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt, nachdem er erkennt oder erkennen muß, daß die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (vgl BSG 1958-12-10 4 RJ 143/58 = SozR Nr 24 zu § 109 SGG).
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2, § 109 Abs. 2
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 10.01.1957) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 10. Januar 1957 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der als Soldat am zweiten Weltkrieg teilgenommen hat, begehrt Versorgungsrente. Auf seinen Antrag hin erkannte das Versorgungsamt (VersorgA) B... den Verlust mehrerer Zähne im Unterkiefer und eine Innenohrschwerhörigkeit rechts als Schädigungsfolgen im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) an. Es lehnte die Gewährung von Beschädigtenrente ab, weil durch die anerkannten Gesundheitsstörungen eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) rentenberechtigenden Grades nicht bedingt werde. Das Landesversorgungsamt (LVersorgA) wies den Widerspruch des Klägers zurück.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Bayreuth den Beklagten verurteilt, produktiv-indurative Lungentuberkulose rechts im Sinne der Verschlimmerung sowie Verlust der Zähne vier bis sieben im linken Unterkiefer als Folge von Unterkieferbruch mit Verschiebung des Unterkiefers und dadurch verhinderter Einsetzung einer Prothese und Innenohrschwerhörigkeit rechts im Sinne der Entstehung als Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger Rente nach einer MdE um 25 v.H. ab 1. September 1952 zu gewähren.
Gegen dieses Urteil hat der Beklagte Berufung eingelegt. In der mündlichen Verhandlung des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) am 26. April 1956 hat der Kläger, der zuvor um bevorzugte Entscheidung über die Berufung des Beklagten gebeten hatte, ein Gutachten des Facharztes für Lungenkrankheiten Dr. P... vorgelegt. Daraufhin ist die Verhandlung vertagt worden, um dem Beklagten Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Nachdem diese vorlag, hat das LSG von Amts wegen noch ein schriftliches Gutachten des Lungenfacharztes Dr. G... eingeholt und eine Abschrift dieses Gutachtens am 5. Dezember 1956 an die Beteiligten abgesandt. In der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 1957, zu der der Kläger am 28. Dezember 1956 geladen worden ist, hat dessen Prozeßbevollmächtigter beantragt, den Lungenfacharzt Dr. C... gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gutachtlich zu hören, hilfsweise die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Mit Urteil vom 10. Januar 1957 hat das LSG auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es hat ausgeführt, die bei dem Kläger festgestellten tuberkulösen Veränderungen der Lunge hingen höchstwahrscheinlich weder im Sinne der Entstehung noch im Sinne der Verschlimmerung mit dem Wehrdienst ursächlich zusammen und könnten nicht als Schädigungsfolgen anerkannt werden. Das angefochtene Urteil sei auch insoweit fehlerhaft, als das SG die Bezeichnung der anerkannten Schädigungsfolgen "Verlust der Zähne vier bis sieben im linken Unterkiefer" ergänzt habe. Rente stehe dem Kläger daher nicht zu. Der Antrag des Klägers auf gutachtliche Anhörung des Dr. C... gemäß § 109 SGG sei abzulehnen gewesen, weil dieser Antrag aus grober Nachlässigkeit nicht früher gestellt worden sei und die Zulassung des Antrages den Rechtsstreit verzögert haben würde. Aus dem Umstand, daß auf Bitten des Klägers die bevorzugte Erledigung der Streitsache angeordnet worden sei, habe sich für diesen die Verpflichtung ergeben, auch seinerseits dazu beizutragen, daß die Sache einen beschleunigten Abschluß finde. Dieser Verpflichtung sei der Kläger nicht nachgekommen. Schon die erste mündliche Verhandlung habe vertagt werden müssen, weil der Kläger erst im Termin das Gutachten des Dr. P... vorgelegt habe, obwohl dies früher hätte geschehen können. Dem Kläger sei es auch möglich gewesen, den Antrag aus § 109 SGG früher zu stellen, da das von Amts wegen eingeholte Gutachten des Dr. G... bereits am 5. Dezember 1956 an die Beteiligten abgesandt worden sei. Wenn der Kläger mit der Antragstellung trotzdem bis zur mündlichen Verhandlung gewartet habe, so bedeute das ein Versäumen der gebotenen prozessualen Sorgfalt und damit eine grobe Nachlässigkeit. Schließlich sei es auch unzulässig, den Antrag auf Anhörung eines bestimmten Arztes von dem Ausfall der Entscheidung selbst abhängig zu machen.
Das LSG hat die Revision nicht zugelassen.
Mit der Revision hat der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger rügt als wesentlichen Verfahrensmangel eine Verletzung des § 109 SGG durch das LSG. Er ist der Ansicht, das Berufungsgericht habe den in dieser Vorschrift verwendeten Begriff der groben Nachlässigkeit verkannt, wenn es ihm vorwerfe, daß er den Antrag auf gutachtliche Anhörung des Dr. C... nicht schon vor der mündlichen Verhandlung gestellt habe. Das Gutachten Dr. G... sei der Landessozialrechtsstelle des DGB erst am 6. Dezember 1956 zugegangen und von dort schon am nächsten Tage an die Kreisverwaltung der Gewerkschaft ÖTV weitergeleitet worden. Diese habe das Gutachten mit dem Kläger durchgesprochen und es dann umgehend an den Prozeßbevollmächtigten der Vorinstanz zurückgeschickt. Wegen der Weihnachtsfeiertage sei es dem Bevollmächtigten aber nicht mehr möglich gewesen, den Antrag aus § 109 SGG schriftlich zu formulieren; er habe dies auch nicht für zwingend erforderlich gehalten, weil inzwischen bereits die Terminsladung ergangen sei. Unter diesen Umständen könne von einer groben Nachlässigkeit der Klägers oder seines Prozeßbevollmächtigten nicht gesprochen werden, vielmehr hätte erwartet werden müssen, daß dem Kläger eine angemessene Frist zur Stellungnahme auf ein entscheidendes Gutachten eingeräumt werden würde, zumal sich das LSG mit der Anberaumung eines Termins außerordentlich lange Zeit gelassen habe. Der Antrag sei daher zu Unrecht abgelehnt worden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er ist der Meinung, das Berufungsgericht habe den Antrag des Klägers auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG mit zutreffender Begründung abgelehnt.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 Abs. 1 SGG). Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens gerügt hat und dieser Mangel auch vorliegt. Die Revision ist daher zulässig.
Der Kläger macht als wesentlichen Verfahrensmangel nur eine Verletzung des § 109 SGG geltend. Nach dieser Vorschrift muß auf Antrag des Versorgungsberechtigten ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Das Gericht kann den Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist (§ 109 Abs. 2 SGG). Ein wesentlicher Mangel des Verfahrens liegt vor, wenn das Gericht bei der Entscheidung darüber, ob der Antrag in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit verspätet gestellt worden ist, die Grenzen des ihm zustehenden Ermessens überschritten hat (vgl. BSG 7, 218 mit weiteren Hinweisen).
Die Revisionsrüge, das LSG habe den in der mündlichen Verhandlung am 10. Januar 1957 gestellten Antrag des Klägers auf gutachtliche Anhörung des Dr. C... zu Unrecht abgelehnt, greift durch. Zwar ist die Ansicht des Berufungsgerichts, daß sich die Erledigung des Rechtsstreits durch Zulassung des erst im zweiten Verhandlungstermin gestellten Antrages aus § 109 SGG verzögern würde, nicht zu beanstanden; denn bei einer Zulassung des Antrages hätte das Urteil in diesem Termin nicht ergehen können, es hätte vielmehr ein weiterer Termin anberaumt werden müssen. Rechtsirrig ist jedoch die Ansicht des LSG, der Antrag sei aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden.
Grobe Nachlässigkeit ist das Versäumen jeder prozessualen Sorgfalt. Sie liegt in der Regel vor, wenn der Versorgungsberechtigte den Antrag auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 SGG nicht in angemessener Frist stellt, nachdem er erkennt oder erkennen muß, daß die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme beendet ist (BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 13 und 16 Nr. 19 und 24). Welche Frist als angemessen anzusehen ist, kann nur nach den Umständen des Einzelfalles beurteilt werden.
Im vorliegenden Fall hat der Kläger den Antrag auf gutachtliche Anhörung des Lungenfacharztes Dr. C... gemäß § 109 SGG nach Ansicht des Senats noch in angemessener Frist gestellt. Das von Amts wegen eingeholte Gutachten des Lungenfacharztes Dr. G..., das zu einem für den Kläger ungünstigen Ergebnis gelangt, ist dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 6. Dezember 1956 zugestellt worden. Erst in diesem Zeitpunkt konnte dieser erkennen, daß die von Amts wegen durchzuführende Beweiserhebung beendet war. Der Kläger mußte sich nunmehr darüber schlüssig werden, ob er von den ihm durch § 109 SGG eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch machen wollte und - wegen des eventuell zu zahlenden Kostenvorschusses - Gebrauch machen konnte. Erst nach Abschluß dieser Prüfung, die im vorliegenden Fall wegen der notwendigen Besprechung zwischen dem Kläger und seinem an einem anderen Ort wohnenden Prozeßbevollmächtigten einige Zeit erforderte, war der Kläger gehalten, den Antrag aus § 109 SGG nunmehr ohne längeres Abwarten zu stellen. Wenn man berücksichtigt, daß in die dem Kläger für die Antragstellung zuzubilligende Frist die Weihnachtsfeiertage und Neujahr hineinfielen, so kann dem Kläger nach Ansicht des Senats kein Vorwurf daraus gemacht werden, daß er den Antrag erst am 10. Januar 1957, also etwa einen Monat, nachdem er von dem Abschluß der von Amts wegen durchzuführenden Beweisaufnahme Kenntnis haben mußte, vorgebracht hat. Daran ändert auch nichts, daß der Kläger selbst um bevorzugte Erledigung des Rechtsstreits gebeten und Anlaß zur Vertagung des ersten Verhandlungstermins gegeben hat. Da die angemessene Frist zur Antragstellung mithin am 10. Januar 1957 noch nicht abgelaufen war, brauchte der Kläger sich auch nicht durch die ihm erst am 28. Dezember 1956 zugestellte Terminsladung veranlaßt zu sehen, den Antrag noch vor dem zweiten Termin - schriftlich - zu stellen. Auf die Frage, ob der Versorgungsberechtigte mit der Stellung eines Antrages auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes grundsätzlich bis zur mündlichen Verhandlung warten darf (vgl. BSG 7, 218) oder ob er diesen Antrag in der Regel vorher schriftlich stellen muß (vgl. BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 16 Nr. 24), braucht in diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen zu werden, da die Ablehnung eines erst im Verhandlungstermin gestellten Antrages aus § 109 SGG wegen grober Nachlässigkeit selbst unter Zugrundelegung der in SozR SGG § 109 Bl. Da 16 Nr. 24 vertretenen Rechtsansicht nur dann gerechtfertigt ist, wenn die angemessene Frist zur Antragstellung schon vor dieser Verhandlung abgelaufen war. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die vom LSG festgestellten Tatsachen sind danach nicht geeignet, die Annahme einer groben Nachlässigkeit des Klägers oder seines Prozeßbevollmächtigten zu rechtfertigen. Das LSG hat vielmehr an die prozessuale Sorgfalt des Klägers zu strenge Anforderungen gestellt und damit die gesetzlichen Grenzen des ihm eingeräumten Ermessens überschritten.
Unzutreffend ist schließlich auch die Ansicht des Berufungsgerichts, der Kläger habe den Antrag auf gutachtliche Anhörung des Dr. C... unzulässigerweise von dem Ausgang des Rechtsstreits abhängig gemacht (vgl. dazu auch BSG in SozR SGG § 109 Bl. Da 10 Nr. 17); denn der Kläger hat - wie die Verhandlungsniederschrift ausweist - den Antrag aus § 109 SGG ohne jede Einschränkung oder Bedingung gestellt.
Die Revision des Klägers ist mithin begründet. Das LSG hat den Antrag auf gutachtliche Anhörung des Lungenfacharztes Dr. C... zu Unrecht abgelehnt. Auf diesem Verfahrensmangel beruht das Urteil; denn die Tatsachen, zu denen Dr. C... sich gutachtlich äußern sollte, sind auch vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG aus rechtserheblich; es ist möglich, daß das Berufungsgericht anders entschieden hätte, wenn es den vom Kläger benannten Arzt angehört hätte. Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG). Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, weil nunmehr die hierfür erforderlichen tatsächlichen Feststellungen fehlen und auf jeden Fall noch eine weitere Beweiserhebung durch Anhörung des Dr. C... erforderlich ist.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen