Orientierungssatz
Kostenzuschuß zur Zahnbehandlung aus der Angestelltenversicherung nach § 13 AVG - Ermessen des Rentenversicherungsträgers:
Im Rahmen von §§ 13 ff AVG (= §§ 1236 ff RVO) kann ein Anspruchsberechtigter nicht die Erstattung des gesamten Eigenanteils der entstandenen Kosten für die Zahnersatzbehandlung verlangen. § 14 AVG (= § 1237 RVO) legt nämlich nur den Umfang fest, innerhalb dessen der Versicherungsträger medizinische Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten treffen kann. Diesen Rahmen braucht der Versicherungsträger im Einzelfall nicht vollständig auszuschöpfen; er muß nur unter Beachtung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel bei den voraussichtlich zu gewährenden Maßnahmen eine Gleichbehandlung gewährleisten. Dem steht nicht entgegen, nach der Eigenart der jeweils vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse möglicherweise unterschiedliche Zuschüsse zu gewähren.
Normenkette
AVG § 13 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1236 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 84 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1305 Fassung: 1957-02-23; AVG § 14 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1237 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 16.11.1965) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. November 1965 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe die Beklagte die Kosten des Klägers für Zahnersatz zu übernehmen hat.
Dem Kläger, der Berufsmusiker (Tubabläser) ist, wurden für eine im Dezember 1962 abgeschlossene Zahnbehandlung - festsitzender Zahnersatz für den Oberkiefer (neungliedrige Brücke) - Kosten in Höhe von insgesamt 770,- DM in Rechnung gestellt. Davon übernahmen seine Krankenkasse (Barmer Ersatzkasse) den Betrag von 180,- DM, die Beklagte einen im Rahmen des § 13 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) vorher zugesagten Zuschuß in Höhe von 400,- DM (Bescheid vom 10. Januar 1963). Der gegen diesen Bescheid eingelegte Widerspruch des Klägers, der den gesamten Differenzbetrag, also 590,- DM (770,- minus 180,- DM) ersetzt haben will, weil es sich um Kosten zur Wiederherstellung seiner Berufsfähigkeit handele, wurde mit Bescheid vom 31. Mai 1963 zurückgewiesen. Mit seiner Klage hatte er Erfolg. Das Sozialgericht (SG) sah einen Ermessensfehler der Beklagten darin, daß sie den individuell beruflichen Verhältnissen des Klägers nicht Rechnung getragen und ihn deshalb zu Unrecht lediglich nach den Mindestgebührensätzen der amtlichen Gebührenordnung (Preugo) Teil III b mit einem pauschalen Aufschlag von 50 % für jeden überkronten Zahn entschädigt habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hob auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Es hielt den angefochtenen Bescheid nicht für rechtswidrig. Die Beschaffung des Zahnersatzes sei eine Maßnahme zur Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Berufsfähigkeit des Klägers im Sinne der §§ 12, 13 AVG. Das ihr nach § 13 AVG eingeräumte Ermessen habe die Beklagte weder überschritten noch mißbraucht. Sie habe Rahmengrundsätze erlassen, in denen sie festgelegt habe, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang Heilmaßnahmen durchgeführt werden sollen. Soweit diese Maßnahmen nicht in eigenen geeigneten Einrichtungen durchgeführt werden könnten, sei danach - anders als bei Maßnahmen in eigenen Rehabilitationseinrichtungen - nicht die volle Kostentragung, sondern nur die Gewährung von Kostenzuschüssen vorgesehen. Diese Differenzierung sei sachgerecht. Es sei nicht zu beanstanden, wenn die Beklagte zu Rehabilitationsmaßnahmen, auf deren Kosten sie keinen Einfluß habe, nur Zuschüsse bis zu einem gewissen Höchstbetrag gewähre. Dabei habe sie der besonderen Situation der Versicherten, die auf einen festsitzenden Zahnersatz im Hinblick auf ihren Beruf angewiesen sind, dadurch Rechnung getragen, daß sie diesen Versicherten nicht nur die niedrigeren Beihilfen nach § 84 AVG gewähre, sondern Zuschüsse, die ein Mehrfaches der als Beihilfe vorgesehenen Beträge ausmachten. Der Auffassung des Klägers, in solchen Fällen könne die Beklagte ihr Ermessen nur dahin ausüben, daß sie die gesamten durch die Rehabilitationsmaßnahmen entstehenden Kosten übernehme, sei nicht zu folgen. Im übrigen sei die Berechnung des Zuschusses nach den z.Zt. der Bescheiderteilung maßgeblichen Richtlinien der Beklagten unstreitig in richtiger Höhe erfolgt (Urteil vom 16. November 1965).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt, die vom LSG zugelassen worden war. Während des Revisionsverfahrens hat sich die Beklagte durch Bescheid vom 16. November 1967 mit Rücksicht auf das Urteil des Senats vom 27. Juni 1967 in der gleichgelagerten Streitsache 1 RA 381/65 bereit erklärt, nunmehr im Rahmen des § 13 AVG Kosten in Höhe von 450,- DM zu übernehmen. Sie berechnet jetzt diesen Kostenersatz wie folgt:
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für eine neungliedrige Brücke (für jedes Brückenglied 60,- DM) |
540,- DM |
abzüglich des in dem Zuschuß der Barmer Ersatzkasse enthaltenen Anteils der BfA von |
90,- DM |
verbleiben |
450,- DM |
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Er rügt die Verletzung des § 13 Abs. 1 AVG. Das LSG habe zu Unrecht keinen Ermessensfehler der Beklagten festgestellt. Diese sei zu einer individuellen Prüfung verpflichtet gewesen; sie handele ermessensfehlerhaft, wenn sie in seinem Falle keinen höheren Zuschuß zum Zahnersatz gewähre, als die Richtlinien allgemein vorsehen. Um dem ihr in den §§ 1, 12 und 13, 14 AVG erteilten Gesetzesauftrag gerecht zu werden, habe die Beklagte bei einem Bläser, dem ein fehlerhaftes Gebiß die Berufsausübung unmöglich mache, die vollen Restkosten für Zahnersatz zu erstatten; jede andere Entscheidung sei ermessensfehlerhaft. Wenn auch die Beklagte nunmehr durch ihren Bescheid vom 16. November 1967 das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung eines Zuschusses nach § 13 AVG anerkannt habe, so seien doch aus der im Rahmen dieser Bestimmung umfassend zu berücksichtigenden beruflichen Stellung des Klägers nicht die entsprechenden Folgerungen hinsichtlich der Höhe des Zuschusses gezogen worden. Der Hinweis der Beklagten, daß zum Zeitpunkt der Eingliederung der Prothese des Klägers nach § 13 AVG allgemein Zuschüsse bis zum 1 1/2-fachen Satz der damals geltenden amtlichen Gebührenordnung (Preugo Teil III) gewährt worden seien, ersetze nicht die hier notwendige individuelle Prüfung.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zulässig und im Ergebnis auch im wesentlichen begründet.
Die Beteiligten sind darüber einig, daß es sich bei den dem Kläger gewährten Zuschüssen zu den Kosten seiner Zahnersatzbehandlung um eine Maßnahme im Rahmen des § 13 AVG handelt. Der erkennende Senat hat sich bereits in dem erwähnten Urteil vom 27. Juni 1967 (BSG 27, 34) - auf das verwiesen wird - eingehend zu den im Rahmen des § 13 AVG zu gewährenden Regelleistungen geäußert und den davon zu unterscheidenden Leistungen nach § 84 AVG. Die Heilbehandlung im Rahmen der §§ 13, 14 AVG ist eine Kann-Leistung, auf die der Versicherte keinen Rechtsanspruch hat (vgl. BSG aaO).
Bei dem völligen oder teilweisen Versagen einer Kann-Leistung hat das Gericht im Streitfall zu prüfen, ob der Versicherungsträger die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (§ 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Eine derartige Nachprüfung ist dem Revisionsgericht im vorliegenden Falle aber nicht möglich, weil weder die Feststellungen des LSG noch die zugrunde liegenden Bescheide der Beklagten erkennen lassen, von welchem Sachverhalt sie bei den dem Kläger im Rahmen des § 13 AVG gewährten Maßnahmen ausgegangen ist und welche Erwägungen bei der Bemessung des zugebilligten Zuschusses maßgebend waren. Die angefochtenen Bescheide geben insoweit nur an, daß die Zuschüsse zum Zahnersatz nach bestimmten Richtsätzen bemessen worden seien. Auch im Verlaufe des Klage- und des Berufungsverfahrens hat die Beklagte lediglich auf ihre Rahmengrundsätze und ihre Verwaltungsübung hingewiesen; sie hat jedoch nicht dargelegt, welche einzelnen Maßnahmen im Hinblick auf die beruflichen Erfordernisse des Klägers (Bläser) als notwendig und zweckentsprechend angesehen werden und wie sich der Zuschußbetrag im einzelnen errechnet.
Das LSG kommt zwar zu dem Ergebnis, daß dem Kläger ein Zuschuß in Höhe von 400,- DM für die vorgenommene Zahnersatzbehandlung (Einbau einer festsitzenden neungliedrigen Brücke) zustehe und dieser Betrag richtig berechnet worden sei. Ebenso wie die vorausgegangenen Bescheide der Beklagten enthält aber auch das LSG-Urteil keine Ausführungen darüber, wie sich dieser Zuschuß-Betrag im einzelnen zusammensetzt und woraus die Beklagte die Befugnis herleitet, auf ihren Zuschuß die Hälfte der von der Barmer Ersatzkasse (BEK) geleisteten Erstattungssumme anzurechnen. Über die Errechnung des Zuschusses macht die Beklagte erstmals in dem während des Revisionsverfahrens ergangenen Bescheid vom 16. November 1967 nähere Angaben. Dieser die früheren Bescheide ändernde Bescheid ist jedoch nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden, weil die in § 171 Abs. 2 SGG genannten Ausnahmen nicht zutreffen.
Unter diesen Umständen kann das Revisionsgericht nicht beurteilen, ob die Beklagte bei der Bemessung des gewährten Zuschusses den Fall des Klägers individuell, d. h. unter Berücksichtigung seiner besonderen beruflichen Situation, geprüft und ihr Ermessen danach ausgerichtet hat. Sie mag sich zwar an eine ständige Verwaltungsübung gehalten haben - die ihren schriftlichen Niederschlag in den späteren Richtlinien gefunden hat; sie war aber dadurch nicht der Verpflichtung enthoben, in jedem Einzelfall sämtliche Umstände zu prüfen, die für die Ermessensbildung bedeutsam sein können, und diese näher darzulegen. Ihr Bescheid muß erkennen lassen, welche einzelnen Maßnahmen sie im konkreten Fall im Hinblick auf den Beruf des Versicherten und seinen Gesundheitszustand als erforderlich anerkennt, in welchem Umfang sie die hierfür entstehenden Kosten übernehmen will, warum sie die Übernahme begrenzt und welche eigenen oder fremden anderen Leistungen sie darauf anrechnet. Ohne diese Angaben können weder der Versicherte noch die Sozialgerichte prüfen, ob der Versicherungsträger von dem ihm eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat.
Das LSG verkennt die Bedeutung des § 13 AVG, wenn es meint, die Beklagte habe ihr Ermessen schon deswegen rechtsfehlerfrei ausgeübt, weil sie über Art und Umfang der einzelnen Leistungen Rahmengrundsätze erlassen und diese richtig angewandt habe. Es kommt entgegen der Meinung des LSG - und der Beklagten - nicht darauf an, daß und in welcher Weise zwischen Leistungen nach § 84 AVG und solchen nach § 13 AVG differenziert wird und daß dabei nach § 13 AVG höhere Leistungen gewährt werden; denn die in § 13 gewährten Regelleistungen sind rechtlich und tatsächlich etwas anderes als die zusätzlichen Leistungen nach § 84 AVG. Es ist daher unwichtig, daß und inwieweit die Maßnahmen nach § 13 ff AVG gegenüber Leistungen nach § 84 ein "Mehr" oder "Weniger" ausmachen. Maßgebend ist vielmehr, daß innerhalb der nach § 13 ff AVG zu gewährenden Maßnahmen sachgerecht differenziert wird.
Wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 27, 34), hat das LSG allerdings zu Recht angenommen, daß der Kläger nicht die Erstattung des gesamten Eigenanteils der entstandenen Kosten für die Zahnersatzbehandlung verlangen kann. Entgegen der Meinung des Klägers legt nämlich § 14 AVG nur den Umfang fest, innerhalb dessen der Versicherungsträger medizinische Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit eines Versicherten treffen kann. Diesen Rahmen braucht der Versicherungsträger im Einzelfall nicht vollständig auszuschöpfen; er muß nur unter Beachtung der ihm zur Verfügung stehenden Mittel bei den voraussichtlich zu gewährenden Maßnahmen eine Gleichbehandlung gewährleisten. Dem steht nicht entgegen, nach der Eigenart der jeweils vorliegenden tatsächlichen Verhältnisse möglicherweise unterschiedliche Zuschüsse zu gewähren (BSG 9, 232, 236, 237).
Da dem Revisionsgericht unter diesen Umständen eine abschließende Beurteilung der Frage, ob die Beklagte ermessensfehlerfrei gehandelt hat, nicht möglich ist, bleibt nur übrig, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG). Auf diese Weise wird dem Berufungsgericht zugleich die Möglichkeit gegeben, als Tatsacheninstanz nunmehr auch über den neuen Bescheid der Beklagten vom 16. November 1967 zu befinden. Dabei wird es auch zu klären haben, weshalb die Beklagte nunmehr für eine neungliedrige Brücke einen Zuschuß von 450,- DM errechnet, während doch nach der Ansicht des LSG für eine solche Leistung nur ein Betrag von 400,- DM zusteht.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen