Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachentrichtung bei verfolgungsbedingter Unterbrechung der Ausbildung
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Verfolgter, dessen in Polen begonnene Schulausbildung im Jahre 1939 durch Verfolgungsmaßnahmen unterbrochen worden ist, der dafür aber keine Entschädigung nach dem BEG erhalten hat, weil er vor der Auswanderung nach Israel niemals einen Wohnsitz im Deutschen Reich nach dem Stande vom 31.12.1937 oder seinen später angegliederten Gebieten gehabt hat, ist nicht berechtigt, freiwillige Beiträge nach WGSVG § 10a Abs 2 nachzuentrichten.
2. Zur Abgrenzung des Begriffes "Schaden in der Ausbildung" iS von WGSVG § 10a Abs 2.
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Berechtigung zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge aufgrund der 1. Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG setzt nicht nur die verfolgungsbedingte Unterbrechung der Ausbildung, sondern auch die Zahlung einer Entschädigung gemäß §§ 116, 118 BEG bzw eines Härteausgleichs gemäß § 171 Abs 2 Buchst c BEG voraus.
2. Unter "Beendigung der Ausbildung" iS der 2. Alternative ist der Abschluß der Ausbildung zu verstehen. Mit der kleinen Matura ist die Schulausbildung nicht abgeschlossen.
Normenkette
WGSVG § 10a Abs. 2 Fassung: 1975-04-28; BEG §§ 116, 118, 171 Abs. 2 Buchst. c
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, gemäß § 10a Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 idF des Gesetzes vom 28. April 1975 (WGSVG) Beiträge zur Angestelltenversicherung nachzuentrichten.
Der am 11. Juli 1923 in Zaleszcyki/Polen geborene Kläger ist rassisch Verfolgter. Er besuchte von 1929 bis 1935 die Volksschule und anschließend das Gymnasium in Krakau. Im Juni 1939 legte er die kleine Matura ab und beabsichtigte, ab September 1939 das Gymnasium für weitere zwei Jahre - bis zur großen Matura - weiterzubesuchen. Daran wurde er durch die nach dem Polenkrieg einsetzende Verfolgung gehindert. Erst im Jahre 1945 konnte er sich auf die große Matura vorbereiten. Von 1946 bis 1949 studierte er in Prag Medizin und wanderte 1949 nach Israel aus, wo er, nachdem er von 1953 bis 1958 sein medizinisches Studium an der Universität Graz/Österreich fortgesetzt und abgeschlossen hatte, seit 1958 als Arzt beschäftigt ist.
Mit Bescheid des Regierungspräsidenten in Köln vom 17. November 1956 wurde ihm gemäß § 160 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) eine Entschädigung für Schaden an Freiheit zuerkannt.
Auf seinen Antrag vom 31. Dezember 1975 gestattete ihm die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) für die Zeit vom 1. Januar 1969 bis 31. Dezember 1973 (Bescheid vom 3. Januar 1978). Mit Bescheid vom gleichen Tage lehnte sie die ebenfalls am 31. Dezember 1975 beantragte Beitragsnachentrichtung nach § 10a Abs 2 WGSVG ab. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 1978; Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 9. Juli 1979; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 24. Januar 1980). Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Die erste Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG scheide aus, weil dem Kläger keine Entschädigung nach § 116 oder § 118 BEG zuerkannt worden sei. Die Voraussetzungen der zweiten Alternative lägen ebenfalls nicht vor. Wenn hierfür gefordert werde, daß die Verfolgungsmaßnahme innerhalb von 12 Monaten nach Beendigung der Ausbildung begonnen hat, so könne dies nur bedeuten, daß die Ausbildung abgeschlossen gewesen sein müsse. Bei der Auslegung der fraglichen Vorschrift sei die durch § 1 WGSVG bestimmte Zielsetzung des Gesetzes zu beachten. Deshalb könne auch bei § 10a WGSVG nicht auf jede Beziehung zur Sozialversicherung verzichtet werden. Beim Vorliegen der beiden in § 10a Abs 2 WGSVG geregelten Tatbestände werde vermutet, daß die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Tätigkeit verzögert worden und damit auch ein Schaden in der Sozialversicherung eingetreten sei. Der Kläger habe seine Ausbildung nicht beendet gehabt. Er würde ohne die Verfolgung nach dem Ablegen der kleinen Matura keine versicherungspflichtige Beschäftigung angenommen haben und sei somit noch relativ weit von dem System der Sozialversicherung entfernt gewesen. Daß für den Fall des Abbruchs der Ausbildung weitergehende Voraussetzungen gefordert würden, entspreche der Zielsetzung des Gesetzes. Hierdurch werde zwar das Recht zur Nachentrichtung auf eine bestimmte Personengruppe beschränkt. Das sei aber nicht willkürlich, sondern entspreche der Systematik des Entschädigungsrechts. Auch im Vergleich zur Regelung des § 20 WGSVG sei keine unsachgemäße Ungleichbehandlung zu erkennen.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 10a Abs 2 WGSVG. Entgegen der Auffassung des LSG lägen bei ihm die Voraussetzungen der zweiten Alternative dieser Vorschrift vor. Beendigung der Ausbildung könne nur so verstanden werden, daß eine Ausbildung entweder abgeschlossen oder direkt durch die Verfolgungsmaßnahme beendet, dh unterbrochen worden sei. Wer durch Verfolgungsmaßnahmen an der weiteren Ausbildung gehindert und dadurch auch an der Ausübung einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung im Anschluß daran gehindert worden sei, habe einen Schaden ebenso erlitten wie ein anderer. Wenn der Gesetzgeber potentielle Schäden in der Sozialversicherung bei Ausbildungsgeschädigten geregelt habe, so müßten auch Verfolgte einbezogen werden, die eine Entschädigung nach den §§ 116, 118 BEG nicht erhalten hätten.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid
der Beklagten vom 3. Januar 1978 in der Gestalt
des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 1978 aufzuheben
und die Beklagte zu verurteilen, ihn zur
Beitragsnachentrichtung nach § 10a WGSVG zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen. Das LSG hat - wie das SG und die Beklagte - zu Recht entschieden, daß der Kläger nicht berechtigt ist, Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 10a Abs 2 WGSVG nachzuentrichten.
Die Voraussetzungen des § 10a Abs 2 WGSVG sind in beiden Alternativen nicht erfüllt. Nach dieser durch das Achtzehnte Rentenanpassungsgesetz vom 28. April 1975 (BGBl I 1018) in das WGSVG eingefügten Vorschrift können Verfolgte bei Erfüllung der übrigen - hier nicht streitigen - Voraussetzungen Beiträge zur Rentenversicherung dann nachentrichten, wenn ihnen entweder wegen eines Schadens in der Ausbildung iS des BEG rechtskräftig oder unanfechtbar eine Entschädigung nach § 116 oder § 118 BEG zuerkannt worden ist oder wenn bei ihnen die Verfolgungsmaßnahme innerhalb von 12 Monaten nach Beendigung der Ausbildung begonnen hat.
Bei der Normierung des Tatbestandsmerkmals "Schaden in der Ausbildung" in der ersten Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG hat sich der Gesetzgeber auf das BEG bezogen und damit diesen Begriff iS dieses Gesetzes definiert. In § 115 Abs 1 BEG ist der einer Entschädigung nach § 116 BEG und § 118 BEG aF zugrunde liegende Schaden als ein Schaden bezeichnet, den der Verfolgte in seiner Berufsausbildung oder in seiner vorberuflichen Ausbildung durch Ausschluß von der erstrebten Ausbildung oder durch deren erzwungene Unterbrechung erlitten hat. Unter Ausschluß von der erstrebten Ausbildung ist die Nichtzulassung zur Ausbildung zu verstehen, so daß der Verfolgte die Ausbildung nicht beginnen konnte. Die Unterbrechung stellt sich als Verhinderung an der Fortführung oder am Abschluß einer bereits begonnenen Ausbildung dar (Blessin-Giessler, Bundesentschädigungs-Schlußgesetz, Kommentar zur Neufassung des BEG, Anm III 2b zu § 115; BGH RzW 60, 274). Die verfolgungsbedingte Unterbrechung oder Verzögerung einer Ausbildung ist demnach unter die erste Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG zu subsumieren. Unter "Beendigung der Ausbildung" kann folglich nur der Abschluß der Ausbildung verstanden werden. Die Ausbildung ist abgeschlossen, wenn der Betroffene den für die Berufsaufnahme erforderlichen Ausbildungsstand erreicht hat, wenn er also bei Berufen, deren Ausübung von einer Prüfung oder einem Befähigungsnachweis abhängt, die vorgeschriebene Prüfung mit Erfolg abgelegt hat (Blessin-Giessler aaO Anm III 1c; BGH RzW 58, 404; 60, 179; 60, 402).
Der Kläger hatte mit dem Bestehen der kleinen Matura die vorgesehene vorberufliche Ausbildung noch nicht abgeschlossen, so daß für ihn die zweite Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG nicht in Betracht kommt.
Obwohl der Kläger aufgrund der verfolgungsbedingten Unterbrechung seiner Ausbildung die in § 10a Abs 2 WGSVG - erste Alternative - normierte Voraussetzung des Schadens in der Ausbildung erfüllt, hat er keinen Anspruch auf Beitragsnachentrichtung nach dieser Vorschrift, weil ihm - wie das LSG unangefochten festgestellt hat - keine Entschädigung nach den §§ 116, 118 BEG zuerkannt worden ist. Eine Entschädigung nach diesen Vorschriften hat er nicht erhalten können, weil er seinen verfolgungsbedingten Schaden im beruflichen Fortkommen - durch Hinderung an einer weiteren Schulausbildung - nicht "im Reichsgebiet nach dem Stande vom 31. Dezember 1937 oder im Gebiet der Freien Stadt Danzig" erlitten hat (§ 64 Abs 1 BEG vom 29. Juni 1956, BGBl I 562, ergänzt durch das BEG-Schlußgesetz vom 14. September 1965, BGBl I 1315). Er hat auch keinen Härteausgleich nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG idF des Schlußgesetzes erhalten können, weil er den Verfolgungsschaden zwar als Angehöriger des deutschen Sprach- und Kulturkreises im Vertreibungsgebiet (Polen) erlitten hat, aber seinen letzten Wohnsitz oder dauernden Aufenthalt nicht in einem dem Deutschen Reich nach dem Stande vom 30. September 1938 angegliederten Gebiet (einschließlich des ehemaligen Protektorats Böhmen und Mähren) gehabt hat. Der vom Gesetzgeber gewollte Ausschluß der insoweit nicht nach dem BEG entschädigten ausbildungsgeschädigten Verfolgten von der Beitragsnachentrichtung nach dem WGSVG ist - wie das LSG zu Recht hervorgehoben hat - nicht willkürlich. Er entspricht dem mit dem WGSVG angestrebten Ziel, verfolgungsbedingte Nachteile in der Sozialversicherung auszugleichen. Wenn das Gesetz deshalb die Verursachung eines ausgleichsfähigen sozialversicherungsrechtlichen Nachteils bei Personen, die noch in der Ausbildung, insbesondere in der vorberuflichen Ausbildung, standen und deshalb noch keine Beziehung zur Sozialversicherung hatten, nur dann als gegeben unterstellt, wenn die im BEG hierfür vorgesehene Entschädigung zuerkannt worden ist, dann ist das sachgerecht. Das gilt auch insofern, als umgekehrt bei denjenigen Personen, denen eine Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen nicht gewährt wurde, ein verfolgungsbedingter Schaden im sozialversicherungsrechtlichen Bereich nicht unterstellt wird. Dies ist jedenfalls bei Verfolgten unbedenklich, die, wie der Kläger, in das Ausland ausgewandert sind, ohne jemals in einem Gebiet gewohnt zu haben, in dem sie der deutschen Sozialversicherung hätten unterstehen können, und die auch nicht als Vertriebene iS des Bundesvertriebenengesetzes in den Bereich der deutschen Sozialversicherung gelangt sind.
Eine über den Wortlaut des § 10a Abs 2 WGSVG - erste Alternative - hinausgehende Auslegung dahin, daß es für seine Anwendung nur auf das Vorliegen eines Schadens in der Ausbildung nach den oa Vorschriften des BEG ankomme, hält der Senat nicht für zulässig. Sie würde im Gegensatz zu einer sinngemäßen Auslegung des § 10a Abs 2 WGSVG wie in dem Urteil des Senats vom 17. März 1981 - 12 RK 72/79 - (Mitumfassung des Härteausgleichs nach § 171 Abs 2 Buchst c BEG) die Grenze des möglichen Wortsinns des Gesetzes überschreiten. Eine gesetzesüberschreitende Rechtsfortbildung iS einer Lückenfüllung scheitert hier aber daran, daß eine Gesetzeslücke insoweit nicht vorliegt. Der Gesetzgeber hat nämlich bei der Schaffung der Vorschrift die Gewährung einer Entschädigungsleistung nach dem BEG als Anspruchsvoraussetzung für die Nachentrichtung nach § 10a Abs 2 WGSVG - erste Alternative - ausdrücklich gewollt (vgl BT-Drucks 7/3235 S 6).
Daß demgegenüber in der zweiten Alternative des § 10a Abs 2 WGSVG die Zuerkennung einer Entschädigung nach dem BEG nicht vorausgesetzt wird, findet eine hinreichende Erklärung darin, daß es sich hierbei nicht um einen Schaden in der Ausbildung handeln kann. Diese Vorschrift setzt vielmehr eine bereits abgeschlossene Ausbildung und eine erst zeitlich nachfolgende Verfolgungsmaßnahme voraus. In einem solchen Fall war der Verfolgte in der Regel bereits in das Berufsleben eingetreten oder stand kurz davor. Hier konnte der Gesetzgeber von der allgemeinen Vermutung ausgehen, daß sich Verfolgungsmaßnahmen nachteilig auf den Versicherungsverlauf ausgewirkt hatten, so daß er die Zuerkennung einer Entschädigung für Schaden im beruflichen Fortkommen im Einzelfall nicht zu fordern brauchte. Eine willkürliche Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte kann deshalb - entgegen der Ansicht der Revision - nicht angenommen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen