Entscheidungsstichwort (Thema)
Abweg. Tanken eines Kraftfahrzeugs. Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Das Auftanken eines Kraftfahrzeuges ist auch dann grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen, wenn das Kraftfahrzeug für den Weg zur Arbeitsstelle verwendet werden soll (vgl BSG 1961-12-20 2 RU 206/58 = BSGE 16, 77). Eine andere rechtliche Beurteilung kann jedoch gerechtfertigt sein, wenn das Tanken während der Fahrt notwendig wird. Das Nachfüllen des Tanks steht mit der Zurücklegung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte in einem auch rechtlich wesentlichen Zusammenhang, wenn es unvorhergesehen notwendig wird, damit der restliche Weg zurückgelegt werden kann (vgl BSG 1978-12-14 2 RU 59/78 = SozR 2200 § 550 Nr 39).
2. An die Voraussetzung, unvorhergesehen eine Tankstelle aufsuchen zu müssen, dürfen jedoch keine zu strengen Anforderungen gestellt werden. Ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Notwendigkeit des Tankens ist, daß sich entweder während der Fahrt oder aber auch schon bei Antritt der Fahrt die Notwendigkeit ergibt, den Inhalt des Reservetanks in Anspruch zu nehmen.
Normenkette
RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 06.10.1982; Aktenzeichen L 17 U 56/82) |
SG Dortmund (Entscheidung vom 02.03.1982; Aktenzeichen S 21 U 112/81) |
Tatbestand
Der Kläger erlitt am 8. Juni 1980 (Sonntag) mit seinem Motorrad einen Unfall mit schweren Verletzungen, nachdem er den Weg von der Arbeitsstelle nach Hause verlassen und an einer etwa 1 km entfernt liegenden Tankstelle sein Motorrad betankt hatte. Am vorangegangenen Sonnabend hatte der Kläger mit dem Motorrad eine Fahrt zum Besuch der geschiedenen Ehefrau und dem gemeinsamen Kind gemacht. Auf dem Rückweg von diesem Besuch mußte er wenige Kilometer vor seiner Wohnung etwa zwischen 23.00 Uhr und 24.00 Uhr auf den Reservetank umschalten. Unterwegs war keine unmittelbar am Weg liegende Möglichkeit zum Tanken gewesen. Aus Erfahrung wußte der Kläger, daß er mit dem restlichen Benzin am Sonntag seine Arbeitsstelle zu Beginn der Frühschicht um 6.00 Uhr noch würde erreichen können; er fuhr daher mit dem Motorrad zur Arbeit. Öffentliche Verkehrsmittel fuhren zu dieser Zeit nicht auf dem Weg zum Beschäftigungsunternehmen.
Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche ab, weil der Kläger auf dem Weg zu der abseits seines üblichen Heimwegs gelegenen Tankstelle nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe (Bescheid vom 25. Februar 1981). Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Dortmund vom 2. März 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1982). Da sich die Notwendigkeit zum Tanken nicht während der Fahrt zur Arbeit, sondern bereits am Tage zuvor während einer privaten Fahrt gezeigt habe, sei der Kläger auf dem Weg zum Tanken nicht versichert gewesen. Der Kläger hätte noch am Vortage eine Tankmöglichkeit suchen oder den Weg zur Arbeit zu Fuß zurücklegen können. Unter den gegebenen Umständen sei die Zurücklegung des Weges zum Tanken eine private unversicherte Tätigkeit.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er vertritt die Auffassung, daß das notwendige Umschalten auf den Reservetank am Vorabend des Unfalls wie ein unvorhergesehenes Ereignis vor Antritt der Fahrt zur Arbeitsstelle am Sonntag anzusehen sei.
Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Oktober 1982 und des SG Dortmund vom 2. März 1982 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Februar 1981 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 8. Juni 1980 Verletztenrente zu zahlen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, daß der Kläger auf dem Weg zum Tanken nicht versichert gewesen sei, denn die Notwendigkeit, das Motorrad aufzutanken, sei nicht unvorhergesehen aufgetreten. Das LSG habe nicht geklärt, wo und wann der Kläger auf dem Rückweg von seiner privaten Besuchsfahrt auf den Reservetank habe umschalten müssen. Daraus könnte sich ergeben, daß der Kläger noch am Vorabend des Unfalls Gelegenheit gehabt hätte, sein Motorrad aufzutanken. Auch hätte das LSG nachprüfen müssen, ob der Kläger bei der Rückfahrt vom Betrieb tatsächlich eine Tankstelle aufgesucht habe und welche Tankstelle dies gewesen sei. Sie halte es nicht für glaubhaft, daß das Umschalten auf den Reservetank erst kurz vor Erreichen der Wohnung notwendig geworden sei. Der Kläger habe auch im Schriftsatz vom 14. Oktober 1981 vorgetragen, daß er um 5.15 Uhr mit einem Bus zur Arbeit hätte fahren können. Im Hinblick auf die abgefahrenen Reifen beider Räder seines Motorrades und die Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit sei der Kläger einer selbstgeschaffenen Gefahr erlegen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet.
