Entscheidungsstichwort (Thema)
Verordnung des Generalkommissars in Reval. Displaced persons
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Zeit der Krankheit im Anschluß an den Militärdienst ist ebenso Ersatzzeit iS des RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 wie eine Krankheitszeit im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft.
2. Die Zeit unverschuldeter Arbeitslosigkeit ist eine Ersatzzeit iS des RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 auch dann, wenn sie unmittelbar auf eine der Kriegsdienstzeit sich anschließenden Krankheit folgt.
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Personenkreis der Displaced persons unterlag in der ersten Zeit nach dem staatlichen Zusammenbruch des Jahres 1945 nicht den deutschen Gesetzen. Das mußte aber ihre Zugehörigkeit zur ArV nicht hindern.
2. Der Kriegsdienst des Klägers (aus Estland stammend) im Verband der deutschen Wehrmacht ist als militärischer Dienst iS des BVG § 2 anzusehen.
3. Die von dem Gesetzgeber mit Nr 1 des RVO § 1251 Abs 1 in Betracht gezogene Interessenlage ist in jedem Falle einer Krankheitszeit gleich, mag diese sich nun an den Kriegsdienst oder an die Kriegsgefangenschaft anschließen.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 2
Tenor
Die Revision wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Kläger stammt aus Estland. 1961 erwarb er die deutsche Staatsangehörigkeit; seit Kriegsende lebte er als heimatloser Ausländer in der Bundesrepublik. In Estland hatte er von 1920 bis 1924 als Lehrling und Angestellter gearbeitet, war von 1925 bis 1930 aktiver Soldat der estnischen Armee und später - bis 1940 - selbständiger Kaufmann gewesen. Von 1941 bis 1946 war er Soldat in der deutschen Wehrmacht.
Infolge einer im Kriege erlittenen Verwundung (1944) verlor er das rechte Bein. Er war bis zu seiner ausreichenden prothetischen Versorgung im Juli 1950 arbeitsunfähig und behandlungsbedürftig. Anschließend war er arbeitslos; er bezog bis September 1956 Leistungen von dem zuständigen Arbeitsamt. Im Oktober 1956 nahm er erstmalig in Deutschland eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung auf; er legte jedoch bis 1961 in der Arbeiterrentenversicherung keine 60 Beitragsmonate zurück.
Die Beklagte lehnte es ab, dem Kläger die beantragte Rente zu bewilligen (Bescheid vom 23. Oktober 1962); dabei ging sie davon aus, daß der Kläger zwar erwerbsunfähig sei, die Wartezeit aber nicht erfülle. Die Militärdienstzeit sei nicht zu berücksichtigen, weil eine Versicherung vorher nicht bestanden habe und hinterher eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung nicht innerhalb der Frist des § 1251 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aufgenommen worden sei.
Zur Begründung seiner Klage machte der Kläger u.a. geltend, daß seine Beschäftigungszeiten in Estland nach der Verordnung (VO) des Generalkommissars in Reval über den Aufbau einer Sozialversicherung vom 1. Mai 1943 anzurechnen seien. Die Klage ist von dem Sozialgericht (SG) Lübeck mit Urteil vom 21. April 1964 abgewiesen worden. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat hingegen mit Urteil vom 1. April 1965 die Beklagte zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verpflichtet. Es hat hierbei die Militärdienstzeit und die darauffolgende Zeit bis September 1956 als Ersatzzeiten berücksichtigt. Daß der Kläger während seiner Behandlungsbedürftigkeit zugleich invalide im Sinne des § 1254 RVO aF gewesen sei, hindere nicht, dem Kläger eine Ersatzzeit gutzubringen. Der Gedanke, daß nach Eintritt des Versicherungsfalles, hier also nach Eintritt der Invalidität durch Verwundung, das versicherte Risiko nicht mehr verändert werden könne, stehe nicht entgegen; dies deshalb nicht, weil die Ersatzzeit sich nicht auf eine Leistung wegen Invalidität sondern wegen eines anders gearteten und später eingetretenen Versicherungsfalles auswirke. Dies gelte auch für die vor dem 1. Januar 1957 liegenden Ersatzzeiten. - Die Beschäftigungszeiten, die der Kläger in Estland verbracht habe, könnten für die Wartezeit nicht nutzbar gemacht werden. Die dafür allenfalls in Betracht kommende Vorschrift des § 16 des Fremdrentengesetzes (FRG) greife nicht Platz, weil der Kläger nicht Vertriebener, sondern heimatloser Ausländer gewesen sei. Für solche Personen scheide die Rechtswohltat des § 16 gemäß § 17 Abs. 2 Satz 2 FRG aus.
Das LSG hat die Revision zugelassen, die Beklagte das Rechtsmittel eingelegt. Sie beantragt, die Berufung des Klägers unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zurückzuweisen. Sie meint, § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO sei verletzt, weil Ersatzzeiten nicht über den Versicherungsfall hinaus andauern könnten. Dieser Grundsatz gelte für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Rentenreformgesetze mit der Maßgabe, daß vor dem 1. Januar 1957 von dem Versicherungsfall der Invalidität auszugehen sei. Krankheitszeiten, die zugleich einen Leistungsfall der Rentenversicherung begründeten, könnten schon der Sache nach nicht Ersatzzeiten sein, weil sonst unbegrenzbare Zeiträume als Ersatzzeiten in Betracht kommen könnten.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist im wesentlichen unbegründet. Dem Kläger ist der größte Teil der hier in Rede stehenden Zeiten des Kriegsdienstes, der Krankheit und Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit gutzubringen.
Mit dem Berufungsgericht ist davon auszugehen, daß vor diesen Zeiten keine Versicherung bestanden hat. Die Jahre, in denen der Kläger in Estland im Lehr- und Angestelltenverhältnis beschäftigt war, sind nicht als Versicherungszeiten zu bewerten. Die erwähnte VO des Generalkommissars in Reval vom 1. Mai 1943 sieht zwar die Berücksichtigung solcher mit Beiträgen nicht belegter Beschäftigungszeiten vor. Durch diese VO sind aber die reichsdeutschen Rentenversicherungen nicht verpflichtet worden; denn durch sie wurde nicht das deutsche Sozialversicherungsrecht als solches in Estland "eingeführt". Nur unter dieser Voraussetzung hätte aber gemäß § 3 FremdRG eine Verpflichtung deutscher Rentenversicherungen begründet sein können. Das hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits für den rechtlich gleichliegenden Fall des Aufbaus einer Sozialversicherung in Lettland in dem in BSG 24, 20 veröffentlichten Urteil (ferner Urteil vom 28. Oktober 1966 - 4 RJ 305/63 -) klargestellt.
Der Kläger kann auch nicht die Anrechnung dieser Beschäftigungszeiten gemäß § 16 FRG verlangen. Ob er die Erfordernisse dieser Gesetzesbestimmung erfüllt, kann dahinstehen. Da er nicht Vertriebener, sondern heimatloser Ausländer ist, ist er von der Rechtswohltat dieser Vorschrift ausgeschlossen (§ 17 Abs. 2 Satz 2 FRG i.V.m. § 1 Buchst. d FRG; vgl. BSG 24, 20, 23 und Urteil vom 28. Oktober 1966).
Die Ersatzzeiten sind für die Wartezeit deshalb nutzbar zu machen, weil ihnen innerhalb der Frist von zwei Jahren Beschäftigungszeiten, die mit Beiträgen zur Rentenversicherung belegt sind, folgten (§ 1251 Abs. 2 Buchst. a RVO i.d.F. vom 23. Februar 1957).
Von den zu berücksichtigenden Ersatzzeiten ist allerdings die Zeit bis zum 31. Mai 1945 auszunehmen. Nach seiner Verwundung (1944) hätte der Kläger, weil nunmehr invalide, aus rechtlichen Gründen keine Beiträge versicherungswirksam entrichten können. Die rechtliche Möglichkeit gültiger Beitragsentrichtung ist aber Voraussetzung für die Berücksichtigung von Ersatzzeiten. Das ist die Rechtsauffassung, die sich in der Rechtsprechung des BSG durchgesetzt hat (so BSG SozR Nrn. 21 und 22 zu RVO § 1251; zum Teil abweichend BSG 23, 89, 90 f.). Diese Gesetzesdeutung, die in beschränktem Umfange ein Eingehen auf die konkreten, für die Anwendung des Ersatzzeittatbestandes erheblichen Verhältnisse fordert, wird aus dem gesetzgeberischen Motiv hergeleitet, das der Ersatzzeitregelung zugrunde liegt. Wie schon die Bezeichnung zum Ausdruck bringt, soll Ersatz für Zeiten geboten werden, in denen mit Rücksicht auf einen besonderen, im Gesetz festgelegten Tatbestand die Entrichtung von Beiträgen unterblieben ist. Bis zum Mai 1945 fiel eine Beitragsentrichtung nicht aus den besonderen Gründen es § 1251 RVO aus, vielmehr hätte der Kläger in dieser Zeit, weil er invalide war, weder der Pflichtversicherung angehören (§ 1236 Abs. 1 RVO aF), noch hätte er sich freiwillig versichern können (§ 1443 RVO aF). Dies änderte sich jedoch, als die hier eingreifende Erste VO zur Vereinfachung des Leistungs- und Beitragsrechts in der Sozialversicherung vom 17. März 1945 (Vereinfachungs-VO, RGBl I, 41) in Kraft trat. Das war am 1. Juni 1945 (Art. 25 Abs. 1 aaO). Durch Art. 4 der angeführten VO wurde § 1236 RVO aF aufgehoben und damit die Versicherungspflicht invalider Personen, die als Arbeiter gegen Entgelt beschäftigt wurden, eröffnet. Von der durch die Vereinfachungs-VO geschaffenen Rechtslage ist auszugehen. Diese VO wurde zwar zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, in dem bereits größere Teile des Deutschen Reiches von alliierten Truppen besetzt waren. Gleichwohl wurde sie aber in weiten Teilen der damaligen britischen Zone und so auch am Aufenthaltsort des Klägers als geltendes Recht angesehen. Das ist von der britischen Militärregierung ausdrücklich gutgeheißen worden ( Arbeitsbl . für die britische Zone 1947, 144). Infolgedessen ist es nicht aus Rechtsgründen auszuschließen, daß der damals invalide Kläger hätte versichert sein können.
Der Zulässigkeit einer Versicherung stand ferner nicht entgegen, daß der Kläger bis zu seiner Einbürgerung 1961 die Stellung eines heimatlosen Ausländers innehatte. Er mag als solcher zum Personenkreis der "displaced persons" (DP) gehört haben. Dieser Personenkreis unterlag zwar in der ersten Zeit nach dem staatlichen Zusammenbruch des Jahres 1945 nicht den deutschen Gesetzen. Das mußte aber ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterrentenversicherung nicht hindern. Bereits die Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 1 vom 28. August 1945 (Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, 10) drängte auf den Einzug von Sozialversicherungsbeiträgen für beschäftigte "verschleppte" Personen (vgl. im übrigen auch die SVD Nr. 26 vom 21. Februar 1947, Arbeitsblatt für die britische Zone 1947, 73).
Der Kriegsdienst des Klägers im Verbande der deutschen Wehrmacht ist als militärischer Dienst im Sinne des § 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) anzusehen. Wenn der Kläger auch damals kein deutscher Reichsangehöriger war, so vermochte er gleichwohl die Merkmale des militärischen Dienstes zu erfüllen (vgl. § 18 Abs. 4 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935, RGBl I, 609). Die Zeit seines Wehrdienstes ist also seit dem 1. Juni 1945 Ersatzzeit.
Ersatzzeit ist auch die Zeit nach dem Ausscheiden des Klägers aus dem Kriegsdienst bis zur Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses im Jahre 1956. Nach den - nicht angegriffenen - Feststellungen des LSG war der Kläger zunächst - bis 1950 - arbeitsunfähig krank. Ernsthafte Zweifel gegen die Berücksichtigung der Krankheitszeit ergeben sich aus dem Wortlaut des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO nicht. Dem äußeren Anschein nach können solche Krankheitszeiten zwar nur dann als Ersatzzeiten gelten, wenn sie auf eine Kriegsgefangenschaft, nicht auch, wenn sie auf den Kriegsdienst folgen. Die von dem Gesetzgeber mit Nr. 1 des § 1251 Abs. 1 RVO in Betracht gezogene Interessenlage ist aber in jedem Falle einer Krankheitszeit gleich, mag diese sich nun an den Kriegsdienst oder an die Kriegsgefangenschaft anschließen. Eine unterschiedliche Gesetzesauslegung wäre nicht sinnvoll (vgl. dazu BSG SozR Nr. 16 zu § 1251 RVO).
Der ersten - krankheitsbedingten - "Anschlußersatzzeit" konnte sich eine weitere Ersatzzeit, nämlich die der Arbeitslosigkeit, zugesellen. Dagegen bestehen deshalb keine bedenken, weil der Abschnitt der Arbeitslosigkeit der ersten Anschlußersatzzeit unmittelbar folgte. Zwar ist der Gesetzestext wegen der Verwendung des Wortes "oder" zwischen den Worten "Krankheit" und "unverschuldeten Arbeitslosigkeit" nicht eindeutig. Auch den Gesetzesmaterialien ist darüber kein weiterer Aufschluß zu entnehmen (vgl. Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik zu Bundestagsdrucks. II/3080 zu § 1256 des Entwurfs). Nach der mit dem Gesetz verfolgten Absicht muß es aber als ausreichend angesehen werden, wenn die Anschlußersatzzeiten der Krankheit und der Arbeitslosigkeit sich lückenlos aneinander reihen. Die in § 1251 Abs. 1 RVO primär aufgeführten Ersatztatsachen stellen schwerwiegende dem einzelnen aufgezwungene Eingriffe in seinen persönlichen Lebensbereich dar. Es war in Rechnung zu stellen, daß mit diesen Eingriffen vielfach nachhaltige gesundheitliche Schäden und eine Lösung der Betroffenen von ihrer bisherigen Existenzgrundlage verbunden waren. Diese Nachteile, die nicht dem einzelnen, sondern der Gesamtheit zuzurechnen sind, sollten versicherungsrechtlich ausgeglichen werden. Aus dieser gesetzgeberischen Zielsetzung heraus kann es keinen Unterschied machen, ob eine Arbeitslosigkeit sich unmittelbar als Folge des Ersatzzeitgeschehens ergibt oder ob sich zwischen diesem und der Arbeitslosigkeit eine Krankheit nahtlos dazwischenschiebt. Der hier vertretene Gedanke findet im Gesetz selbst, wenn auch im Zusammenhang mit der Behandlung mehrerer sich an einander reihender Ausfallzeiten (§ 1259 Abs. 1 Satz 2 RVO), eine Parallele.
Die Beklagte ist demnach zutreffend zur Bewilligung der Rente an den Kläger verurteilt worden. Im Gegensatz zur Auffassung des LSG hat als Ersatzzeit nur die Zeit vor dem 1. Juni 1945 - also vor dem Außerkrafttreten des § 1236 RVO aF - auszuscheiden, weil der Kläger unter der Herrschaft dieses älteren Rechts seit seiner Verwundung nicht versicherungsfähig war.
Die Revision der Beklagten ist zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen