Leitsatz (amtlich)
Auch wenn ein geisteskranker Versicherter aus Gründen der öffentlichen Sicherheit in ein Krankenhaus aufgenommen worden ist, darf die KK Krankenhauspflege grundsätzlich nicht versagen (Ergänzung zu BSG 1970-05-26 3 RK 45/69 = SozR Nr 28 zu § 184 RVO; Abweichung von BSG 1961-12-20 3 RK 51/57 = BSGE 16, 84, 90). Eine Versagung ist vielmehr nur berechtigt, wenn die erforderliche Sachaufklärung ergibt, daß der Versicherte ausschließlich aus Sicherheitsgründen im Krankenhaus untergebracht und dort lediglich verwahrt, nicht behandelt worden ist.
Leitsatz (redaktionell)
Hausgeld war nach RVO § 185 Abs 1 aF auch dann zu zahlen, wenn die KK Krankenhauspflege nicht gewährt hat, aber hätte gewähren müssen.
Normenkette
RVO § 184 Fassung: 1911-07-19, § 186 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1961-07-12, § 185 Abs. 1 Fassung: 1911-07-19
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Oktober 1969 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, der am 20. November 1967 wegen gemeingefährlicher Geisteskrankheit von der Polizei in ein Bezirkskrankenhaus des Landes Bayern eingeliefert wurde und sich dort bis zum 18. April 1968 aufgrund einer Unterbringungsanordnung, später eines Verwahrungsbeschlusses des zuständigen Amtsgerichts befand, verlangt für diese Zeit Hausgeld von der beklagten Krankenkasse, deren Pflichtmitglied er war. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Die Kosten des Krankenhausaufenthalts trugen der Sozialhilfeträger und die Beklagte gemeinsam gemäß einer Vereinbarung, die sie mit Wirkung vom 1. Oktober 1965 "anstelle des Halbierungserlasses vom 5. September 1942" geschlossen haben.
Die Beklagte lehnte die Zahlung von Hausgeld ab, weil der Kläger sich nicht wegen einer notwendigen Heilbehandlung, sondern aus Gründen der öffentlichen Sicherheit im Krankenhaus befunden habe und deshalb die Voraussetzungen für die Gewährung von Krankenhauspflege nicht vorgelegen hätten.
Das Sozialgericht und das Landessozialgericht (LSG) sind dieser Auffassung gefolgt. Nach Ansicht des LSG ist zumindest zweifelhaft, ob die Einlieferung des Klägers in das Krankenhaus nicht aus Sicherheitsgründen erfolgt sei; deshalb habe die Beklagte ihm nach der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Dezember 1961 in BSG 16, 84 Krankenhauspflege nicht zu gewähren brauchen und auch nicht gewährt, so daß ihm Hausgeld nicht zustehe (Urteil vom 29. Oktober 1969).
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt. Er macht geltend, er sei während der fraglichen Zeit nicht, wie der Halbierungserlaß voraussetze, in einer Heil- und Pflegeanstalt, sondern in einem allgemeinen Krankenhaus verwahrt worden und arbeitsunfähig krank gewesen; eine ambulante Behandlung habe nicht ausgereicht. Er beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie die Bescheide der Beklagten aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm für die streitige Zeit Hausgeld zu zahlen.
Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision. Ihrer Ansicht nach hat der Kläger sich während der fraglichen Zeit in einer - als Bezirkskrankenhaus bezeichneten - Heil- und Pflegeanstalt befunden, und zwar wegen gemeingefährlicher Geisteskrankheit. In einem solchen Fall könne die Krankenkasse die Gewährung von Krankenhauspflege und die Zahlung von Hausgeld verweigern.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Entgegen der Ansicht des LSG darf ihm das beanspruchte Hausgeld nicht deswegen versagt werden, weil er seinerzeit aus sicherheitspolizeilichen Gründen (gemeingefährliche Geisteskrankheit) in das Krankenhaus eingewiesen worden ist.
Nach § 186 Abs. 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF, die bis Ende 1970 galt (vgl. jetzt Art. 1 Nr.8, Art. 4 § 5 des Zweiten Krankenversicherungsänderungsgesetzes vom 21. Dezember 1970, BGBl. I, 1770), war einem Versicherten, dem Krankenhauspflege gewährt wurde, daneben von ihrem Beginn an ein Hausgeld zu zahlen. Das LSG hat diese Vorschrift zutreffend dahin ausgelegt, daß dem Versicherten Hausgeld auch dann zu zahlen war, wenn ihm Krankenhauspflege von der Krankenkasse nicht gewährt wurde, aber hätte gewährt werden müssen; denn durch eine rechtswidrige Verweigerung der Krankenhauspflege konnte sich die Krankenkasse nicht ihrer Verpflichtung zur Zahlung von Hausgeld entziehen.
Nicht folgen kann der Senat dem LSG indessen darin, daß die Beklagte dem Kläger keine Krankenhauspflege habe zu gewähren brauchen. In einer früheren Entscheidung, die einen vergleichbaren Fall betraf - auch damals war die Versicherte durch gerichtliche Anordnung wegen Geisteskrankheit in ein Krankenhaus eingewiesen worden -, hat der Senat allerdings angenommen, eine Weigerung der Krankenkasse, Krankenhauspflege zu gewähren, sei nicht rechtswidrig, wenn zweifelhaft sei, ob die Unterbringung im Krankenhaus aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder zum Zwecke der Krankenbehandlung erfolgt sei (BSG 16, 84, 90). Sollte dieser Entscheidung zu entnehmen sein, daß die Krankenkasse einen Zweifel, d.h. eine Unsicherheit darüber, ob der eine oder andere Fall vorliegt, auf sich beruhen lassen und allein schon wegen dieser Unsicherheit Krankenhauspflege verweigern dürfe, hält der Senat an seiner früheren Auffassung nicht fest. Eine - zunächst bestehende - Unsicherheit über die Erfüllung der tatsächlichen Voraussetzungen für die Gewährung einer Leistung kann nicht ohne weiteres deren Verweigerung rechtfertigen. Hier wie in anderen Fällen muß die Verwaltung - und im Streitfall das Gericht - vielmehr von Amts wegen den Sachverhalt aufklären. Nur wenn sich dabei ergibt, daß der Versicherte ausschließlich aus Gründen der öffentlichen Sicherheit im Krankenhaus untergebracht und dort lediglich verwahrt, nicht behandelt worden ist, wäre die Krankenkasse nicht leistungspflichtig. Im übrigen, d.h. in der wohl weitaus überwiegenden Zahl der Fälle, in denen ein geisteskranker Versicherter nicht allein zum Schutze der Öffentlichkeit oder seiner eigenen Person, sondern zugleich zur Behandlung seiner Krankheit in das Krankenhaus aufgenommen worden ist, kann ihm Krankenhauspflege, sofern sie medizinisch notwendig ist, von der Krankenkasse nicht versagt werden (vgl. SozR Nr. 28 zu § 184 RVO; im Leitsatz als "Fortführung von BSG 16, 84" bezeichnet). Dabei ist es unerheblich, ob und welche Regelungen oder Vereinbarungen etwa im Verhältnis der Krankenkasse zu anderen Stellen, insbesondere den Sozialhilfeträgern, zur Deckung der durch eine Krankenhausunterbringung erwachsenden Kosten bestehen. Diese Rechtsbeziehungen betreffen nur das "Innenverhältnis" zwischen den Beteiligten, berühren jedoch grundsätzlich nicht die Verpflichtungen der Krankenkassen gegenüber ihren Versicherten (vgl. BSG 9, 112, 122).
Im vorliegenden Fall hätte die Beklagte deshalb dem Kläger Krankenhauspflege nicht verweigern dürfen, wenn er sich - was anzunehmen, bisher aber nicht eindeutig festgestellt ist - auch zur Behandlung seiner (gemeingefährlichen) Geisteskrankheit im Bezirkskrankenhaus befand und eine stationäre Behandlung notwendig war, um die Erkrankung mit Aussicht auf Erfolg zu beeinflussen. Zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen. Bei Bejahung der genannten Fragen wird die Beklagte dem Kläger das beantragte Hausgeld zu zahlen haben.
Fundstellen