Leitsatz (redaktionell)
Der im Ehescheidungsverfahren gegenüber dem 2. Ehemann ausgesprochene Unterhaltsverzicht ist für den Versicherungsträger unbeachtlich. In diesem Fall muß sich die Klägerin vielmehr so behandeln lassen, als hätte sie vor der Rechtskraft des Scheidungsurteils auf den Unterhaltsanspruch gegen ihren 2. Mann nicht verzichtet.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AVG § 68 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; EheG § 58 Fassung: 1946-02-20, § 59 Fassung: 1946-02-20
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Juli 1961 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesene.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin sich auf die (wiederaufgelebte) Witwenrente einen Unterhaltsanspruch anrechnen lassen muß (§ 68 Abs. 2 Angestelltenversicherungsgesetz -AVG-), den sie - nach Auffassung der Beklagten - in folge Auflösung ihrer zweiten Ehe erworben hat.
Die Klägerin bezog nach dem Tod ihres ersten Ehemannes (März 1945) aus dessen Angestelltenversicherung (AV) eine Witwenrente bis zu ihrer Wiederverheiratung im September 1948. Die zweite Ehe wurde durch Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 10. September 1958 aus dem alleinigen Verschulden des Mannes geschieden. Nach der Verkündung des Scheidungsurteils, aber noch vor dem beiderseits erklärten Rechtsmittelverzicht, verzichtete die Klägerin in einem gerichtlich protokollierten Vergleich auf jeglichen Unterhalt für Vergangenheit und Zukunft, auch für den Fall des Notbedarfs. Etwa ein Jahr zuvor hatte sie bei der Beklagten angefragt, ob sie bei Scheidung ihrer zweiten Ehe Rente erhalten würde. Die Beklagte hatte ihr mit Schreiben vom 18. Dezember 1957 daraufhin mitgeteilt:
" Hat eine Witwe, die eine Witwenrente bezogen hat, sich wiederverheiratet und wird diese Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe. aufgelöst oder für nichtig erklärt, so lebt der Anspruch vom Ablauf des Monats, in dem die Ehe aufgelöst oder für nichtig erklärt wurde, wieder auf, wenn der Antrag spätestens 12 Monate nach der Auflösung der Ehe gestellt ist."
Die Klägerin bezieht seit 1. Oktober 1958 nach dem Gesetz zu Art. 131 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit den einschlägigen Bestimmungen des Bundesbeamtengesetzes (BBG) ein Witwengeld nach ihrem verstorbenen ersten Ehemann von monatlich 167,40 DM und ab 1. Januar 1961 von monatlich 202,97 DM Die Beklagte erkannte im Laufe des Klageverfahrens den Anspruch der Klägerin auf die (wiederaufgelebte) Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes vom 1. Oktober 1958 an in Höhe von 61,90 DM und vom 1. Januar 1959 an in Höhe von 64,90 DM monatlich an, Die errechneten Rentenbeträge zahlte sie aber nicht aus, weil die Klägerin infolge Auflösung ihrer zweiten Ehe gegen den geschiedenen Mann einen die monatliche Rente übersteigenden Unterhaltsanspruch erworben habe, den sie sich nach § 68 Abs. 2 AVG bis zur Höhe ihrer wiederaufgelebten Witwenrente anrechnen lassen müsse (Bescheid vom 12. Juni 1959). Gegen diese Anrechnung richtet sich die Klage.
Das Sozialgericht (SG) gab der Klage statt (Urteil vom 2. November 1960): Zur Zeit der Scheidung habe die Klägerin keinen Unterhaltsanspruch gehabt, weil sie sich die beamtenrechtliche Versorgung anrechnen lassen müsse. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) dieses Urteil auf und wies die Klage - unter Zulassung der Revision - (Urteil vom 14. Juli 1961) ab.
Wie das LSG festgestellt hat, wurde der geschiedene Mann zur Unterhaltsleistung an seine beiden Töchter aus zweiter Ehe von monatlich je 100,-- DM verurteilt (Urteil des Amtsgerichts Braunschweig vom 11. Juni 1959, das infolge Zurückweisung der Berufung durch das Landgericht Braunschweig rechtskräftig geworden ist). Nach den weiteren Feststellungen des LSG betrug der monatliche Netto-Verdienst des Mannes rund 810.-- DM, wovon ihm nach Abzug seiner gesamten Unterhaltsverpflichtungen und sonstigen Aufwendungen (Stundenfrau) monatlich etwa 400.-- DM zu seiner eigenen freien Verfügung verblieben. Nach der Ansicht des LSG ist es versicherungsrechtlich ohne Bedeutung, daß die Klägerin auf Unterhalt verzichtet hat, weil es für die Anrechnung nach § 68 Abs. 2 AVG nicht darauf ankomme, ob der infolge Auflösung der Ehe erworbene Unterhaltsanspruch verwirklicht werden könne. Ohne den Verzicht wurde der Klägerin ein Unterhaltsanspruch von mehr als 64.90 DM monatlich zustehen, so daß der von der Beklagten anerkannte Witwenrentenanspruch nicht zu einer Rentenzahlung führen könne. Die Auffassung des SG, im Zeitpunkt der Scheidung habe keine Unterhaltsverpflichtung bestanden, weil die Klägerin sich den nach der Scheidung wiederaufgelebten Witwengeldanspruch nach dem Gesetz zu Art. 131 GG anrechnen lassen müsse, sei unrichtig; denn Zahlungen aus Kassen der öffentlichen Hand seien gegenüber dem Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Mann subsidiärer Natur. Der Einwand der Klägerin, die Beklagte habe durch ihre "falsche„ Auskunft vom 18. Dezember 1957 den Unterhaltsverzicht veranlaßt, sei unbeachtlich; insoweit habe die Klägerin allenfalls einen Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte, für den aber die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit nicht zuständig seien.
Die Klägerin legte Revision ein mit dem Antrag (sinngemäß), das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Braunschweig zurückzuweisen.
Sie rügte die Verletzung der §§ 68 Abs. 2 AVG, 58 ff Ehegesetz (EheG); das LSG sei zu Unrecht von einem bestehenden Unterhaltsanspruch gegen den geschiedenen Ehemann ausgegangene § 68 Abs. 2 AVG setze den Erwerb des Unterhaltsanspruchs "infolge Auflösung der Ehe" voraus; daran fehle es aber in ihrem Fall, weil sie den Unterhaltsverzicht vor Eintritt der Rechtskraft des Ehescheidungsurteils erklärt habe. Im übrigen sei sie zu dem Unterhaltsverzicht durch eine unzutreffende (unvollständige) Auskunft der Beklagten veranlaßt worden.
Die Beklagte beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und auch insofern begründet, als das LSG die Vorschriften der §§ 58 ff EheG nicht richtig angewendet hat.
Der Anspruch der Klägerin auf Auszahlung der wiederaufgelebten Witwenrente hängt davon ab, ob die Klägerin ohne den vor Rechtskraft des Scheidungsurteils erklärten Verzicht einen Unterhaltsanspruch infolge der Auflösung ihrer zweiten Ehe erworben hätte und ob sie sich diesen Anspruch trotz des Verzichtes anrechnen lassen muß.
Der Einwand der Klägerin, die Beklagte sei an ihre - unvollständige - Auskunft gebunden oder kraft ihrer Haftung wegen Amtspflichtverletzung schon im sozialgerichtlichen Verfahren zum Schadensausgleich verpflichtet, ist rechtlich unerheblich. Die Sozialgerichte haben nur zu prüfen, ob die Beklagte durch die der Klägerin erteilte Auskunft in ihrer Entscheidung gebunden war. Das ist aber eindeutig nicht der Fall; denn die Mitteilung der Beklagten vom 18. Dezember 1957 war nicht auf den vorliegenden konkreten Sachverhalt bezogen. Die Beurteilung der Frage, ob der Klägerin etwa deshalb ein Schadensersatzanspruch zusteht, weil sie auf Grund jener Auskunft der Beklagten auf Unterhalt verzichtet hat, obliegt - wie schon das LSG zutreffend dargelegt hat - allein den Zivilgerichten. Im sozialgerichtlichen Verfahren kann ein Ersatz des Schadens wegen Amtshaftung - dieser könnte allenfalls in dem Verlust des Unterhaltsanspruchs gegen den geschiedenen zweiten Mann bestehen - nicht geltend gemacht werden.
Auch der weitere Einwand der Klägerin, der von ihr erklärte Unterhaltsverzicht müsse von der Beklagten deswegen berücksichtigt werden, weil nur wirklich bestehende und realisierbare Ansprüche angerechnet werden dürften, ist unbeachtlich. Der Senat ist - mit dem LSG - der Auffassung, daß sich die Klägerin so behandeln lassen muß, als hätte sie vor der Rechtskraft des Scheidungsurteils auf den Unterhaltsanspruch gegen ihren zweiten Mann nicht verzichtet.
Der Senat hat schon in seinem Urteil vom 29. Mai 1963 (BSG 19, 153) entschieden, daß zwischen den von der Witwe infolge der Ehescheidung erworbenen Ansprüchen und der wiederaufgelebten Witwenrente eine bestimmte Rangfolge besteht, nach welcher die Witwenrente dem Unterhaltsanspruch der zweiten Ehe gegenüber subsidiär ist. Das Wiederaufleben der Witwenrente für den Fall der Auflösung der zweiten Ehe soll der Witwe den Entschluß zur Wiederheirat erleichtern. Deshalb gewährleistet das Gesetz - falls die zweite Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst wird - grundsätzlich die gleiche Versorgung wie nach der ersten Ehe. Diese "Mindestversorgung" soll jedoch in erster Linie aus den infolge Auflösung der zweiten Ehe neu erworbenen Ansprüchen bestritten werden; erst wenn die Versorgung hieraus hinter der nach der ersten Ehe zurückbleibt, soll die wiederaufgelebte Witwenrente die entstandene Versorgungslücke füllen. Der 11. Senat hat in einem ähnlich liegenden Rechtsstreit (vgl. Urteil vom 2. September 1964 -11/1 RA 189, 61 - SozR § 1291 RVO Nr. 9) an die Ausführungen des erkennenden Senats angeknüpft und dargelegt, daß der Wille des Gesetzgebers im Wortlaut der Vorschrift des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG einen zu engen Ausdruck gefunden habe und somit eine berichtigende erweiternde Auslegung geboten sei. Der Sinn und Zweck des § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG erfordere auch die Anrechnung von Unterhaltsansprüchen, die wegen eines Verzichts der Witwe zwar nicht "erworben" wurden, ohne den Verzicht aber "erworben worden wären". Nach der Ansicht des 11. Senats widerspricht es dem Sinngehalt des § 68 Abs. 2 AVG, daß die Witwe selbst - etwa durch Abschluß eines Unterhaltsvergleichs mit dem zweiten Ehemann - eine Versorgungslücke schafft und auf diese Weise die vom Gesetz vorgesehene "Rangfolge" der für ihre Versorgung heranzuziehenden Ansprüche umstößt. Der Umstand, daß das Gesetz Unterhaltsvereinbarungen (Unterhaltsverzicht vor Rechtskraft der Scheidung) zulasse, ändere daran nichts. Wenn die Unterhaltsabkommen im Rahmen des § 68 Abs. 2 AVG nicht beachtet würden, werde der Witwe weder die Möglichkeit genommen, zur Erleichterung ihrer Scheidung - eine Unterhaltsvereinbarung zu treffen, noch würde deren Rechtswirksamkeit im Verhältnis zwischen den Eheleuten angetastet.
Der erkennende Senat schließt sich der vom 11. Senat in dem erwähnten Urteil zur Auslegung des § 68 Abs. 2 AVG fortentwickelten Rechtsprechung nach eigener Prüfung der Rechtslage für den vorliegenden Fall an. Unterhaltsvereinbarungen sind demnach nicht zu beachten, wenn sie die Rangfolge von Ansprüchen aus der Rentenversicherung umkehren. Aus diesem Grunde muß sich die Klägerin - auch wenn sie vor der Rechtskraft des Scheidungsurteils auf Unterhalt verzichtet hat - einen nach den gesetzlichen Vorschriften begründeten (fiktiven) Unterhaltsanspruch anrechnen lassen.
Dieses Ergebnis steht auch nicht im Widerspruch zu der Entscheidung des 11. Senats vom 4. November 1964 (Az.: 11/1 RA 127/63 - SozR § 1291 RVO Nr. 10), wonach die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs zu unterbleiben hat, wenn er nicht zu verwirklichen ist. Wie sich aus den Entscheidungsgründen dieses Urteils ergibt, hatte der 11. Senat über einen anderen Sachverhalt zu entscheiden, nämlich darüber, ob bei einer wiederaufgelebten Witwenrente die Anrechnung eines Unterhaltsanspruchs nach § 68 Abs. 2 Satz 1 AVG auch dann zu erfolgen hat, wenn die Witwe den ihr tatsächlich zustehenden und durch einen Unterhaltstitel bestätigten Unterhaltsanspruch auch bei Inanspruchnahme staatlicher Vollstreckungshilfe (Lohnpfändungen, Verurteilung des Schuldners wegen Verletzung der Unterhaltspflicht u.a.m.) nicht verwirklichen kann.
Die Klägerin muß sich demnach den Betrag anrechnen lassen, den ihr der geschiedene zweite Mann ohne den Verzicht als Unterhalt leisten müßte. Die insoweit vom LSG getroffenen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um - wie das Berufungsgericht meint - einen Unterhaltsanspruch der Klägerin im Betrage von jedenfalls mehr als 64,90 DM monatlich anzunehmen. Bas LSG hat nämlich seiner Prüfung allein die Feststellungen des Zivilgerichts zugrunde gelegt; diese betreffen nur die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des geschiedenen Mannes, nicht aber diejenigen der Klägerin; für den Unterhaltsanspruch der Kinder gegen den Vater hatten letztere auch keine Bedeutung. Somit hat aber das Berufungsgericht eigene Feststellungen über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Klägerin nicht getroffen. Für den Unterhaltsanspruch nach §§ 58 ff EheG sind, jedoch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Frau ebenso bedeutsam, wie diejenigen des Mannes. Die Revision hat somit eine Verletzung der §§ 58 ff EheG zu Recht gerügt. Das angefochtene Urteil muß deshalb aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz). Sollte das Berufungsgericht bei seiner neuen Verhandlung zu der Überzeugung kommen, daß die Klägerin wegen ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse keinen Unterhaltsanspruch gegen ihren geschiedenen zweiten Mann erworben hat, so wäre trotz des Verzichts auf den Unterhaltsanspruch die Rente voll auszuzahlen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen