Orientierungssatz
Zur Frage des Umfangs der Sachaufklärungspflicht des Gerichts bei der medizinischen Beurteilung über den gesundheitlichen Zustand eines Versorgungsberechtigten oder über die Ursachen einer Gesundheitsstörung.
Normenkette
SGG § 103
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 22.11.1956) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. November 1956 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Im Oktober 1947 beantragte der Kläger Rente nach dem Gesetz über Leistungen an Körperbeschädigte (KBLG) wegen "Lähmung des linken Beines", die mit einer in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft durchgemachten Enteritis in Zusammenhang stehe. Nach einer Untersuchung am 29. Dezember 1948 beurteilte der Versorgungsarzt Dr. B in seinem Gutachten vom 9. April 1949 die Lähmung des linken Beines als psychogen, da es sich bei dem Leiden um Erscheinungen handle, die nicht durch organische Veränderungen des Nervensystems bedingt, sondern durch eine Zweckreaktion ausgelöst seien. Die Nervenklinik der Universität M vertrat in ihrer Stellungnahme vom 29. März 1949 die Auffassung, daß es sich bei dem Kläger lediglich um eine Inaktivitätsatrophie handle, weil die elektrische Untersuchung der Muskulatur und der Reflexbefund völlig normale Reaktionen ergeben hätten. Durch Bescheid vom 29. Juli 1949 lehnte die Landesversicherungsanstalt (LVA.) O den Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente nach dem KBLG mit der Begründung ab, daß eine psychogene Lähmung des linken Beines vorliege und daher ein ursächlicher Zusammenhang dieses Leidens mit dem Wehrdienst des Klägers nicht angenommen werden könne.
Das Oberversicherungsamt (OVA.) hat in der mündlichen Verhandlung am 6. Juni 1952 den Facharzt für Nervenkrankheiten Dr. S gehört. Dieser Sachverständige hat in Übereinstimmung mit den bereits vorliegenden ärztlichen Äußerungen dahin Stellung genommen, daß alle Anhaltspunkte für eine organische Lähmung des linken Beines fehlten. Die Annahme einer psychogenen Lähmung sei im Hinblick auf eine deutliche Aggravation bei der Untersuchung gerechtfertigt. Ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Wehrdienst bestehe nicht, die Lähmung sei vielmehr als eine Zweckreaktion aufzufassen, deren Ursache in einer abwegigen Persönlichkeitsveranlagung zu suchen sei. Gestützt auf diese ärztliche Stellungnahme hat das OVA. München durch Urteil vom 6. Juni 1952 die Berufung des Klägers (nach altem Recht) gegen den Bescheid der LVA. O vom 29. Juli 1949 zurückgewiesen.
Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Rekurs zum Bayerischen Landesversicherungsamt eingelegt, der nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) am 1. Januar 1954 als Berufung (neuen Rechts) auf das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) übergegangen ist. Er hat im Berufungsverfahren Bescheinigungen seines behandelnden Arztes, Dr. L, vom 2. Februar 1953 und 9. November 1954 vorgelegt, in denen dieser die Auffassung vertritt, es liege eine spastische Lähmung des linken Beines vor, die mit einer in amerikanischer Kriegsgefangenschaft durchgemachten Ruhr mit Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang stehe. Das LSG. hat auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG ein Gutachten der Orthopädischen Universitätsklinik M vom 10. Juli 1956 eingeholt. Die Sachverständigen Prof. Dr. L und Dr. G sind auf Grund eingehender Befunderhebung zu der Überzeugung gelangt, daß eine Lähmung des linken Beines oder eine lähmungsartige Störung nicht vorliege. Es bestehe eine Inaktivitäts- und Schonungsschwäche im Sinne einer Zweckreaktion auf der Basis einer besonderen psychischen Struktur. Ein Zusammenhang mit der in amerikanischer Kriegsgefangenschaft durchgemachten Enteritis sei von Seiten des orthopädischen Fachgebietes nicht hinreichend wahrscheinlich. Im Hinblick auf die Vorgeschichte, aus der im Anschluß an eine Ruhrerkrankung mehrfach Verdachtsmomente in bezug auf meningitische oder encephalitische Hirnstörungen zu entnehmen seien, werde eine Untersuchung im Rahmen stationärer Beobachtung auf einer neurologischen Abteilung vorgeschlagen.
Durch Urteil vom 22. November 1956 hat das LSG. die Berufung des Klägers gegen die Entscheidung des OVA. M vom 6. Juni 1952 zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. In den Entscheidungsgründen wird im wesentlichen folgendes ausgeführt: Nach den übereinstimmenden, im Verfahren erhobenen Gutachten sei die Annahme einer psychogenen Lähmung gerechtfertigt, die mit dem Wehrdienst nichts zu tun habe, vielmehr als Zweckreaktion aufgefaßt werden müsse. In Anbetracht der eindeutigen fachärztlichen Befunde und Beurteilungen bestehe kein Anlaß, ein weiteres neurologisches Gutachten beizuziehen, da die geltend gemachte Gesundheitsstörung nicht organisch, sondern psychogen bedingt sei und damit nicht mit Wahrscheinlichkeit in einem ursächlichen Zusammenhang mit der im Jahre 1945 in der Kriegsgefangenschaft durchgemachten Enteritis stehe.
Gegen dieses am 8. Februar 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 5. März 1957 - eingegangen beim Bundessozialgericht (BSG.) an dem selben Tage - Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Er beantragt,
1) das angefochtene Urteil und die diesem zugrunde liegenden Vorentscheidungen aufzuheben und die beim Kläger bestehende Lähmung des linken Beines als Schädigungsfolge nach dem KBLG und BVG anzuerkennen und dem Kläger Rente nach Maßgabe einer Minderung seiner Erwerbsfähigkeit um 50 v. H. vom 1. Oktober 1947 an zu gewähren,
2) hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG. Er ist der Auffassung, daß das Berufungsgericht eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines neurologischen Gutachtens - wie von ihm schon in der mündlichen Verhandlung am 22. November 1956 ausdrücklich beantragt - hätte vornehmen müssen, weil die Orthopädische Universitätsklinik M im Hinblick auf die Vorgeschichte, aus der im Anschluß an eine Ruhrerkrankung des Klägers mehrfach Verdachtsmomente in bezug auf meningitische oder encephalitische Hirnstörungen zu entnehmen seien, eine Untersuchung auf einer neurologischen Abteilung vorgeschlagen habe. Diesen fachärztlich empfohlenen Beweisantrag habe das LSG. ohne stichhaltige Gründe übergangen. Darin sei auch eine Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung zu erblicken.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen LSG. vom 22. November 1956 als unzulässig zu verwerfen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend; er ist insbesondere der Auffassung, daß eine weitere Sachaufklärung durch Einholung eines neurologischen Gutachtens nicht notwendig gewesen sei, weil der Kläger bereits mehrfach fachärztlich-neurologisch untersucht und beurteilt worden sei. Die Orthopädische Universitätsklinik M habe wohl bei ihrem Vorschlag auf Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens die wiederholten neurologischen Untersuchungen und Beurteilungen übersehen. Das Berufungsgericht habe auch in dem angefochtenen Urteil den gesamten Prozeßstoff gewürdigt und seine Auffassung eingehend begründet, so daß eine Verletzung des § 128 SGG nicht vorliege.
Die Parteien haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG einverstanden erklärt.
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist - da vom LSG. nicht zugelassen - nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird und auch vorliegt (BSG. 1 S. 150).
Der Kläger bringt vor, daß das Berufungsgericht den Sachverhalt unzureichend aufgeklärt habe. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Hierbei muß es das tatsächliche Vorbringen der Beteiligten zwar berücksichtigen; es ist jedoch an das Vorbringen und die Beweisanträge nicht gebunden (§ 103 Satz 2 SGG). Zur Feststellung, ob die für das Bestehen oder Nichtbestehen des geltend gemachten Anspruchs erheblichen Tatsachen vorliegen, hat das Gericht alle geeigneten und notwendigen Ermittlungen anzustellen. Über den Umfang der zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Ermittlungen entscheidet der Tatrichter im Rahmen der ihm obliegenden Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts. Er verletzt seine Aufklärungspflicht, wenn er eine tatsächliche Frage über den gesundheitlichen Zustand eines Versorgungsberechtigten oder über die Ursache einer Gesundheitsstörung entscheidet, die er auch vom Standpunkt eines lebenserfahrenen Richters nicht aus eigener Sachkunde entscheiden kann, oder wenn er seine Feststellung auf ein Gutachten stützt, das in sich widerspruchsvoll oder wegen anderer Mängel zur Erforschung der rechtserheblichen Tatsachen nicht geeignet oder nicht ausreichend ist (vgl. BSG. 1 S. 91).
Im vorliegenden Falle ist zwischen den Parteien streitig, ob beim Kläger eine Lähmung seines linken Beines auf eine in der Kriegsgefangenschaft durchgemachte Enteritis nach Ruhr zurückzuführen ist. Die im Verfahren gehörten Sachverständigen - zwei kurze, nicht näher begründete Atteste des behandelnden Arztes Dr. L vom 2. Februar 1953 und 9. November 1954 ausgenommen - haben unter eingehender Begründung eine spastische Lähmung des linken Beines abgelehnt und diese Gesundheitsstörung als psychogen im Sinne einer Zweckreaktion (Inaktivitäts- und Schonungsschwäche des linken Beines) bezeichnet. Zu dieser Beurteilung ist insbesondere auch die Orthopädische Klinik M in ihrem Gutachten vom 10. Juli 1956 gelangt. Diese Klinik hat aber am Schluß ihres eingehenden Gutachtens noch folgendes ausgeführt: "Im Hinblick auf die Vorgeschichte, aus welcher im Anschluß an eine Ruhrerkrankung mehrfach Verdachtsmomente in bezug auf meningitische oder encephalitische Hirnstörungen zu entnehmen sind, schlagen wir eine Untersuchung im Rahmen stationärer Beobachtung auf einer neurologischen Abteilung vor, um durch spezielle Untersuchungsmethoden (insbesondere Elektroencephalogramm) noch die Frage näher zu überprüfen, ob von dieser Seite aus ebenfalls objektiv faßbare Störungen zu verneinen sind". Die Orthopädische Klinik M hat sich entsprechend dieser Anregung mit der Universitäts-Nervenklinik M in Verbindung gesetzt, die sich hierzu in ihrem Schreiben vom 26. Juli 1956 wie folgt geäußert hat: "Der Fall ist neurologisch recht kompliziert. Ich glaube aber nicht an eine hysterische Lähmung. Ich benötige zur Abfassung meines Gutachtens aber den Akt, um zu den Vorgutachten Stellung nehmen zu können. Außerdem sind Ergänzungsuntersuchungen (Elektromyographie u. ä.) notwendig." Zu der vorgeschlagenen neurologischen Untersuchung des Klägers ist es aber nicht mehr gekommen; vielmehr hat das LSG. die Berufung ohne weitere Sachaufklärung zurückgewiesen. Es hat sich in dem angefochtenen Urteil auf die erhobenen Gutachten gestützt und im Hinblick auf die übereinstimmende Beurteilung der Sachverständigen die Lähmung des linken Beines als psychogen bezeichnet. Die Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens hat das LSG. lediglich mit der Begründung abgelehnt, es stehe für den Senat außer Zweifel, daß die geltend gemachte Gesundheitsstörung nicht organisch, sondern psychogen bedingt sei und damit wahrscheinlich in keinem ursächlichen Zusammenhang mit der im Jahre 1945 in der Gefangenschaft durchgemachten Enteritis stehe.
Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht, weil das LSG. die Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens entsprechend der Anregung der Sachverständigen der Orthopädischen Klinik M in ihrem Gutachten vom 10. Juli 1956 abgelehnt habe. Insoweit liegt eine Verletzung des § 103 SGG vor. Die Orthopädische Klinik M hat die Lähmung des linken Beines als Schädigungsfolge deswegen abgelehnt, weil jedenfalls auf dem orthopädischen Fachgebiet ein ursächlicher Zusammenhang zu verneinen sei. Die Sachverständigen haben es aber ausdrücklich offengelassen, ob ein solcher Zusammenhang wegen evtl. Folgeerscheinungen der in der Gefangenschaft durchgemachten Ruhr (meningitische und encephalitische Hirnstörungen) gegeben sein könnte; sie haben deswegen auch die Einholung eines weiteren neurologischen Gutachtens für erforderlich gehalten. Bei dieser Sachlage hätte sich das LSG. gedrängt fühlen müssen, die von sachverständiger Seite angeregte weitere Aufklärung in neurologischer Hinsicht vorzunehmen, zumal die bisherigen Untersuchungen durch Neurologen nicht auf speziellen Untersuchungsmethoden (z. B. Elektroencephalogramm und Elektromyographie) beruhen. Eine solche Sachaufklärung konnte auch nicht etwa deswegen entfallen, weil das LSG. auf Grund des Beweisergebnisses zu der Auffassung gelangt war, die Lähmung des linken Beines beim Kläger sei psychogen bedingt. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, daß Folgeerscheinungen einer Ruhr zu organ-neurologischen Störungen meningitischer und encephalitischer Art geführt haben könnten, die ihrerseits einen Einfluß auf die Lähmung des linken Beines gehabt haben könnten. Das LSG. ist auf einen solchen Zusammenhang durch das Gutachten der Orthopädischen Klinik M und das Schreiben der Universitäts-Nervenklinik vom 26. Juli 1956 auch hingewiesen worden. Es hätte daher noch eine entsprechende Sachaufklärung vornehmen müssen. Damit leidet das Verfahren vor dem Berufungsgericht wegen Verletzung des § 103 SGG an einem wesentlichen Mangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG; die Revision ist daher statthaft.
Die Revision ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf dieser mangelnden Sachaufklärung beruht; denn es besteht die Möglichkeit, daß das LSG. anders entschieden hätte, wenn es die nach den vorstehenden Ausführungen erforderliche Sachaufklärung durchgeführt hätte (vgl. BSG. 2 S. 197 = SozR. SGG § 162 Bl. Da 7 Nr. 29). Da der erkennende Senat nicht selbst entscheiden kann, weil dieser Sache noch weitere Ermittlungen erforderlich sind, muß das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Bayerische LSG. zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Bei dieser Rechtslage bedarf es keiner weiteren Prüfung, ob auch die Rüge des Klägers durchgreift, daß das Berufungsgericht die Vorschrift des § 128 SGG deswegen verletzt habe, weil es die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung überschritten habe. Da die Revision bereits wegen Verletzung des § 103 SGG statthaft ist und das Urteil des Berufungsgerichts schon aus diesem Grunde aufgehoben werden muß, braucht auf weitere Rügen, welche die Revision ebenfalls nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen könnten, nicht mehr eingegangen zu werden (vgl. BSG. in SozR. SG § 162 Bl. Da 36 Nr. 122).
Fundstellen