Der Kläger hat am 8. Juni 1980 einen Arbeitsunfall erlitten. Nach § 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach oder von dem Ort der Tätigkeit. Als der Kläger am 8. Juni 1980 im Anschluß an das Ende der Frühschicht mit seinem Motorrad den Weg von der Arbeitsstelle nach Hause antrat, stand er unter dem durch sein Beschäftigungsverhältnis begründeten Versicherungsschutz (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO). Der Versicherungsschutz wurde nicht dadurch unterbrochen, daß der Kläger in die Zurücklegung des Weges von der Arbeitsstelle einen zusätzlichen Weg (Abweg) einschob, um an einer Tankstelle sein Motorrad aufzutanken. Denn der Zweck des zusätzlichen Weges war nicht ausschließlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Klägers zuzurechnen, sondern stand auch mit der Fahrt nach Hause in einem ursächlichen Zusammenhang, weil nach den Feststellungen des LSG das Tanken notwendig war, um das Ziel der Fahrt zu erreichen. Ebenso wie zahlreiche andere Verrichtungen des täglichen Lebens, die notwendig sind, damit die versicherte Tätigkeit verrichtet werden kann (vgl zB BSGE 7, 255), ist allerdings das Auftanken eines Kraftfahrzeuges auch dann grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich des Versicherten zuzurechnen, wenn das Kraftfahrzeug für den Weg zur Arbeitsstelle verwendet werden soll (BSGE 16, 77). Der Senat hat jedoch bereits darauf hingewiesen, daß eine andere rechtliche Beurteilung gerechtfertigt sein kann, wenn das Tanken während der Fahrt notwendig wird. Das Nachfüllen des Tanks steht - ebenso wie andere zur Wiederherstellung oder Erhaltung der Fahrbereitschaft notwendige Maßnahmen - mit der Zurücklegung des Weges nach oder von der Arbeitsstätte in einem auch rechtlich wesentlichen Zusammenhang, wenn es unvorhergesehen notwendig wird, damit der restliche Weg zurückgelegt werden kann (vgl BSG, Urteil vom 28. Februar 1964 - 2 RU 22/61 - teilweise abgedruckt in BB 1964, 684; BSG SozR Nr 63 zu § 543 RVO aF und SozR 2200 § 550 Nr 39). An diese Voraussetzungen dürfen jedoch keine zu strengen Anforderungen gestellt werden (BSG aa0). Ein brauchbarer Anhaltspunkt für die Notwendigkeit des Tankens ist, daß sich entweder während der Fahrt oder aber auch schon bei Antritt der Fahrt die Notwendigkeit ergibt, den Inhalt des Reservetanks in Anspruch zu nehmen (BSG SozR aa0 mwN). Da der Kläger während der Rückfahrt vom Besuch seiner Familie nach den Feststellungen des LSG keine unmittelbar am Weg liegende Möglichkeit zum Tanken gehabt hatte und er mit dem im Reservetank befindlichen Kraftstoff am Morgen des Unfalltages zur Frühschicht gefahren war, entsprach es sachgemäßem Handeln, auf dem Weg von der Arbeit nach Hause eine Tankstelle aufzusuchen, um nicht das Risiko einzugehen, unterwegs liegen zu bleiben. Der Abweg zur Tankstelle und zurück von insgesamt 2 km ist nicht als unverhältnismäßig weit anzusehen, zumal da nichts dafür ersichtlich ist, daß eine andere am Sonntag geöffnete Tankstelle als die vom Kläger aufgesuchte, näher lag. Entgegen der Auffassung des SG und des LSG stand daher das Aufsuchen der Tankstelle, um das Motorrad aufzutanken, mit der Zurücklegung des Weges von dem Ort der Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang.
Die von der Beklagten vorgetragenen Verfahrensrügen sind nicht begründet.
Das LSG brauchte sich nicht gedrängt zu fühlen, weiter aufzuklären, wann und wo der Kläger bei der Rückfahrt am Tag vor dem Unfall auf den Reservetank hat umschalten müssen. Das LSG hat, ohne die Grenzen seines Rechts auf freie Beweiswürdigung zu überschreiten, das Vorbringen des Klägers als glaubhaft angesehen, daß er wenige Kilometer vor Erreichen seiner Wohnung auf den Reservetank habe umstellen müssen (vgl BSG SozR Nr 56 zu § 128 SGG). Überdies hat die Beklagte dies in beiden Tatsacheninstanzen auch mehrfach selbst vorgetragen.
Unerheblich ist, ob der Kläger im Betrieb oder bei einem Arbeitskollegen Benzin zum Nachfüllen des Tanks seines Motorrades hätte erhalten können. Nach der Rechtsprechung des BSG hängt die Bejahung der Notwendigkeit, ein Kraftfahrzeug an einer Tankstelle aufzutanken, nicht von dem Nachweis ab, ob sich der Versicherte den Kraftstoff zumutbar an anderer Stelle hätte besorgen können (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 39).
Weitere Ermittlungen waren auch nicht darüber erforderlich, ob der Kläger am Unfalltag überhaupt eine Tankstelle aufgesucht hat und welche dies gewesen ist. Die Beklagte hat in dem angefochtenen Bescheid vom 25. Februar 1981 festgestellt, daß der Kläger "auf dem Rückweg vom Tanken" verunglückt ist. Davon ist sie auch in beiden Tatsacheninstanzen nicht abgewichen. Das LSG konnte es daher ebenfalls aufgrund der Angaben des Klägers als erwiesen ansehen, daß der Kläger vom Tanken kam, als er verunglückte. Für die Notwendigkeit zum Tanken ist es auch unerheblich, welche Strecke der Versicherte mit dem Benzin im Reservetank noch hätte zurücklegen können (BSG SozR 2200 § 550 Nr 39). Daß der Kläger, wie die Beklagte meint, mit dem Benzin des Reservetanks "mit Sicherheit eine weit längere Fahrstrecke als 2 x 5 = 10 km" hätte zurücklegen können, brauchte daher nicht aufgeklärt zu werden.
Hinsichtlich der Möglichkeit, am Unfalltag für die Fahrt zur Arbeitsstelle ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen, hat das LSG festgestellt, daß eine solche Möglichkeit nicht bestanden hat. Der Hinweis der Beklagten auf den Schriftsatz des Klägers vom 14. Oktober 1981, wonach er mit einem Bus um 5.15 Uhr zur Arbeit hätte fahren können, geht fehl. Diese Angabe des Klägers betraf Montag, den 9. Juni 1981, also den Tag nach dem Unfall. Bezüglich des Unfalltages hat der Kläger im Schriftsatz vom 14. Juli 1982 unter Überreichung von Fahrplänen vorgetragen, daß an Sonn- und Feiertagen die zur Arbeitsstelle fahrenden Busse erst um 9.26 Uhr bzw 9.40 Uhr verkehrten. Die Frühschicht begann dagegen um 6.00 Uhr.
Der Kläger ist bei dem Unfall entgegen der Meinung der Beklagten keiner dem Versicherungsschutz entgegenstehenden selbstgeschaffenen Gefahr erlegen. Was die Beklagte dazu vorträgt, nämlich daß beide Reifen des Motorrades des Klägers abgefahren gewesen seien und der Kläger "mit Sicherheit" die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten gehabt habe oder sein Motorrad nicht verkehrssicher gewesen sei, ist neues tatsächliches Vorbringen, das im Revisionsverfahren unberücksichtigt bleiben muß, weil es insoweit nicht zur Begründung einer Verfahrensrüge vorgetragen wird. Zum anderen legt die Beklagte auch nicht dar, daß beim Vorliegen der von ihr behaupteten Tatsachen nach der Rechtsprechung des BSG eine selbstgeschaffene Gefahr anzunehmen sein würde (vgl die ausführlichen Darlegungen in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl, S 484h ff). Einen Rechtssatz des Inhalt, daß der Versicherungsschutz entfällt, wenn der Versicherte sich erhöht der Gefahr eines Unfalls aussetzt und dadurch zu Schaden kommt, erkennt das BSG nicht an.
Da der Kläger durch den Arbeitsunfall am 8. Juni 1980 schwer verletzt worden ist, - er befand sich bis zum 15. September 1980 in stationärer Behandlung und wurde danach noch (gehunfähig) ambulant behandelt - war die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen dem Grunde nach zur Zahlung einer Verletztenrente zu verurteilen (§ 130 SGG).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen