Leitsatz (amtlich)
Werden einem Versicherten nacheinander mehrere Serien von Bädern und Massagen verordnet, so bildet im allgemeinen nicht die Gesamtheit aller Bäder und Massagen, sondern die in einer ärztlichen Verordnung zusammengefaßte Gruppe ein einheitliches Heilmittel.
Leitsatz (redaktionell)
1. Massagen und Bäder gehören dann zur ärztlichen Behandlung iS des RVO § 122, wenn der Arzt bei der Durchführung der Massagen und Bäder selbst anleitend, mitwirkend oder beaufsichtigend tätig wird. Für die Zuordnung dieser Mittel zur ärztlichen Behandlung reicht es nicht aus, wenn der behandelnde Arzt sich lediglich nach Durchführung der Massagen und Bäder von deren Wirkung überzeugt.
Der Unterschied zwischen kleineren und größeren Heilmitteln ist kein wesenhafter, sondern, soweit es sich nicht um Brillen und Bruchbänder handelt, nur im materiellen Wert begründet, dessen Grenze in der Satzung festgesetzt werden kann (RVO § 193 Abs 1). Heilmittel, deren Kosten diese Grenze überschreiten, gehören nicht zur Krankenpflege iS des RVO § 182 Abs 1 Nr 1.
2. Der Unterschied zwischen kleineren Heilmitteln (RVO § 182 Abs 1 Nr 1) und größeren Heilmitteln (RVO § 193 Abs 2) liegt in ihrem Wert und nicht in ihrem Wesen; die Wertgrenze für kleinere Heilmittel wird in der Satzung festgesetzt (RVO § 193 Abs 1).
Normenkette
RVO § 122 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, § 182 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1924-12-15, § 193 Abs. 1 Fassung: 1924-12-15, Abs. 2 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Sprungrevision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 4. September 1968 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Lehrhauer E ..., der der knappschaftlichen Krankenversicherung als Pflichtmitglied angehört, erlitt am 15. Februar 1964 auf dem Wege zur Arbeit einen Unfall. Wegen der Folgen des Unfalls wurde er von dem Knappschaftsarzt Dr. B behandelt. Dieser verordnete am 19. Mai, 5. Juni und 22. Juni 1964 je zehn Unterwassermassagen und am 3. September 1964 zehn Heißluftbäder und -massagen, die ohne ärztliche Überwachung durchgeführt wurden. Die Kosten trug die Klägerin. Sie betrugen für je zehn Unterwassermassagen 45,- DM und für die zehn Heißluftbäder und -massagen 26,50 DM.
Die Klägerin hat gegen die Beklagte Klage auf Erstattung von 161,50 DM erhoben, nachdem die Beklagte es abgelehnt hatte, der Klägerin diesen Betrag zu erstatten. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte sei nach § 1504 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zur Erstattung der Kosten nicht verpflichtet. Es handele sich nicht um ein größeres Heilmittel, dessen Kosten die Beklagte zu erstatten hätte, sondern um mehrere kleinere Heilmittel, deren Kosten die Klägerin selbst zu tragen habe. Man könne die Massagen und Heißluftbäder nicht rückschauend als eine Einheit ansehen. Selbst wenn man die Bäder und Massagen in der verordneten Zehnergruppierung als Einheit betrachte, überschritten sie nicht die von der Beklagten gesetzte Wertgrenze von 45,- DM für kleinere Heilmittel.
Dieses Urteil hat die Klägerin mit der Sprungrevision angefochten. Sie hat eine beglaubigte Abschrift der Sitzungsniederschrift des SG vom 4. September 1968 beigefügt. Danach haben die Beteiligten vor der Urteilsverkündung für den Fall der Zulassung der Berufung auf dieses Rechtsmittel verzichtet, um sogleich Sprungrevision einlegen zu können. Die Klägerin ist der Ansicht, sämtliche Massagen und Bäder seien als Einheit anzusehen, denn es handele sich um die fortlaufende Leistung eines in sich gleichartigen Mittels. Sie seien insgesamt als größeres Heilmittel anzusehen, deren Kosten die Beklagte nach § 1504 Abs. 1 RVO zu erstatten habe.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 161,50 DM zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und ist der Ansicht, die Bäder und Massagen seien nur in der Gruppierung der Verordnungen durch den behandelnden Arzt als Einheit anzusehen. Es handele sich daher nicht um ein einheitliches größeres, sondern um mehrere kleinere Heilmittel, deren Kosten die Klägerin nach § 1504 Abs. 1 RVO selbst zu tragen habe.
