Leitsatz (amtlich)
AVG § 143 Abs 3 (= RVO § 1421 Abs 3) idF des RVÄnG vom 1965-06-09 gilt auch für vor dem 1957-01-01 fehlentrichtete freiwillige Beiträge.
Leitsatz (redaktionell)
AVG § 143 Abs 3 idF des RVÄndG gilt auch für die Versicherten, die Pflichtbeiträge nur zu einem Versicherungszweig nachweisen können.
Nach RVÄndG Art 5 § 5 Abs 2 gilt die Neufassung des AVG § 143 Abs 3 für vor dem 1965-07-01 entrichtete Beiträge, soweit sie noch nicht zurückgezahlt worden sind. Der Wortlaut der Übergangsvorschrift ist nicht iS einer Rückwirkung nur bis zum 1957-01-01 (Inkrafttreten des AnVNG) zu verstehen. Vielmehr erfaßt die Regelung auch vor dem 1957-01-01 entrichtete Beiträge.
Die Gewährung eines Heilverfahrens beinhaltet kein Anerkenntnis der Rechtsgültigkeit von Beiträgen.
Normenkette
AVG § 143 Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1421 Abs. 3 Fassung: 1965-06-09; RVÄndG Art. 5 § 5 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 11. September 1963 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene hat dem Kläger die im Revisionsverfahren entstandenen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Im übrigen sind keine Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die vom Kläger in der Zeit vom 1. August 1951 bis zum 31. Dezember 1956 freiwillig zur Angestelltenversicherung (AnV) entrichteten Beiträge von der Beklagten an die Beigeladene zu überweisen und von dieser als rechtswirksame Beiträge der Arbeiterrentenversicherung (ArV) zu behandeln sind.
Der im Jahre 1901 geborene Kläger leistete von 1917 bis 1951 Pflichtbeiträge zur ArV. Nach seiner Übernahme in das Angestelltenverhältnis im Juli 1951 war er bis März 1957 wegen Überschreitens der Jahresarbeitsverdienstgrenze nicht versicherungspflichtig. In der fraglichen Zeit entrichtete er freiwillige Beiträge zur AnV.
Mit Schreiben an den Kläger vom 14. Mai 1958 beanstandete die Beklagte die freiwillig entrichteten Beiträge, weil der Kläger weder zur Weiterversicherung in der AnV noch zur Selbstversicherung berechtigt gewesen sei. Eine Rückzahlung komme wegen eines dem Kläger im Jahre 1956 gewährten Heilverfahrens nicht in Betracht. In einem Bescheid vom 21. Januar 1960 führte die Beklagte aus, die Beiträge könnten auch nicht nach § 143 Abs. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) idF des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 (BGBl I 88) an die Beigeladene überwiesen werden, weil diese Vorschrift nur für Versicherte gelte, die wirksam Beiträge zu mehreren Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet haben. Widerspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Im Berufungsverfahren erklärte sich die Beklagte zur Überweisung der Beiträge an die Beigeladene bereit; die Beigeladene lehnte jedoch die Annahme ab. Der Kläger begehrte daraufhin in erster Linie unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Beklagte zur Überweisung und die Beigeladene zur Annahme der für die Zeit vom 1. August 1951 bis 31. Dezember 1956 entrichteten freiwilligen Beiträge zu verurteilen, hilfsweise, festzustellen, daß diese Beiträge ein gültiges Versicherungsverhältnis zur AnV begründet hätten.
Das Landessozialgericht (LSG) gab den Hauptanträgen statt: § 143 Abs. 3 AVG idF des AnVNG regele nicht nur - worauf der in der Vorschrift enthaltene Hinweis auf § 10 Abs. 3 AVG schließen lassen könne - Fälle der Wanderversicherung, sondern sei stets dann anzuwenden, wenn der zuständige Versicherungsträger verfehlt worden sei (Urteil vom 11. September 1963).
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beigeladene,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 4. Juli 1961 zurückzuweisen.
Sie hält § 143 Abs. 3 AVG für verletzt. Zwar sei die vom LSG vorgenommene Auslegung der Bestimmung durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 (BGBl I 476) Gesetz geworden. Das Klagebegehren sei aber dennoch nicht gerechtfertigt, weil die Regelung nur für Beitragszeiträume vom 1. Januar 1957 an gelte.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Die Revision ist zulässig, im Ergebnis aber unbegründet.
Die von der Beklagten beanstandeten Beiträge des Klägers sind an die Beigeladene zu überweisen und von dieser als zu Recht zur ArV geleistet zu behandeln.
Dieses Ergebnis rechtfertigte sich - wie der Beigeladenen zuzugeben ist - allerdings nicht schon aus der vor dem RVÄndG geltenden Fassung des § 143 Abs. 3 AVG (vgl. BSG 11. Senat, Urteile vom 23. März 1965 - 11/1 RA 19/61 - SozR § 1421 Bl. Aa 1 Nr. 1 und 11/1 RA 198/62; ferner Urteil des 12. Senats vom 26. Mai 1964 - 12/4 RJ 128/61 - Praxis 1964, 450). Durch Art. 1 § 2 Nr. 45 RVÄndG ist jedoch der früher in der Vorschrift enthaltene Hinweis auf § 10 Abs. 3 AVG und damit die Beschränkung auf echte Wanderversicherte entfallen. Nunmehr schützt die Bestimmung auch die Versicherten, die - wie der Kläger - Pflichtbeiträge nur zu einem Versicherungszweig nachweisen können (vgl. Amtl. Begründung zu Art. 1 § 1 Nr. 25 und Art. 1 § 2 Nr. 24 des Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in der gesetzlichen Rentenversicherung, BT-Drucks. IV/2572).
Diese Regelung erfaßt auch vor dem 1. Januar 1957 (Inkrafttreten des AnVNG) entrichtete Beiträge. Dies folgt aus Art. 5 § 5 Abs. 2 RVÄndG; danach gilt Art. 1 § 2 Nr. 45 RVÄndG auch für vor dem 1. Juli 1965 entrichtete Beiträge, soweit diese noch nicht erstattet worden sind. Damit ist die Anwendbarkeit des § 143 Abs. 3 AVG in der geänderten Fassung auch für vor dem 1. Januar 1957 liegende Beitragszeiträume klargestellt. Der Wortlaut der Übergangsvorschrift ist nicht im Sinne einer Rückwirkung nur bis zum 1. Januar 1957 zu verstehen. Dies zeigt ein Vergleich mit den übrigen Übergangsvorschriften. Soweit eine beschränkte Rückwirkung der Bestimmungen des RVÄndG gewollt war, ist dies nämlich in den einzelnen Vorschriften des Art. 5 RVÄndG ausdrücklich gesagt. So bezeichnet Art. 5 § 2 RVÄndG für den Kinderzuschuß oder die Waisenrente die Dauer der Ausbildung nach dem 30. Juni 1964 als maßgeblich; § 4 begrenzt mehrere Bestimmungen auf Versicherungsfälle, die vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind. Ebenso beschränkt § 5 Abs. 1 die Rückwirkung der in ihm bezeichneten Regelungen auf Fälle, in denen die Versicherte vor dem 1. Juli 1965, aber nach dem 31. Dezember 1956 geheiratet hat. Wenn § 5 Abs. 2 ähnliches hätte sagen wollen, so wäre auch hier der Zusatz zu erwarten gewesen "... aber nach dem 31. Dezember 1956 entrichtete Beiträge ...".
Auch nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ist anzunehmen, daß eine Beschränkung auf nach 1956 geleistete Beiträge nicht gewollt ist. Bei den Ausschußberatungen war zunächst vorgeschlagen worden, die Neuregelung nicht für die Fälle gelten zu lassen, in denen bereits ein bindender Bescheid vorlag (vgl. Kurzprotokoll des 20. BT-Ausschusses vom 16. Dezember 1964 S. 11 und vom 17. März 1965 S. 32). Dabei ist man offenbar davon ausgegangen, daß ohne diese Bestimmung frühere Beitragszeiträume unbeschränkt erfaßt werden. Die gleiche Auffassung liegt auch der schließlich Gesetz gewordenen Formulierung zugrunde (vgl. Kaufmann, BABl 1965 S. 615). Es wurde also an eine möglichst weitgehende Bereinigung aller Fälle fehlentrichteter Beiträge gedacht. Dieser Absicht würde man nicht gerecht, wenn § 143 Abs. 3 AVG idF des RVÄndG nur auf nach 1956 liegende Beitragszeiträume angewendet werden würde.
Schließlich sprechen Sinn und Zweck der Vorschrift ebenfalls für ihre Anwendung auf die früheren Beiträge. § 143 Abs. 3 AVG steht in Zusammenhang mit der durch die Neuregelungsgesetze geschaffenen Vereinheitlichung der Versicherungszweige - insbesondere der Arbeiter- und der Angestelltenrentenversicherung -, die sich nicht nur in den übereinstimmenden Vorschriften für das Beitrags- und Leistungsverfahren, sondern auch in der Gleichbehandlung der Beiträge der Wanderversicherten und der Einheit der daraus errechneten Gesamtleistung zeigt. Unter diesen Umständen erscheint es nicht gerechtfertigt, weiterhin die unrichtige Wahl des Versicherungsträgers zum Schaden des Versicherten ausschlagen zu lassen. Falls in einem Versicherungszweig das Recht zur freiwilligen Versicherung bestanden hat, bietet sich darum heute die Korrektur aller derartigen Fehlversicherungen durch Überweisung an den richtigen Versicherungsträger an. § 143 Abs. 3 AVG in der vor dem RVÄndG geltenden Fassung hatte mit dem Hinweis auf § 10 Abs. 3 AVG diesen Ausgleich noch auf bestimmte unter der Herrschaft der Neuregelungsgesetze mögliche Fälle der Fehlentrichtung beschränkt. Mit der Streichung des Hinweises durch Art. 1 § 2 Nr. 45 RVÄndG soll diese Schranke jedoch beseitigt und eine gleiche Behandlung aller zum falschen Versicherungsträger entrichteter freiwilliger Beiträge gewährleistet werden. Art. 5 § 5 Abs. 2 RVÄndG kann daher nicht anders verstanden werden, als daß auch eine zeitliche Grenze für die Regelung des § 143 Abs. 3 AVG nicht mehr gelten soll.
Eine Überweisung der zum falschen Versicherungsträger entrichteten freiwilligen Beiträge kommt danach nur dann nicht in Betracht, wenn die Beiträge nach § 145 AVG nicht mehr beanstandet werden können oder zurückgefordert werden (§ 143 Abs. 3 Sätze 1 und 3 AVG). Beides ist hier nicht der Fall.
Gegen die Ansicht des LSG, mit der Gewährung des Heilverfahrens habe die Beklagte die Gültigkeit der zur AnV entrichteten Beiträge nicht anerkannt, bestehen keine rechtlichen Bedenken. Wie schon das Reichsversicherungsamt in der Entscheidung Nr. 1682 (AN 1913 S. 405) ausgeführt hat, schließt die Prüfung, ob ein Heilverfahren zu gewähren sei, ein Urteil über die Rechtsgültigkeit der verwendeten Beitragsmarken nicht ohne weiteres ein.
Da sich danach das angefochtene Urteil im Ergebnis als zutreffend erweist, ist die Revision der Beigeladenen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen