Leitsatz (redaktionell)
Hat bei einem Versicherten volle Erwerbsunfähigkeit aus unfallunabhängigen Gründen bereits zu einem Zeitpunkt bestanden, von dem ab eigentlich ein rentenberechtigter Minderung der Erwerbsfähigkeit-Grad als Folge von Unfall bzw Berufskrankheit vorlag, entfällt der Anspruch auf Verletztenrente.
Normenkette
RVO § 561 Fassung: 1925-07-14, § 581 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 3. Dezember 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der am 22. Juli 1893 geborene, ab 1910 als Schlepper, Lehrhauer und Hauer durchweg unter Tage beschäftigt gewesene Kläger ist am 3. August 1949 erstmals auf seine bergmännische Tauglichkeit untersucht worden. Dabei wurde eine leichte Silikose (Stadium I) festgestellt (Bericht Dr. ... vom 3. August 1949).
Bald darauf bewilligte ihm die ... Knappschaft ab 1. August 1950 Knappschaftsvollrente wegen dauernder Invalidität. Dem liegt ein ärztliches Gutachten zugrunde, in dem bei einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 60 v.H. Invalidität vor allem wegen stärkerer Aufbrauchs- und Alterungserscheinungen (Arthrose, Gefäßsklerose, beginnendes Altersemphysem, Krampfadern) angenommen ist (Gutachten Dr. ... vom 29. September 1950). Bei einer Nachuntersuchung durch Dr. ... am 16. Januar 1951 ließ sich wiederum eine Silikose I. ... Grades ohne Komplikationen feststellen.
Im Jahre 1952 beantragte der Kläger erstmals bei der Beklagten unter Vorlage eines Silikose bescheinigenden Attestes seines Hausarztes Dr. ... ohne Erfolg Unfallrente. Am 11. Januar 1966 zeigte Dr. ... der Beklagten unter Bezug auf einen knappschaftsärztlichen Bericht vom 7. Dezember 1965 an, daß der Kläger an entschädigungspflichtiger Silikose im Stadium II/III leide. Die Beklagte ließ den Kläger durch Chefarzt Dr. ... untersuchen und begutachten und lehnte es unter Bezug auf dessen Gutachten vom 28. Februar 1966 ab, ihn für seine derzeit eine MdE von 40 v.H. bedingende Silikose zu entschädigen. In der Begründung des Ablehnungsbescheides vom 17. Mai 1966 heißt es, möglicherweise sei der Versicherungsfall der Quarzstaublungenerkrankung 1961 eingetreten; zu dieser Zeit sei der Kläger nach dem ärztlichen Gutachten bereits aus anderen Gründen dauernd erwerbsunfähig gewesen. Durch die Silikose habe eine weitere MdE nicht mehr eintreten können.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Aachen am 26. Oktober 1966 nach Beweisaufnahme abgewiesen. Das Rechtsmittel des Klägers ist ohne Erfolg geblieben. Mit Urteil vom 3. Dezember 1968 hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen die Berufung nach Anhörung eines ärztlichen Sachverständigen zurückgewiesen, die Revision zugelassen und zur Begründung ausgeführt, die Staublungenveränderungen des Klägers hätten etwa zu Beginn des Jahres 1959 den mittleren Schweregrad erreicht und Behandlungsbedürftigkeit bedingt; sie seien frühestens im Jahre 1961 zu einem entschädigungspflichtigen Ausmaß gediehen. Schon lange vor 1959, nämlich seit der Invalidisierung im Jahre 1950 sei der Kläger jedoch im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung bereits völlig erwerbsunfähig gewesen. Aus dem Fehlen einer dem § 561 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF entsprechenden Bestimmung in dem ab 1. Juli 1963 geltenden neuen Recht könne nicht gefolgert werden, der Gesetzgeber habe den Ausschluß des Rentenanspruchs für den Fall, daß der Versicherte zur Zeit des Unfalls bereits völlig erwerbsunfähig gewesen sei, beseitigen wollen.
Dagegen richtet sich die Revision des Klägers. Er bringt vor, das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz (UVNG) habe § 561 RVO aF ersatzlos gestrichen. Dadurch habe der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, daß die Bestimmung nicht mehr geltendes Recht sein dürfe. Der Richter sei deshalb gehindert, auf eine alte, fast 70 Jahre zurückliegende Rechtsprechung zurückzugreifen. Im übrigen bedürfe es bei der Silikose einer besonderen rechtlichen Würdigung.
Der Keim zu dieser Erkrankung sei schon viele Jahre vor ihrem ersten Zutagetreten 1950 gelegt worden. Im Jahre 1950 sei bei Eintritt der Invalidität "bereits die völlig ausgebildete Grundlage für die spätere Entwicklung gegeben gewesen". Unter solchen Voraussetzungen sei aber § 561 RVO aF schon früher durch Literatur und Rechtsprechung als nicht anwendbar erklärt worden. Auch unter dem Gesichtspunkt der "überholenden Kausalität" sei der Anspruch auf Verletztenrente begründet.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG vom 3. Dezember 1968, das Urteil des SG vom 26. Oktober 1966 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. Mai 1966 aufzuheben und diese zu verurteilen, ihm Silikoserente nach einer MdE von 40 v.H. zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Sie trägt vor, die vom Kläger angeführte Literatur und Rechtsprechung sei nicht geeignet, seine Auffassung zu stützen. Der Beginn der Silikoseerkrankung könne nur nach § 3 Abs. 2 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) sowie - unter dem zeitlichen Geltungsbereich des UVNG - nach § 551 Abs. 3 RVO festgestellt werden. Nach den übereinstimmenden Auffassungen der ärztlichen Sachverständigen stehe fest, daß der Beginn der Berufskrankheit nicht auf eine Zeit vor 1950 - also auf eine Zeit, zu welcher der Kläger noch nicht völlig erwerbsunfähig gewesen sei - zurückverlegt werden könne. Darin, daß in dem ab 1. Juli 1963 in Kraft getretenen UVNG eine dem § 561 RVO aF entsprechende Vorschrift nicht aufgenommen sei, sei keine Änderung des bis zum 1. Juli 1963 geltenden Rechts zu erblicken. Diese Bestimmung habe nur einen dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung selbstverständlichen Rechtsgrundsatz enthalten. Falsch wäre es auch, aus dem Fehlen einer entsprechenden Bestimmung im UVNG zu schließen, daß der Anspruch auf Verletztenrente bei dauernder völliger Erwerbsunfähigkeit nur für die Zeit ausgeschlossen sei, während welcher dieser Ausschluß im Gesetz ausdrücklich vorgeschrieben sei. Nach dem 1. Juli 1963 hätten die Sozialgerichte entsprechende Entscheidungen gefällt.
II.
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.
Nach Art. 4 § 1 UVNG gilt das 3. Buch der RVO in der - neuen - Fassung des Art. 1 UVNG nur für Arbeitsunfälle, die sich nach dessen Inkrafttreten am 1. Juli 1963 (Art. 4 § 16 Abs. 1 Satz 1 aaO) ereignen; für Ansprüche aus vorher eingetretenen Arbeitsunfällen gilt das bis dahin in Kraft gewesene Recht. Als Arbeitsunfall gilt sowohl nach altem wie nach neuem Recht eine Berufskrankheit (§ 551 Abs. 1 Satz 1 RVO aF; § 3 Abs. 1 der 3. bis 6. BKVO). Als Zeitpunkt des Arbeitsunfalles gilt bei Berufskrankheiten gemäß § 551 Abs. 3 Satz 2 RVO nF, § 3 Abs. 2 Satz 1 der 3. bis 6. BKVO der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der - rentenberechtigenden - MdE.
Das LSG hat unter Würdigung des Beweisergebnisses, insbesondere der Gutachten der medizinischen Sachverständigen festgestellt, daß die Silikose beim Kläger "frühestens" im Jahre 1961 ein entschädigungspflichtiges Ausmaß - eine MdE von 20 v.H. - erreicht habe. Nach dieser Feststellung bleibt die Möglichkeit offen, daß die Berufskrankheit eine rentenberechtigende MdE noch deutlich später, etwa erst nach dem 30. Juni 1963 erreicht hat. Der vom Kläger erhobene Anspruch auf Verletztenrente muß daher sowohl nach dem vor dem 1. Juli 1963 geltenden Recht als auch nach dem seither herrschenden Rechtszustand geprüft werden.
Die Prüfung des Anspruchs nach altem Recht ergibt, daß er nicht begründet ist.
Nach § 561 RVO aF. ist nur Krankenbehandlung, also keine Verletztenrente zu gewähren, wenn der Verletzte zur Zeit des Unfalls völlig erwerbsunfähig ist. Diese Vorschrift enthält keine eigenständige Regelung, sondern stellt einen das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ohnehin beherrschenden Grundsatz klarstellend heraus. Nach § 559 a Abs. 1 und 3 RVO a.F. erhält ein Verletzter Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung, solange er "infolge des Unfalls" in seiner Erwerbsfähigkeit um mindestens ein Fünftel - ausnahmsweise ein Zehntel - gemindert ist. Diese auch auf Berufskrankheiten anwendbare Vorschrift (§ 545 Abs. 1 Satz 2 RVO aF) stimmt in allen wesentlichen Punkten mit der Regelung in § 581 Abs. 1 und 3 RVO in der ab 1. Juli 1963 geltenden neuen Fassung überein. In Auslegung dieser Vorschrift des neuen Rechts hat der Senat bereits in seiner Entscheidung vom 17. Dezember 1969 (BSG 30, 224 = SozR RVO § 581 Nr. 6) ausgeführt, daß die rentenberechtigende MdE durch den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit verursacht sein müsse. Daraus ergebe sich, daß dann, wenn ein Versicherter zu der Zeit, zu welcher an sich eine rentenberechtigende MdE durch Unfall oder Berufskrankheit eingetreten wäre, bereits infolge eines vom Unfall oder der Berufskrankheit unabhängigen Ereignisses dauernd völlig erwerbsunfähig sei, keine Rente gewährt werden könne; denn in diesem Fall sei die MdE nicht infolge des Unfalls oder der Berufskrankheit, sondern allein infolge des unfallunabhängigen Ereignisses eingetreten. Eine bereits völlig entfallende Erwerbsfähigkeit könne nicht mehr gemindert werden.
Es besteht kein Anlaß, bei der Auslegung des § 559 a RVO aF zu einem anderen Schluß zu gelangen. § 561 RVO aF steht der Auslegung des Senats nicht entgegen; er bestätigt sie vielmehr. Der Umstand, daß § 561 RVO aF als den Zeitpunkt, an dem das Vorliegen völliger Erwerbsunfähigkeit der Gewährung einer Verletztenrente entgegensteht, die "Zeit des Unfalls" anführt, nötigt zu keiner abweichenden Beurteilung der vor dem 1. Juli 1963 gegebenen Rechtslage. Insbesondere läßt sich für Rentenansprüche aus entschädigungspflichtigen Berufskrankheiten nicht annehmen, es komme nicht darauf an, ob völlige Erwerbsunfähigkeit bei Eintritt der rentenberechtigenden MdE vorgelegen habe, sofern nur zum Unfallzeitpunkt - das kann bei Berufskrankheiten auch der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung sein -, die Erwerbsfähigkeit noch nicht völlig entfallen war. Einer solchen am Wortlaut haftenden Auslegung des § 561 RVO stimmt der Senat nicht zu. Allein die Tatsache, daß völlig Erwerbsunfähige in aller Regel keine Arbeitsunfälle erleiden können, weil sie normalerweise keine unter Unfallversicherungsschutz stehende Tätigkeit ausüben oder einen Weg von oder zum Ort dieser Tätigkeit zurücklegen (vgl. §§ 542, 543, 537 mit 540 RVO aF), läßt eine solche Auslegung nicht zu. Eine Auslegung des § 561 RVO aF nach Sinn und Zweck der Vorschrift führt zu der Folgerung, daß die Bestimmung den Anspruch auf Verletztenrente ausschließen wollte, wenn der Versicherte zu der Zeit, in der der Umstand eintritt, der die Pflicht zur Entschädigung der Unfallfolgen in Form einer Rente auslösen würde, bereits völlig erwerbsunfähig ist. Das aber ist der Zeitpunkt, an dem die Folgen des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit ein rentenberechtigendes Ausmaß erreichen. Soweit der Entscheidung des 2. Senats des BSG vom 30. März 1962 (SozR RVO § 561 aF Nr. 1) eine gegenteilige Rechtsauffassung zu entnehmen ist, kann ihr der Senat nicht folgen. Einer Anrufung des Großen Senats bedurfte es jedoch nicht, weil der 2. Senat seinerzeit über einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente entschieden hat, wogegen im vorliegenden Fall der Anspruch auf Verletztenrente streitig ist; der erkennende Senat beurteilt die beiden Fallgruppen unterschiedlich (vgl. SozR RVO § 589 Nr. 8).
Muß aber § 561 RVO aF wie dargestellt ausgelegt werden, so steht dem Kläger ein Anspruch auf Verletztenrente nicht zu. Das LSG hat nach Würdigung des Beweisergebnisses, insbesondere der Gutachten der medizinischen Sachverständigen, festgestellt, daß der Kläger bereits seit September 1950 "völlig erwerbsunfähig" sei; erläuternd hat das LSG angemerkt, daß darunter die Unfähigkeit des Klägers zu verstehen sei, eine wirtschaftlich wesentliche Arbeit zu leisten oder einen irgendwie nennenswerten Verdienst zu erzielen. Damit steht fest, daß völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers bereits 1961, also zu der Zeit, als die Auswirkungen der Silikose frühestens ein rentenberechtigendes Ausmaß erreicht hatten, vorgelegen und damit einen Anspruch auf Verletztenrente ausgeschlossen hat.
Der Kläger glaubt, er könne dieses rechtliche Ergebnis mit dem Hinweis darauf abwenden, in seinem Fall sei ungeachtet der aus anderen Gründen eingetretenen völligen Erwerbsunfähigkeit von seiten der beruflichen Erkrankung "überholende Kausalität" im Spiel. Der konkrete Fall liegt nicht so, daß dieser Begriff - so, wie er gemeinhin verstanden wird - auf ihn überhaupt angewendet werden könnte. Der Kläger übersieht zudem, daß unter "überholender Kausalität" letztlich kein Problem des ursächlichen Zusammenhangs, sondern zumeist der Schadensberechnung verstanden wird, es geht im einzelnen um die Frage, ob derjenige, dem ein bestimmter Schaden zuzurechnen ist, für diesen Schaden voll oder, im Hinblick auf eine ihm nicht zurechenbare "hypothetische Schadensursache", nur beschränkt haftet (vgl. statt vieler z.B. Staudinger BGB 10/11. Aufl. 1967, Vorbemerkung vor § 249, Randnrn. 44 mit 51; Palandt/Heinrichs BGB, 29. Aufl. Vorbemerkung 5 f vor § 249). Dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist aber eine solche Schadensaufteilung fremd. Der Vortrag des Klägers ist daher nicht geeignet, eine ursächliche Verknüpfung zwischen beruflicher Schädigung und seiner Erwerbsunfähigkeit darzutun.
Der Kläger weist weiter darauf hin, daß die von seiner Berufstätigkeit unter Tage herrührenden, die Gesundheit schädigenden Einwirkungen schon lange vor der Zeit, als er erwerbsunfähig geworden sei, den Keim für die Erkrankung an Silikose gelegt hätten. Das mag zutreffen. Indessen hat die durch die beruflichen Einwirkungen ausgelöste Kausalreihe zu keinem einer Berentung fähigen Schaden geführt; bereits vor Eintritt der zum Bezug einer Verletztenrente begründenden MdE war die Erwerbsfähigkeit des Klägers aus anderen Gründen völlig entfallen.
Dem Kläger steht nicht nur nach dem bis zum 30. Juni 1963 geltenden Recht, sondern auch nach dem am 1. Juli 1963 in Kraft getretenen UVNG kein Anspruch auf Verletztenrente zu. Das hat der Senat für Fälle der vorliegenden Art in der vorstehend zitierten Entscheidung vom 17. Dezember 1969 (aaO) aus den angegebenen Gründen verneint. An dieser Entscheidung hält der Senat fest. Die Auslegung des § 561 RVO aF hat nichts ergeben, was die Richtigkeit der zu § 581 RVO nF ergangenen Entscheidung in Frage stellen könnte.
Nach alledem trifft das einen Rentenanspruch des Klägers verneinende Urteil des LSG zu. Die Revision hiergegen war daher als unbegründet zurückzuweisen.
Im Kostenpunkt stützt sich die Entscheidung auf § 193 SGG.
Fundstellen