II
Die Sprungrevision der Klägerin ist zulässig. Da die Berufung nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen und nur infolge Zulassung durch das SG nach § 150 Nr. 1 SGG statthaft wäre, ist diese Voraussetzung des § 161 Abs. 1 SGG erfüllt. Die Sprungrevision genügt auch dem Formerfordernis des § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG. Diesem Erfordernis ist genügt, weil die Revisionsklägerin innerhalb der Revisionsfrist eine beglaubigte Abschrift des Protokolls der mündlichen Verhandlung vor dem SG vorgelegt hat, in der die Beteiligten vor Verkündung des Urteils übereinstimmend erklärt haben, sie seien mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden (vgl. BSG 12, 230). Nun haben zwar die Beteiligten laut Sitzungsniederschrift vor dem SG vom 4. September 1968 nicht wörtlich erklärt, sie seien mit der Einlegung der Sprungrevision einverstanden. In der übereinstimmenden Erklärung, daß sie im Falle der Zulassung der Berufung auf dieses Rechtsmittel verzichten, um sogleich Sprungrevision einlegen zu können, liegt aber inhaltlich diese Erklärung. Mit ihr wollten die Beteiligten ihr Einverständnis mit der Einlegung der Sprungrevision durch den anderen Beteiligten zum Ausdruck bringen. Die danach zulässige Sprungrevision der Klägerin hat aber keinen Erfolg. Das SG hat die Klage mit Recht abgewiesen. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erstattung des geltend gemachten Betrages von 161,50 DM.
Nach § 1504 Abs. 1 RVO hat die Beklagte der Klägerin die Kosten für die verordneten Unterwassermassagen sowie Heißluftbäder und -massagen nur dann zu erstatten, wenn es sich dabei nicht um Kosten der Krankenpflege im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO handelt. Gehören die verordneten Anwendungen zur Krankenpflege, so hat die Klägerin die Kosten dafür selbst zu tragen. Zur Krankenpflege gehören u.a. die ärztliche Behandlung sowie kleinere Heilmittel. Wie unter den Beteiligten nicht streitig ist, gehört im vorliegenden Fall die Durchführung der Massagen und Bäder nicht zur ärztlichen Behandlung. Das könnte nur dann der Fall sein, wenn der Arzt bei der Durchführung der Massagen und Bäder selbst anleitend, mitwirkend oder beaufsichtigend tätig geworden wäre. Das SG hat aber ausdrücklich und für den Senat bindend festgestellt, daß die Massagen und Bäder nicht ärztlich überwacht worden sind. Diese Feststellung läßt zwar die Möglichkeit offen, daß der behandelnde Arzt sich nach Durchführung der von ihm verordneten Serien von Massagen und Bädern von deren Wirkung überzeugt hat. Das genügt aber nicht, um die durchgeführten Heilmaßnahmen der ärztlichen Behandlung zuzurechnen (vgl. BSG in SozR Nr. 1 zu § 122 RVO). Sind die Massagen und Bäder aber nicht Teil der ärztlichen Behandlung, so können sie nur den Heilmitteln zugerechnet werden (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz.Vers., 1.-7. Aufl. 1970, S. 386 a, 386 i). Zur Krankenpflege, deren Kosten die Klägerin nach § 1504 Abs. 1 RVO selbst zu tragen hat, gehören außer Brillen und Bruchbändern nur "andere kleinere Heilmittel". Der Unterschied zwischen kleineren Heilmitteln, die nach § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO zur Krankenpflege gehören, und größeren Heilmitteln, die nach dieser Vorschrift von der Krankenpflege nicht erfaßt werden, ist kein wesenhafter; er ist, soweit nicht Brillen und Bruchbänder zu gewähren sind, nur im materiellen Wert, nicht in der Art des Mittels, sondern in seiner Kostenhöhe begründet (vgl. BSG 28, 158, 159). Nach § 20 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) i.V.m. § 193 Abs. 1 RVO kann die Satzung des Trägers der Krankenversicherung für kleinere Heilmittel einen Höchstbetrag festsetzen. Nach § 35 Abs. 1 der Satzung der früheren Ruhrknappschaft in der hier anzuwendenden Fassung, die bis zum 31. August 1965 galt, war als Wertgrenze für kleinere Heilmittel ein Betrag von 45,- DM festgesetzt. Heilmittel, deren Kosten den Betrag von 45,- DM übersteigen, sind also nicht kleinere Heilmittel im Sinne des § 182 Abs. 1 Nr. 1 RVO und gehören daher auch nicht zur Krankenpflege im Sinne dieser Vorschrift. Da der Betrag von 45,- DM im vorliegenden Fall nur dann überschritten wird, wenn man mehr als je zehn Bäder und Massagen als ein einheitliches Heilmittel ansieht, kommt es entscheidend darauf an, ob es sich bei der mehrfachen Anwendung eines in sich gleichartigen Heilmitteln um die einmalige Gewährung eines einheitlichen Heilmittels oder aber um die vielfache Gewährung mehrerer Heilmittel handelt. Es besteht in Rechtsprechung und Literatur Einmütigkeit darüber, daß innerhalb der einheitlichen Behandlungsbedürftigkeit nicht jede einzelne Massage und jedes einzelne Bad als selbständiges Heilmittel anzusehen ist, sondern daß es sich grundsätzlich um eine einheitliche Leistung handelt (vgl. BSG 28, 158, 159; Brackmann a.a.O. S. 386 i; RVA in EuM 35, 96 Nr. 39; RVA in AN 1940, 1962; Meißner in Soz.Vers.1966, 207, 209; Musculus in DOK 1966, 666, 668; Gesamtkomm. zur RVO Anm. 6 zu § 193). Das ist unter den Beteiligten auch nicht streitig. Gegenstand des Streits ist vielmehr die Frage, ob die Bäder und Massagen ohne Rücksicht auf die jeweiligen Verordnungen insgesamt als eine Einheit anzusehen sind oder ob sie nur in der Gruppierung der einzelnen Verordnung eine Einheit bilden (so Gesamtkomm. zur RVO Anm. 6 zu § 193). Bei der Beurteilung dieser Frage ist zu berücksichtigen, daß sich die Notwendigkeit der Unterteilung in mehrere Serien von Massagen und Bädern im allgemeinen aus medizinischen Gründen ergibt. Im Normalfall wird der behandelnde Arzt erst nach einer gewissen Anzahl von Bädern und Massagen und nach erneuter Untersuchung des Patienten beurteilen können, ob der Erfolg bereits eingetreten ist, ob überhaupt ein Erfolg zu erwarten ist und ob weitere Bäder und Massagen erforderlich sind. Diese medizinisch begründete Notwendigkeit der mehrfachen Gewährung des Heilmittels spricht dafür, daß der Träger der Krankenversicherung durch den behandelnden Arzt nicht eine einheitliche Leistung, sondern eine zwar gleichartige aber doch selbständige Leistung mehrfach gewährt. Man kann es nicht - wie die Beklagte es will - darauf abstellen, ob sich rückschauend betrachtet die insgesamt gewährte Zahl der Massagen und Bäder als notwendig erwiesen hat. Diese rückschauende Betrachtungsweise berücksichtigt zu wenig, daß auch gleichartige Heilmittel mehrfach gewährt werden können. Die Gesamtbetrachtungsweise mag dann angebracht sein, wenn nach der Art der Erkrankung von vornherein feststeht, daß das Heilmittel zur Behebung oder Linderung der Beschwerden auf unabsehbare Zeit erforderlich sein wird. In einem solchen Fall wäre jede zeitliche Unterteilung willkürlich oder zufällig. Ergibt sich eine Zäsur durch mehrere ärztliche Verordnungen aber aus der medizinischen Notwendigkeit, so kann es sich nicht um ein einheitliches Heilmittel handeln, dessen Notwendigkeit von vornherein feststeht, sondern erst mit jeder Verordnung stellt sich die Notwendigkeit der Gewährung eines weiteren gleichartigen Heilmittels heraus. Während in dem Fall, in dem die Notwendigkeit der Verordnung gleichartiger Heilmittel auf unabsehbare Zeit von vornherein feststeht, mit jeder Verordnung das Heilmittel einem bereits von vornherein bereitgehaltenen einheitlichen Paket entnommen wird, ist ein solches einheitliches Paket von gleichartigen Heilmitteln dann nicht vorhanden, wenn sich die Notwendigkeit weiterer Verordnungen erst nach der vorherigen Serie von Anwendungen ergibt. In einem solchen Falle kann der behandelnde Arzt die Verordnung nicht einem bereits bereitgehaltenen Paket entnehmen, sondern er verordnet nach Verbrauch des vorherigen Pakets dem Patienten ein weiteres Paket gleichartiger Leistungen. Diese Betrachtungsweise erscheint auch deshalb zweckmäßig, weil dabei die Beteiligten schon bei der Verordnung wissen, ob ein größeres oder kleineres Heilmittel gewährt wird, ob es sich also um die Gewährung von Krankenpflege oder aber um die Gewährung eines größeren Heilmittels handelt, zu dem der Träger der Krankenversicherung im Normalfall nur einen Zuschuß gewährt.
Die danach unbegründete Sprungrevision der Klägerin muß zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen