Entscheidungsstichwort (Thema)
Bedeutung ärztlicher Gutachten
Leitsatz (redaktionell)
Das Gericht ist zwar bei der Urteilsfindung an die ärztlichen Gutachten nicht gebunden; es ist vielmehr im Rahmen seines auf sachliche Gründe gestützten Ermessens in der Beweiswürdigung frei. Auf der anderen Seite darf aber die besondere Bedeutung der ärztlichen Gutachten nicht verkannt werden. Da dem Gericht Fachkenntnisse auf dem medizinischen Gebiet meist fehlen, darf es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch ärztliche Sachverständige nicht hinweggehen, insbesondere nicht seine eigene Auffassung an deren Stelle setzen.
Normenkette
RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. April 1956 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Dr. H. vor dem Bundessozialgericht wird auf ... DM festgesetzt.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der im Jahre 1878 geborene Kläger beantragte bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA.) am 2. Januar 1953 die Gewährung von Invalidenrente. Er hatte bis zum Jahre 1906 404 Wochenbeiträge entrichtet (Quittungskarten Nr. 1 bis 8); ferner waren für die Zeit bis zur Antragstellung in den Quittungskarten Nr. 9 bis 11 260 Beiträge aufgerechnet. Als der Kläger im Jahre 1952 bei der Gemeindeverwaltung Eitorf die Ausstellung einer Quittungskarte beantragte, um seine freiwillige Weiterversicherung aufzunehmen, veranlaßte die Gemeindeverwaltung, daß er ärztlich untersucht wurde. Auf Grund einer am 6. Mai 1952 durchgeführten Untersuchung beurteilte Obermedizinalrat Dr. B den Gesundheitszustand des damals im 74. Lebensjahr stehenden Klägers wie folgt:
"1.) Dem Alter entsprechende Altersabnutzung und entsprechende Aderverkalkung,
2.) beginnende Arthritis, linke Schulter: ist noch verhältnismäßig rüstig".
Der Gutachter nahm hiernach an, daß der Kläger noch fähig sei, mittelschwere Arbeiten zu verrichten; die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit betrage 40 v. H.. Bevor die Beklagte über den Rentenantrag entschied, ließ sie den Kläger durch den Facharzt für Innere Medizin und Neurologie Dr. K untersuchen. Sie gab Dr. K bei Erteilung des Auftrags, diese Untersuchung vorzunehmen, von der Beurteilung durch Dr. B Kenntnis und führte dabei aus: "Da Invalidität somit nicht vorlag, konnte der Versicherte freiwillig Beiträge entrichten". Die Untersuchungen des Gutachters Dr. K vom 19. Juni und 24. Juni 1953 ergaben: Deutliche Altersabnutzungserscheinungen, vorgeschrittene Aortensklerose mit Starrwandigkeit, Herzmuskelschädigung, Cerebralsklerose und arthrotische Abnutzungserscheinungen an der Brust- und Lendenwirbelsäule. Der Sachverständige hielt im Hinblick auf diese Befunde den Kläger nicht mehr für fähig, die gesetzliche Lohnhälfte zu verdienen und bewertete die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf mindestens 70 v. H.. Er führte weiter aus, daß die von ihm festgestellten Leiden zu ihrer Entwicklung erfahrungsgemäß eine Reihe von Jahren brauchten und daß nach ärztlichen und wissenschaftlichen Erfahrungen die arteriosklerotischen Veränderungen und die Altersverschleißerscheinungen am Bewegungsapparat die Erwerbsfähigkeit des Klägers mindestens seit Erreichung des 70. Lebensjahres um mehr als 66 2/3 v. H. gemindert hätten. Dr. K wies hierbei auch auf ein vom Kläger vorgelegtes ärztliches Zeugnis des Dr. K vom 16. Juni 1953 hin, wonach der Kläger seit einigen Jahren an arteriosklerotischen Erscheinungen, besonders cerebraler Art, leide. Die Beklagte lehnte nunmehr den Antrag des Klägers auf Gewährung von Invalidenrente mit Bescheid vom 4. August 1953 - unter Beanstandung seiner vom 1. Juni 1949 an entrichteten Beiträge - mit der Begründung ab, daß der Kläger mindestens seit dem 70. Lebensjahr invalide sei und die Wartezeit somit nicht erfüllt habe.
Der Kläger legte gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten beim Oberversicherungsamt (OVA.) Köln Berufung ein und brachte zur Begründung vor, ein Beamter der Gemeindeverwaltung Eitorf habe ihm erklärt, er könne weiterkleben; auch Dr. B habe ihm dies gesagt. Deshalb habe er bei der Kreissparkasse Siegburg/Zweigstelle Eitorf ein Darlehen in Höhe von 400,- DM aufgenommen und dafür Beitragsmarken gekauft. Er sei im Alter von 70 Jahren noch nicht invalide gewesen; erst in letzter Zeit habe er es mit dem Herzen zu tun. Das Sozialgericht (SG.) Köln, auf das der Rechtsstreit als Klage überging (§ 215 Absätze 2 und 4 SGG), hörte am 26. Februar 1954 als ärztlichen Sachverständigen Dr. T der auf Grund seiner Untersuchung annahm, daß der Kläger mit 70 Jahren sicherlich invalide gewesen sei. Dr. B den das SG. unter Hinweis auf die von Dr. K festgestellten Befunde und auf das Zeugnis des behandelnden Arztes Dr. K zu seiner früheren Beurteilung hörte, nahm unter dem 19. März 1945 zusammenfassend wie folgt Stellung: "Bei Würdigung der Gesamtunterlagen vertrete ich heute die Auffassung, daß Herr S bei seiner Untersuchung am 6. Mai 1952 Wesentliches nicht angegeben hat und daß sich das Gutachten von Herrn Dr. K auf objektive Befunde stützt, die seinerzeit nicht vorlagen. Ich bin der Auffassung, daß das Gutachten von Herrn Dr. K in Verbindung mit der ärztlichen Bescheinigung von Herrn Dr. K vom 16. Juni 1953 richtig ist, d. h. daß auch schon im Mai 1952 Invalidität mit aller Wahrscheinlichkeit vorgelegen hat". Das SG. wies die Klage mit der Begründung ab, daß der Kläger mit Sicherheit seit Mai 1952, als er die Wartezeit noch nicht erfüllt gehabt habe, invalide gewesen sei.
Mit der Berufung gegen dieses Urteil machte der Kläger geltend, Dr. K habe bei seiner Untersuchung im Jahre 1953 nur Feststellungen über seinen damaligen Gesundheitszustand treffen können, nicht jedoch für zurückliegende Zeiten. Er legte ein neues Zeugnis seines behandelnden Arztes Dr. K vom 11. Juli 1954 vor, in dem dieser ausführt, er habe mit seinem früheren Attest vom 16. Juni 1953 nicht zum Ausdruck bringen wollen, daß der Kläger schon im Jahre 1948 invalide gewesen sei; dies ergebe sich nach seiner Ansicht auch aus der Bewertung der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch Obermedizinalrat Dr. B in seinem Gutachten vom 6. Mai 1952; der Kläger sei ihm seit etwa 50 Jahren bekannt, er habe beobachten können, daß er fast wie ein junger Jagdaufseher ohne Zeichen erkennbarer Ermüdung beinahe jede Nacht zur Saujagd gegangen sei und auch heute noch gehe. Ferner legte der Kläger die Bescheinigung eines Jagdpächters, des Architekten Hans H vom 20. Juni 1954 vor, wonach der Kläger das Revier W. seit Jahren betreue; die jungen Treiber könnten dem Kläger nicht in etwa nachkommen; man sei mit den Leistungen des Klägers, der das wegen hoher Berge schwer zu bejagende Revier seit Jahren betreue, sehr zufrieden.
Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen hob den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 4. August 1953 unter Abänderung des Urteils des SG. mit der Maßgabe auf, daß die Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger vom 1. Juni 1953 an Invalidenrente in gesetzlicher Höhe zu zahlen: Der Kläger habe die für die Gewährung der Invalidenrente wegen Invalidität erforderliche Mindestwartezeit von 60 Beitragsmonaten zurückgelegt. Da er in der Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 30. November 1948 keinen Beitrag entrichtet habe - die in der Quittungskarte Nr. 9 enthaltenen, für 1948 und 1949 geltenden Beitragsmarken seien erst nach dem 1. Juni 1949 ausgegeben worden -, sei die Anwartschaft aus den bis zum Jahre 1906 geleisteten Beiträgen nicht nach § 4 Abs. 2 des Sozialversicherungs- Anpassungsgesetzes erhalten. Die Wartezeit sei aber mit den für die Zeit vom 1. Januar 1948 bis 31. Dezember 1952 entrichteten Beiträgen erfüllt. Die Beklagte habe die in der Zeit vom 1. Juni 1949 ab entrichteten Beiträge zu Unrecht als unwirksam angesehen; denn die Gemeindeverwaltung in Eitorf habe dem Kläger im Mai 1952 das Gutachten des Dr. B im Auftrage der Beklagten bekanntgegeben. Die Akten ergäben, daß Dr. B sein Gutachten am 6. Mai 1952 unmittelbar der beklagten LVA. übersandt habe. Ferner gehe aus den Akten hervor, daß das Versicherungsamt Siegburg das Gutachten des Dr. B am 12. Mai 1952 an die Gemeindeverwaltung in Eitorf weitergeleitet habe, die es dann dem Kläger bekanntgegeben habe. Das Gutachten müsse also vor seiner Bekanntgabe an den Kläger der Beklagten vorgelegen haben, und diese Bekanntgabe müsse auf einer Anordnung der Beklagten beruhen. Daß dies im Sinne der Beklagten gelegen habe, ergebe sich auch aus dem späteren Schreiben der Beklagten an Dr. K vom 24. April 1953. Die Beklagte habe die Versicherungsberechtigung des Klägers demnach anerkannt (§ 1445 Abs. 2 Satz 2 RVO); sie könne deshalb seinen Rentenanspruch nicht mit der Begründung ablehnen, daß die vorher entrichteten Marken zu Unrecht verwendet worden seien. Für eine Täuschung der Beklagten durch den Kläger, die ihre Bindung allerdings ausschließen würden, seien keine Anhaltspunkte ersichtlich. Wenn Dr. K unterstelle, die Invalidität des Klägers sei schon im Jahre 1948 eingetreten, so spreche hiergegen die Stellungnahme des Dr. B vom 19. März 1954, wonach der Kläger im Mai 1952 noch nicht invalide gewesen sei, weil die von Dr. K festgestellten Befunde zu dieser Zeit noch nicht vorgelegen hätten. Der Kläger habe nach dem Gutachten des Dr. B vom 6. Mai 1952 noch nicht an einer Verbreiterung des Herzens gelitten. Ferner sei er im Jahre 1952 und sogar noch 1954 als Jagdaufseher tätig gewesen, was mit beschwerlichem Bergsteigen verbunden sei. Dazu wäre er nicht mehr in der Lage gewesen, wenn seine Krankheit vor dem 3. Januar 1953 eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von über 50 v. H. bedingt hätte. Da der Kläger im Jahre 1953 schon 75 Jahre alt gewesen sei, könne nicht ausgeschlossen werden, daß sich sein Gesundheitszustand erst kurze Zeit vor der Untersuchung im Jahre 1953 verschlechtert habe. Revision wurde nicht zugelassen.
Mit Schriftsatz vom 30. August 1956, beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen am 31. August 1956, hat die beklagte LVA. gegen das ihr am 8. August 1956 zugestellte Urteil Revision eingelegt und beantragt,
das Urteil des LSG. vom 13. April 1956 aufzuheben und das Urteil des SG. Köln bzw. ihren Bescheid vom 4. August 1953 wiederherzustellen.
Die Beklagte begründet ihre Revision damit, daß das Urteil gegen §§ 1254 (Invaliditätsbegriff), 1262 (Wartezeit), 1440 (Beitragshöhe), 1442 der Reichsversicherungsordnung (RVO) (Nachbringungsfrist), gegen die Sachaufklärungspflicht (§§ 103, 157 SGG), wider den klaren Akteninhalt und gegen die Regeln einer ungezwungenen Auslegung der erhobenen Beweise verstoße sowie auf einer Verletzung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung beruhe. Sie macht hierzu folgendes geltend: Sie habe erst auf Grund des Antrages des Klägers vom 2. Januar 1953, in dem auf eine vertrauensärztliche Untersuchung beim Kreisgesundheitsamt Siegburg vom 6. Mai 1952 hingewiesen war, von dem Gutachten des Dr. B vom 6. Mai 1952 Kenntnis erlangt. Dr. B habe das auf Veranlassung der Gemeindeverwaltung Eitorf erstattete Gutachten zwar an die LVA. adressiert, habe es aber an das Versicherungsamt der Kreisverwaltung Siegburg gesandt, das das Gutachten, wie sich aus dem Eingangsstempel und der Anschrift ergebe, ebenfalls nicht an die LVA., sondern an die auftraggebende Gemeinde Eitorf zurückgeleitet habe. Die Gemeindeverwaltung Eitorf habe das Gutachten der Beklagten erst auf ihre Anforderung vom 27. März 1953 mit Schreiben vom 13. April 1953 übersandt, und zwar zusammen mit der am 26. September 1951 aufgerechneten Quittungskarte Nr. 9. Hiernach habe die Gemeinde Eitorf das Gutachten des Dr. B bewußt ein Jahr und die Quittungskarte Nr. 9 sogar einundeinhalb Jahre rechtswidrig zurückgehalten. Allein deshalb sei die rechtzeitige Beanstandung der Beiträge und die Aufklärung des Klägers durch den Versicherungsträger unterblieben. Von einem Anerkenntnis der freiwilligen Weiterversicherung könne um so weniger die Rede sein, als die Beklagte sofort nach dem Eingang des Gutachtens des Dr. B eine ambulante fachärztliche Untersuchung (durch Dr. K) eingeleitet habe. Das Schreiben vom 24. April 1953, mit dem der Auftrag zur ärztlichen Untersuchung gegeben worden sei, stelle keineswegs ein Anerkenntnis dar. Alle in dem Verfahren gehörten Ärzte hätten einmütig zum Ausdruck gebracht, daß die Invalidität des Klägers mindestens seit Mai 1952 vorliege. Die Feststellung des LSG., der Kläger sei im Jahre 1952 noch nicht invalide gewesen, sei ein Fehlschluß und beruhe auf einer unrichtigen Wiedergabe der Stellungnahme des Dr. B vom 19. März 1954. Wenn das Berufungsgericht dem späteren Zeugnis des Hausarztes Dr. K das allen anderen Gutachten widerspreche, eine besondere Bedeutung habe beimessen wollen, so hätte es zur vollen Klärung des streitigen Sachverhalts ein Obergutachten einholen müssen. Ob der Kläger trotz der ihm verbliebenen Erwerbsfähigkeit von weniger als 33 1/3 v. H. noch als Jagdaufseher tätig geblieben sei, sei unerheblich.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, die Beklagte für verpflichtet zu erklären, unter Aufhebung des den Rentenanspruch des Klägers ablehnenden Bescheids vom 4. August 1953 dem Kläger einen anfechtungsfähigen Rentenbescheid zu erteilen, durch den dem Kläger eine Rente in gesetzlicher Höhe ab 1. Juni 1953 zuerkannt wird, sowie dem Kläger die hiernach zustehende Rente ohne Rücksicht darauf zu zahlen, ob die durch den Bescheid zuerkannte Rente wegen ihrer Höhe angefochten werden wird.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt weiter folgendes aus: Das Vorbringen der Beklagten sei zum Teil neu und könne schon deshalb in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden; die von der Beklagten erhobenen Verfahrensrügen seien nicht begründet. Die Erklärungen des Versicherungsamts hätten dem Kläger eine günstige Rechtsposition verschafft. Ferner stelle die Aufrechnung der Quittungskarte Nr. 9 durch die Gemeindeverwaltung Eitorf als Außenstelle der Beklagten einen den Kläger begünstigenden Verwaltungsakt dar, der nur dann keine Wirkung entfalten könnte, wenn der Kläger ihn arglistig erschlichen hätte. Die Stellungnahme der Beklagten zu dem Gutachten des Dr. B sei widersprüchlich. Die Beklagte trage jetzt vor, daß sie sich das Gutachten des Dr. B nicht zu eigen mache, während sie sich in ihrem Bescheid gerade auf dieses Gutachten bezogen habe; deshalb seien die Feststellungen des Dr. B mit zum Inhalt des den Kläger begünstigenden Verwaltungsaktes geworden. Das LSG. habe zutreffend festgestellt, daß es bei Personen im Alter des Klägers nur möglich sei, bestimmte Feststellungen für den jeweiligen Zeitpunkt der Untersuchung zu treffen, nicht jedoch von einem kontinuierlichen Abbau auszugehen. Dies stehe auch der Einholung des von der Beklagten für erforderlich gehaltenen Obergutachtens entgegen.
II.
Die Revision der Beklagten ist rechtzeitig eingelegt und innerhalb der gemäß § 164 Abs. 1 SGG verlängerten Frist begründet worden. Da das LSG. die Revision nicht zugelassen hat, ist sie in dem vorliegenden Rechtsstreit, der die Gewährung der Invalidenrente zum Gegenstand hat, nur statthaft, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Revisionsrügen der Beklagten richten sich in erster Linie gegen die vom Berufungsgericht getroffene Feststellung, die Beklagte müsse von dem Gutachten des Dr. B vom 6. Mai 1952 vor seiner Weiterleitung an die Gemeindeverwaltung Eitorf Kenntnis gehabt haben und die Bekanntgabe dieses Gutachtens an den Kläger durch die Gemeindeverwaltung im Mai 1952 müsse auf ihrer Anordnung beruhen, sowie gegen die weitere Feststellung, die Invalidität des Klägers sei nicht vor dem 3. Januar 1953 eingetreten. Diese Feststellungen hat die Beklagte mit Recht angegriffen.
1. Die erste, von der Beklagten beanstandete Feststellung will das Berufungsgericht "aus dem Inhalt der Akten" folgern, aus denen sich ergebe, daß Dr. B sein Gutachten am 6. Mai 1952 unmittelbar an die Beklagte übersandt habe und daß es am 12. Mai 1952 vom Versicherungsamt Siegburg an die Gemeindeverwaltung in Eitorf weitergeleitet worden sei. Die Verwaltungsakten ergeben zwar, daß Dr. B der das Gutachten vom 6. Mai 1952 auf Grund eines an die Kreisverwaltung in Siegburg gerichteten Ersuchens der Gemeindeverwaltung Eitorf vom 22. April 1952 erstattet hat, das Ersuchen der Gemeindeverwaltung vom 22. April 1952 auf der Rückseite mit dem Anschreiben "Urschr. der Landesversicherungsanstalt in Düsseldorf unter Beifügung des Gutachtens weitergesandt" versehen hat. Hieraus kann aber nicht geschlossen werden, daß das Ersuchen der Gemeindeverwaltung Eitorf vom 22. April 1952 und das ihm beigefügte Gutachten auch tatsächlich an die beklagte LVA. weitergesandt worden sind. Gegen diese Annahme spricht einmal, daß das Schreiben vom 22. April 1952 weder auf der Vorder- noch auf der Rückseite einen Eingangsstempel der Beklagten trägt, ferner aber auch der Umstand, daß sich unmittelbar unter dem von Dr. B unterschriebenen Weiterleitungsvermerk die Verfügung des Vorsitzenden des Versicherungsamts für den Siegkreis vom 12. Mai 1952 befindet, nach welcher das Schreiben vom 22. April 1952 nebst einer Anlage der Gemeindeverwaltung in Eitorf zurückgesandt worden ist. Weiter enthalten die Verwaltungsakten den Durchschlag eines an die Gemeindeverwaltung Eitorf gerichteten Schreibens der Beklagten vom 17. März 1953, in dem unter Hinweis auf eine Mitteilung des Dr. B daß er den Kläger am 6. Mai 1952 auf Veranlassung der Gemeindeverwaltung vertrauensärztlich untersucht habe - die Mitteilung des Dr. B mit dem Datum 11.3.1953 befindet sich Bl. 8 R der Verw. Akten -, zum Ausdruck gebracht wird, daß das Gutachten bisher bei der Beklagten nicht habe ermittelt werden können, und in dem gleichzeitig um Übersendung des Gutachtens gebeten wird, falls es der Gemeinde noch vorliege. Schließlich enthalten die Verwaltungsakten das Antwortschreiben der Gemeindeverwaltung Eitorf vom 13. April 1953 - mit Eingangsstempel der Beklagten vom 16. April 1953 -, nach welchem der Beklagten unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 27. März 1953 als Anlage das ärztliche Gutachten vom 6. Mai 1952 sowie die am 26. September 1951 aufgerechnete Quittungskarte Nr. 9 übersandt wurden. Wenn das Berufungsgericht trotz dieser bei den Verwaltungsakten befindlichen Unterlagen zu der Feststellung gelangt ist, der Beklagten müsse das Gutachten vom 6. Mai 1952 vor seiner Bekanntgabe an den Kläger vorgelegen haben und die Bekanntgabe des Gutachtens an den Kläger müsse auf einer Anordnung der Beklagten beruhen, so entspricht diese Feststellung nicht dem Gesamtinhalt der Verwaltungsakten, die das LSG. aber als alleinige Grundlage für seine Überzeugung verwertet hat. Da das angefochtene Urteil jedes sachliche Eingehen auf den hier näher bezeichneten Schriftwechsel, der für die getroffene Feststellung von wesentlicher Bedeutung ist, vermissen läßt, der bloße Hinweis auf den Inhalt der Akten die Feststellung aber nicht trägt, hat das Berufungsgericht die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) nicht beachtet. Etwaige Zweifel an der ordnungsmäßigen Aktenführung der Beklagten hätte es im Rahmen der ihm nach § 103 SGG obliegenden Aufklärungspflicht durch weitere Ermittlungen, z. B. durch Einholung einer Auskunft des Versicherungsamts Siegburg oder Anhörung des Sachbearbeiters der Beklagten bzw. der Gemeindeverwaltung Eitorf klären müssen.
2. Auch die Feststellung des Vordergerichts, der Kläger sei im Jahre 1952 noch nicht invalide gewesen, verstößt gegen das Verfahrensrecht. Zwar ist das Gericht bei der Urteilsfindung an die ärztlichen Gutachten nicht gebunden; es ist vielmehr im Rahmen seines auf sachliche Gründe gestützten Ermessens in der Beweiswürdigung frei. Auf der anderen Seite darf aber die besondere Bedeutung der ärztlichen Gutachten nicht verkannt werden. Da dem Gericht Fachkenntnisse auf dem medizinischen Gebiet meist fehlen, wird es ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe über die Beurteilung medizinischer Fragen durch ärztliche Sachverständige nicht hinweggehen, insbesondere nicht seine eigene Auffassung an deren Stelle setzen dürfen (vgl. Urteil des BSG. vom 25.8.1955 in SozR. SGG § 128 Bl. Da 1 Nr. 2). Im vorliegenden Fall hatte Dr. K nach eingehender Untersuchung des damals fast 75-jährigen Klägers unter Berücksichtigung von Röntgenbefunden des Herzens und der Brust- und Lendenwirbelsäule sowie der Auswertung des Elektrokardiogramms im Juni 1953 eine vorgeschrittene Aortensklerose, eine Verbreiterung des Herzens, deutliche Zeichen einer Herzmuskelschädigung, eine deutliche Cerebralsklerose sowie arteriosklerotische Veränderungen und Altersverschleißerscheinungen am Bewegungsapparat festgestellt und hierbei ausgeführt, daß diese bereits weit fortgeschrittenen Leiden zu ihrer Entwicklung erfahrungsgemäß eine Reihe von Jahren gebrauchten. Auf Grund dieses Befundes bejaht das Berufungsgericht den Eintritt der Invalidität des Klägers vom Zeitpunkte der Begutachtung ab, setzt sich aber nicht mit der auf ärztliche Erfahrungen gestützten Auffassung über die Entwicklung der Leiden auseinander; vielmehr legt es, um die Erwerbsfähigkeit des Klägers im Jahre 1952 zu beurteilen, der Äußerung des Dr. B in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19. März 1954 entscheidendes Gewicht bei, ohne den vollen Inhalt dieser Stellungnahme zu würdigen. Die Stellungnahme von Dr. B läßt aber die daraus vom Vordergericht hergeleitete Annahme, der Kläger sei im Mai 1952 noch nicht invalide gewesen, nicht zu. Dr. B führt in seiner gutachtlichen Äußerung vom 19. März 1954 nämlich abschließend aus: "Ich bin der Auffassung, daß das Gutachten von Herrn Dr. K in Verbindung mit der ärztlichen Bescheinigung von Herrn Dr. K vom 16. Juni 1953 richtig ist, d. h. daß auch schon im Mai 1952 Invalidität mit aller Wahrscheinlichkeit vorgelegen hat". Die Beurteilung des Vordergerichts steht hiernach mit der Stellungnahme des Dr. B. insofern unmittelbar in Widerspruch, als das Vordergericht aus dieser Stellungnahme gefolgert hat, daß der Kläger im Mai 1952 noch nicht invalide gewesen sei; denn Dr. B hatte sich, nachdem er von dem Untersuchungsbefund des Dr. K und dem Zeugnis des behandelnden Arztes Dr. K vom 16. Juni 1953 Kenntnis erhalten hatte, in seiner gutachtlichen Stellungnahme vom 19. März 1954 in Wirklichkeit eindeutig dahin geäußert, der Kläger sei im Mai 1952 invalide gewesen. Wohl hat Dr. B von der vorstehend angeführten abschließenden Beurteilung abgesehen, auch ausgeführt: "Bei Würdigung der Gesamtunterlagen vertrete ich heute die Auffassung, daß Herr S bei meiner Untersuchung am 6. Mai 1952 Wesentliches nicht angegeben hat und daß sich das Gutachten von Herrn Dr. K auf objektive Befunde stützt, die seinerzeit nicht vorlagen". Das Vordergericht hat dabei aber den Zusammenhang außer Betracht gelassen, in dem die Ausführungen des Gutachters Dr. B standen. Da dieser Sachverständige in seiner zweiten gutachtlichen Äußerung ausdrücklich erklärt hat, die Invalidität des Klägers habe mit aller Wahrscheinlichkeit auch schon im Mai 1952 vorgelegen, kann seine vom LSG. verwertete Bemerkung nur so verstanden werden, daß auch die seiner Annahme entsprechenden Befunde objektiv schon im Mai 1952 vorgelegen haben müssen, daß er sie aber nicht vollständig erkannt habe. Wenn das Vordergericht trotzdem die Stellungnahme des Dr. B dahin gewürdigt hat, daß die von Dr. K erhobenen Befunde auch nach Ansicht des Dr. B im Mai 1952 noch nicht vorgelegen hätten, so ist dies weder mit dem Wortlaut noch mit dem Sinn der Stellungnahme vom 19. März 1954 vereinbar. Die Rüge der Beklagten, daß das Vordergericht die Grundsätze der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 SGG) verletzt habe, greift hiernach durch. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Dieses wird zur Klärung der medizinischen Zweifelsfragen gegebenenfalls Dr. B und den Hausarzt des Klägers als sachverständigen Zeugen hören, unter Umständen aber auch noch Art und Umfang der vom Kläger im Jahre 1952 ausgeübten Tätigkeit als Jagdaufseher aufklären müssen. Sollten die weiteren Ermittlungen ergeben, daß der Kläger jedenfalls zu Beginn des Jahres 1953 noch nicht invalide gewesen ist, so wird sich eine Prüfung der Frage, ob die Beklagte im Jahre 1952 die Versicherungsberechtigung des Klägers anerkannt hat, erübrigen. Zur Klärung der Frage, ob der Kläger die Wartezeit erfüllt hat, wird das Berufungsgericht auch zu prüfen haben, wann die in der Quittungskarte Nr. 9 ausgewiesenen Beiträge zur freiwilligen Weiterversicherung entrichtet worden sind. § 18 des Gesetzes über weitere Maßnahmen in der Reichsversicherung vom 15. Januar 1941 (RGBl. I S. 34), wonach die Fristen des § 1442 Absätze 1 und 2 RVO, innerhalb deren Beiträge noch wirksam entrichtet werden können, frühestens mit dem auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahr ablaufen, ist für die Länder der früheren britischen Besatzungszone durch die Sozialversicherungsanordnung Nr. 23 vom 29. September 1947 betr. Nachentrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung (Arbeitsblatt für die brit. Zone 1947 S. 345) weitgehend außer Kraft gesetzt worden. Das Vordergericht wird schließlich zu prüfen haben, ob die von der Beklagten im Revisionsverfahren gegen die Art der Beitragsentrichtung erhobenen Beanstandungen begründet sind.
Die Entscheidung über die Kosten der Revisionsinstanz bleibt dem Endurteil vorbehalten.
Fundstellen