Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Urteil vom 21.09.1989) |
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 1989 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Klägerin, türkische Staatsangehörige, begehrt für ihr am 7. November 1986 geborenes Kind S. … Erziehungsgeld (ErzG). Sie reiste im November 1985 mit einem dreimonatigen Besuchervisum zu ihrem in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten türkischen Ehemann. Im Mai 1986 erhielt sie eine befristete Aufenthaltserlaubnis bis September 1986. Auf ihren Verlängerungsantrag wurde bis zur Erteilung einer weiteren Aufenthaltserlaubnis vom 29. September 1987 bis zum 28. September 1988 der Aufenthalt als vorläufig erlaubt bescheinigt.
Ein erster Antrag auf ErzG wurde unter Hinweis auf den vorübergehenden Charakter des Aufenthalts der Klägerin abgelehnt (Bescheid vom 9. Februar 1987). Ein Folgeantrag blieb aus demselben Grunde erfolglos (Bescheid vom 22. Juni 1987). Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde wegen Verspätung zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 6. Oktober 1987). Während des Klageverfahrens bestätigte der Beklagte diese Bescheide unter Bezugnahme auf § 44 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren -(SGB X); die ab 29. September 1987 gültige Aufenthaltserlaubnis falle nicht mehr in die höchstmögliche Bezugszeit für ErzG von zehn Monaten (Bescheid vom 16. November 1987).
Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 15. Juli 1988; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 21. September 1989). Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin gegen die Rechtsauffassung des LSG, daß die Voraussetzung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet für den Anspruch auf ErzG bei befristeten Aufenthaltserlaubnissen zu verneinen sei. Es reiche vielmehr aus, wenn ein Ende des Aufenthalts im Bundesgebiet aus der Sicht der in Frage kommenden Bezugszeit nicht zu erwarten sei. Das sei bei ihr der Fall gewesen. Sie habe von Anfang an den Willen gehabt, auf Dauer im Bundesgebiet zu verbleiben, und habe wegen der Praxis der Ausländerbehörde in Fragen des Familiennachzugs auch die sichere Aussicht gehabt, auf Dauer verbleiben zu dürfen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die angefochtenen Urteile aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 16. November 1987 sowie Rücknahme der Bescheide vom 9. Februar 1987, 22. Juni 1987 und 6. Oktober 1987 zu verurteilen, ErzG für die Zeit vom 7. November 1986 bis zum 6. September 1987 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht erkannt, daß der Beklagte nicht verpflichtet ist, die bestandskräftig gewordenen Bescheide zurückzunehmen und der Klägerin ErzG zu gewähren.
Gegenstand des Rechtsstreits ist allein noch der während des Klageverfahrens ergangene Bescheid vom 16. November 1987, mit dem es der Beklagte abgelehnt hat, seine früheren Bescheide zurückzunehmen. Während der Bescheid vom 9. Februar 1987 unangefochten geblieben und dadurch bestandskräftig (§ 77 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) geworden ist, hat das SG die gegen den Bescheid vom 22. Juni 1987 idF des Widerspruchsbescheides vom 6. Oktober 1987 erhobene Klage wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist als unbegründet abgewiesen. Die Klägerin hat dies im Berufungsverfahren nicht angegriffen. Auch im Revisionsverfahren werden von der Klägerin insoweit keine Rügen erhoben.
Zutreffend haben die Vorinstanzen den auf § 44 SGB X gestützten Bescheid vom 16. November 1987 gemäß § 96 SGG in das Verfahren einbezogen und darüber sachlich entschieden. Mit diesem Bescheid verneinte der Beklagte seine Pflicht, die vorangegangenen Bescheide als rechtswidrig zurückzunehmen (sog negativer Zugunstenbescheid). § 96 SGG gibt die prozessuale Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit eines nachträglich erlassenen Bescheides, der einen früheren Bescheid ändert oder ersetzt, im anhängigen Klageverfahren mitzuprüfen, um das gesamte Streitverhältnis schnell und erschöpfend zu klären. Aus Gründen der Prozeßökonomie ist die Vorschrift weit auszulegen (BSGE 47, 168 = SozR 1500 § 96 Nr 13; BSGE 47, 241 = SozR 4100 § 34 Nr 11; SozR 1500 § 96 Nr 30; Peters/ Sautter/ Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, § 96 Anm 1b; Meyer-Ladewig, SGG, 4. Aufl, § 96 RdNr 9). Für auf § 44 SGB X gestützte Folgebescheide ist die Einbeziehung in das anhängige Streitverfahren in der Rechtsprechung des BSG zwar noch nicht ausdrücklich bejaht worden; sie ergibt sich aber daraus, daß hier ebenfalls über die Rechtmäßigkeit der früheren Verwaltungsakte entschieden wird und der Streitgegenstand deswegen weitgehend identisch ist.
Zutreffend haben die Vorinstanzen auch die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 16. November 1987 bejaht. Der Beklagte hat bei Erlaß der bestandskräftig gewordenen Bescheide weder das Recht unrichtig angewandt noch ist er von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen hat; er ist deshalb nicht zur Rücknahme dieser Verwaltungsakte verpflichtet (§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB X). Mit den bestandskräftig gewordenen Bescheiden hat der Beklagte der Klägerin zu Recht ErzG versagt, weil sie während des in Frage kommenden Leistungszeitraums vom 7. November 1986 bis zum 6. September 1987 (§ 4 Abs 1 Bundeserziehungsgeldgesetz ≪BErzGG≫ idF vom 6. Dezember 1985 – BGBl I 2154 –) nicht – wie dies § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG verlangt – ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich dieses Gesetzes hatte. Dazu genügt nicht, daß sie von vornherein auf Dauer im Bundesgebiet verbleiben wollte, aus ihrer Sicht mit einer Abschiebung nicht zu rechnen hatte und sich tatsächlich bereits seit November 1985 im Bundesgebiet aufhält. Für den Anspruch auf ErzG war vielmehr auch schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BErzGG und anderer Vorschriften vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1297) Voraussetzung, daß der Erziehende ein hinreichend gesichertes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hatte. Dies hat bereits der zuerst mit Angelegenheiten des BErzGG befaßt gewesene 11. Senat so entschieden (BSGE 62, 67 = SozR 7833 § 1 Nr 1). Der später zuständig gewordene 4. Senat hat dies fortentwickelt und klargestellt, daß es nicht auf die bisherige tatsächliche Aufenthaltsdauer und eine Prognose über die weitere tatsächliche Dauer des Aufenthalts ankomme, sondern auf einen nicht nur vorübergehend rechtlich gesicherten Aufenthalt während des in Betracht kommenden Leistungszeitraums (vgl BSGE 65, 261 = SozR 7833 § 1 Nr 7; SozR 3-7833 § 1 Nrn 1, 2 und 3; Urteile vom 30. April 1991 – 4 REg 13/90 und 4 REg 14/90 –). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsauslegung an. Sie folgt aus der gesetzgeberischen Absicht, ErzG nur solchen Erziehenden zugute kommen zu lassen, die sich erlaubt im Bundesgebiet aufhalten und deren Erziehungsleistung der Gemeinschaft dauerhaft zugute kommt (vgl Regierungsentwurf zum BErzGG, BT-Drucks 10/3792 S 1).
Die weitere gesetzgeberische Entwicklung hat diese Rechtsauslegung bestätigt. Mit dem bereits erwähnten Gesetz zur Änderung des BErzGG hat der Gesetzgeber an § 1 Abs 1 folgenden Satz 2 angefügt: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist, die nicht nur für einen bestimmten, seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilt worden ist”. Dieser Satz ist durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354) wie folgt geändert worden: „Für den Anspruch eines Ausländers ist Voraussetzung, daß er im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsbefugnis ist”. Das rechtfertigt es, „den Vorbehalt des berechtigten Aufenthalts” als zusätzliche Anspruchsvoraussetzung aus dem Zusammenhang des BErzGG abzuleiten, und nicht aus dem in § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG geforderten und in § 30 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I) umschriebenen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt. Ob sich die normative Bedeutung dieser Begriffe erst aus dem Gesetz ergibt, das sie verwendet (so BSGE 67, 243, 246 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2), ob diese also in verschiedenen Gesetzen unterschiedlich ausgelegt werden dürfen (hiergegen: Igl, Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart 13, 213, 215; Ebsen, Deutsches Anwaltsinstitut e.V., Dokumentation 4. Sozialrechtliche Jahrestagung, Bochum 1992, S 32, 52), kann offen bleiben.
Die Fassung des § 1 BErzGG, durch das Gesetz vom 9. Juli 1990 läßt ebenfalls erkennen, daß ein nur geduldeter oder vorübergehend erlaubter Aufenthalt zur Anspruchsbegründung nicht ausreichen soll. Denn in der Aufzählung der Aufenthaltsgenehmigungsarten, wie sie die Neuregelung mit sich gebracht hat (vgl § 5 Ausländergesetz ≪AuslG≫ nF), fehlen genau diejenigen, die nur zu einem vorübergehenden Zweck erteilt werden: Die Aufenthaltsbewilligung (§ 28 AuslG) und die Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber (§ 20 Asylverfahrensgesetz ≪AsylVerfG≫. Daraus folgt, daß auch die vorläufige Duldung oder vorläufige Erlaubnis des Aufenthaltes wegen einer beantragten Aufenthaltsgenehmigung, die nunmehr anstelle von § 21 Abs 3 AuslG (idF vom 28. April 1965 – BGBl I 353 – ≪aF≫) in § 69 AuslG nF geregelt sind, ebenfalls für die Anspruchsberechtigung nicht ausreichen können.
Die Klägerin, die zunächst mit einer auf Besuchszwecke beschränkten Aufenthaltserlaubnis in Form des Sichtvermerks eingereist war, hatte im fraglichen Leistungszeitraum keine Aufenthaltserlaubnis mehr. Die nach dem Besuchervisum erteilte weitere kurzfristige Aufenthaltserlaubnis galt im möglichen Bezugszeitraum für ErzG nicht mehr. Der Klägerin war lediglich wegen ihres Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis eine mehrfach verlängerte Bescheinigung über den vorläufig erlaubten Aufenthalt gemäß § 21 Abs 3 AuslG aF ausgestellt worden. Dies läßt sich aus den in den Verwaltungsakten enthaltenen Ablichtungen des Reisepasses unmittelbar entnehmen. Soweit im Tatbestand des angefochtenen Urteils von vorläufigen Aufenthaltserlaubnissen die Rede ist, handelt es sich ersichtlich nur um eine sprachliche Ungenauigkeit, die entsprechend richtig zu stellen ist (vgl BSG SozR Nr 15 zu § 3 BVG und den Leitsatz SozR Nr 7 zu § 163 SGG).
Die Klägerin hatte im fraglichen Leistungszeitraum aber auch nicht abweichend von § 2 Abs 1 Satz 2 AuslG zumindest einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, so daß offenbleiben kann, ob dies vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung ab 1. Juli 1989 genügt hätte (vgl dazu Urteil des Senats vom 24. März 1992 – 14b/4 REg 23/91 – zur Veröffentlichung bestimmt). Die Klägerin gehörte nicht zu den anerkannten Asylanten (§ 29 AsylVerfG idF vom 16. Juli 1982 – BGBl I 946) oder zu den bevorrechtigten EG-Angehörigen (vgl §§ 3 f des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ≪AufenthaltsG/EWG≫ idF der Bekanntmachung vom 31. Januar 1990 – BGBl I 116). Als Angehörige eines türkischen Arbeitnehmers konnte sie aufgrund von Art 7 des Beschlusses 1/80 des durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der EWG und der Türkei geschaffenen Assoziationsrates frühestens nach drei Jahren eines ordnungsgemäßen Wohnsitzes im Bundesgebiet ein Recht auf freien Zugang zum Arbeitsmarkt und dadurch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erwerben (vgl EuGH vom 20. September 1990 – InfAuslR 1991, 1 mit Anmerkung Rittstieg). Das wäre erst Ende 1989 der Fall gewesen.
Die Ende September 1987 erteilte Aufenthaltserlaubnis für ein Jahr kommt für eine Änderung der bestandskräftig gewordenen Verwaltungsakte gemäß § 48 SGB X schon deshalb nicht in Betracht, weil sie ebenfalls außerhalb der höchstmöglichen Bezugszeit für ErzG von seinerzeit zehn Monaten liegt. Es kann deshalb hier offenbleiben, ob eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltserlaubnis einen hinreichend gesicherten Aufenthalt für den Bezug von ErzG gewährleistet.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.
Fundstellen