Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorweggenommene Beweiswürdigung. geeignetes Beweismittel
Orientierungssatz
Ob ein Zeuge für einen Rechtsstreit erhebliche Angaben hätte machen können, darf das Gericht erst nach der Beweisaufnahme würdigen. Es hat, wenn es die nicht von vornherein völlig ungeeignete Beweisaufnahme abgelehnt hat, seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 S 1 SGG).
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.03.1980; Aktenzeichen L 6 V 20/79) |
SG Detmold (Entscheidung vom 09.01.1979; Aktenzeichen S 2 V 143/76) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Hinterbliebenenrente nach ihren am 25. November 1974 verstorbenen Ehemann. Der Verstorbene erhielt eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH. Als Schädigungsfolgen waren anerkannt:
1. Verlust des linken Unterschenkels im oberen Drittel mit ungünstigen Stumpfverhältnissen und Einschränkung der Kniegelenksbeweglichkeit,
2. reizlose Narben am rechten Unterarm, Verlust des Endgliedes des rechten Zeigefingers.
Die Zurückweisung der Berufung gegen das klageabweisende Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) damit begründet, daß der Klägerin das Vorliegen der gemäß § 38 Bundesversorgungsgesetz (BVG) für die Gewährung einer Witwenrente erforderlichen Voraussetzungen nicht bestätigt werden könne. Laut der Todesbescheinigung des Dr H sei der Ehemann der Klägerin an einem Myocardinfarkt bei Herzwandaneurysma gestorben. Wenn diese Kennzeichnung der Todesursache richtig sei, so führt das LSG aus, ließe sich ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Ableben des Beschädigten und den Folgen seiner Kriegsverletzungen nicht als wahrscheinlich erachten. Allerdings habe der Sachverständige Prof Dr M eine Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs angenommen, wenn die zum Tode führende Gesundheitsstörung in Wahrheit nicht ein Herzinfarkt, sondern vielmehr eine globale Herzschwäche gewesen sein sollte. Hierzu hätte sich eine verläßliche Feststellung jedoch letztlich nur aufgrund einer Obduktion - die nicht durchgeführt worden sei - oder allenfalls noch dann treffen lassen, wenn alle Krankenpapiere vorgelegen hätten, die aber nicht mehr aufzufinden seien. Deshalb sei das LSG nicht gehalten, noch eine Auskunft von Dr H darüber einzuholen, worauf dieser seine Diagnose in der Todesbescheinigung gestützt habe. Insoweit sei zu bedenken, daß bei Verlust der Originalunterlagen Dr H die Diagnose jetzt nicht mehr näher zu belegen vermöge. Andererseits sei dieses Unvermögen jedoch nicht geeignet, zu der Feststellung zu führen, daß die gemäß § 38 BVG für die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente erforderlichen Voraussetzungen erfüllt seien.
Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor: Das LSG habe § 103 Sozialgerichtsgesetz -SGG- verletzt und zugleich gegen § 128 SGG verstoßen, weil es Dr H nicht vernommen habe. Auf diesem Verfahrensmangel beruhe das angefochtene Urteil, denn es sei nicht auszuschließen, daß das LSG bei gehörigem Verfahren sich von dem ursächlichen Zusammenhang des Todes mit Schädigungsfolgen überzeugt hätten. Der Ehemann der Klägerin sei nicht an einem Herzinfarkt verstorben, sondern an einer allgemeinen Herzschwäche, die selbst wieder Folge von ständigen Eiterungen am Stumpf des linken Unterschenkels gewesen sei. Im übrigen habe der Beklagte schuldhaft versäumt, die angebotene Obduktion durchzuführen, und dadurch den Nachweis für die Anspruchsvoraussetzungen der Klägerin erschwert oder gar vereitelt. Die gleiche Wirkung habe auch die verzögerliche Erteilung des Bescheides von fast einem Jahr nach dem Antrag durch den Beklagten gezeitigt. Wegen dieser Versäumnisse stünde der Klägerin ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch zu; zumindest sei jedoch von den Tatsacheninstanzen im Rahmen der Beweiswürdigung ein derartiges Verschulden zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
das angefochtene Urteil abzuändern und den Beklagten
zu verurteilen, der Klägerin ab Dezember 1974
Hinterbliebenenbezüge nach Maßgabe der gesetzlichen
Bestimmungen zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bestreitet, daß er seine Ermittlungspflicht schuldhaft vernachlässigt habe. Für eine Verurteilung des Beklagten fehle es an hinreichenden tatsächlichen Feststellungen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist zulässig (§ 160 Abs 1, § 164 SGG). Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um abschließend in der Sache zu entscheiden.
Für den Antrag der Klägerin, den Beklagten zu verurteilen, ihr die Hinterbliebenenbezüge zu gewähren, fehlt es an den tatsächlichen Feststellungen. Der Anspruch nach § 38 Abs 1 Satz 1 BVG scheitert - jedenfalls zur Zeit - daran, daß nicht geklärt ist, ob der Tod des Beschädigten als Folge seiner Schädigung eingetreten ist.
Für einen sog sozialrechtlichen Herstellungsanspruch in Richtung auf eine Witwenversorgung fehlt es an der Feststellung, daß der Klägerin eine Witwenversorgung zugestanden worden wäre, wenn der Beklagte bei der Aufklärung des Sachverhalts sich so verhalten hätte, wie die Klägerin es jetzt für erforderlich ansieht. (Ob und evtl welche Folgerungen aus diesem Umstand für die Beweiswürdigung zu ziehen sind, ist in diesem Rechtszug vom Bundessozialgericht (BSG) nicht zu entscheiden).
Die Sache ist an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Die Klägerin hat substantiiert aufgezeigt, daß das LSG den Sachverhalt nicht voll aufgeklärt hat. Nach den Gründen des LSG-Urteils kam es darauf an, ob G an einem Herzinfarkt oder an einer globalen Herzschwäche verstorben war. Zur Aufklärung dieses Streitpunktes mußte sich dem LSG aufdrängen, Dr H zu vernehmen. Stellt sich nämlich heraus, daß die in der Todesbescheinigung genannten Krankheiten auf einer mangelhaften Grundlage diagnostiziert waren, so würde der Raum frei für eine neue, evtl andere Feststellung der Todesursache und damit der Grundlage für den klägerischen Anspruch. Das LSG konnte diese Vernehmung nicht mit dem Hinweis ablehnen, Dr H sei nicht in der Lage, Sachdienliches auszusagen, weil die in Betracht kommenden Original-EKG-Aufzeichnungen und die Krankengeschichte in dem städtischen Krankenhaus G nicht mehr aufzufinden gewesen seien. Diese Umstände machen eine Aussage des Dr H nicht von vornherein auf jeden Fall ungeeignet. Abgesehen davon, daß Dr H zB aus irgendwelchen Besonderheiten des Falles heraus sich die Einzelheiten gemerkt haben könnte, ist es nicht ausgeschlossen, daß ihm irgendwelche privaten Aufzeichnungen zur Verfügung gestanden hätten. Ob Dr H für den Rechtsstreit erhebliche Angaben hätte machen können, durfte das Gericht erst nach der Beweisaufnahme würdigen. Es hat deshalb, weil es die nicht von vornherein völlig ungeeignete Beweisaufnahme abgelehnt hat, seine Pflicht verletzt, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 Satz 1 SGG).
Auf dieser Verletzung der Aufklärungspflicht kann das angefochtene Urteil auch beruhen. Die Revision legt dar, daß bei Erschütterung der Diagnose im Totenschein ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Tod des Beschädigten und seiner auf ständiger Eiterung beruhenden allgemeinen Herzschwäche angenommen werden könnte.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen