Leitsatz (redaktionell)
1. Ein Bescheid ist auch dann tatsächlich unrichtig, wenn das VersorgA sich bei der Bescheiderteilung offensichtlich auf das Zeugnis des versorgungsärztlichen Dienstes gestützt hat, in dem festgestellt wurde, der Kläger sei nach seinen Angaben von 1935-1940 "Kradschütze bei der Wehrmacht" gewesen, obwohl aus dem Versorgungsantrag und den bei den Versorgungsakten befindlichen Karteikarten ersichtlich war, daß der Kläger zur SS-Verfügungstruppe gehörte.
2. Der Dienst in der SS-Verfügungstruppe im Jahre 1938 ist weder militärischer noch militärähnlicher Dienst iS des BVG gewesen.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20; KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 10. Mai 1957 geändert. Die Anschlußberufung des Klägers wird zurückgewiesen, soweit der Bescheid vom 2. Mai 1957 Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz betrifft.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger war von 1935 bis 1940 bei einem Verband der SS, zog sich 1938 eine Lungentuberkulose zu und wurde 1940 nach wiederholter Behandlung in Heilstätten entlassen. Nach früheren versorgungsrechtlichen Vorschriften war das Lungenleiden als Versorgungsleiden mit der Versehrtenstufe III anerkannt. 1950 beantragte der Kläger wegen dieses Leidens und zusätzlich wegen eines Herzleidens Versorgung nach dem Berliner Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer (KVG) und nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Durch vorläufige Bescheide vom 1. August und 10. Dezember 1951 stellte das Versorgungsamt (VersorgA.) III B aktive geschlossene doppelseitige Oberlappentuberkulose als Schädigungsfolge fest und bewilligte Rente nach einer vorläufig auf 50 v.H. festgesetzten Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.). Durch Bescheid über die Feststellung von Beschädigtenbezügen (Erstanerkennung) vom 25. Februar 1953 erkannte das VersorgA. unter Aufhebung der vorläufigen Bescheide Lungentuberkulose als Schädigungsfolge im Sinne des § 1 KVG und des § 1 BVG an und bewilligte vom 1. Juli 1950 an Rente - bis zum 31. März 1953 nach einer MdE. um 50 v.H., vom 1. April 1953 an nach einer MdE. um 30 v.H. -. Herz- und Kreislaufbeschwerden wurden nicht anerkannt, da sie sich versorgungsärztlich nicht hatten nachweisen lassen. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen. Durch Urteil vom 10. Oktober 1955 verurteilte das Sozialgericht (SG.) den Beklagten, linsengroße Bronchiektasien sowie vegetative nervöse Störungen nach Gehirnerschütterung als Schädigungsfolgen anzuerkennen und dem Kläger vom 1. Juli 1950 an Rente nach einer MdE. um 50 v.H. zu gewähren. Der Beklagte legte Berufung ein. Gestützt auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) hob das VersorgA. durch Bescheid vom 2. Mai 1957 den Bescheid vom 25. Februar 1953 auf und lehnte den Versorgungsanspruch des Klägers ab. Es stellte fest, nachträglich habe sich ergeben, das Lungenleiden sei bereits 1938 aufgetreten, der Dienst in den Verbänden der SS vor Kriegsausbruch sei aber nicht militärischer oder militärähnlicher Dienst (§ 1, §§ 2 bis 4 BVG) gewesen. Der Bescheid, auf Grund dessen 1938 nach § 1 des Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetzes (WFVG) Versorgung für das Lungenleiden bewilligt worden sei, sei insoweit nach § 85 BVG nicht rechtsverbindlich; der schädigende Vorgang durch den Dienst in der Waffen-SS liege vor Kriegsausbruch. Für die noch vorhandenen Schädigungsfolgen betrage die MdE. weniger als 25 v.H., für sie komme daher eine Rente nicht in Betracht.
Durch Urteil vom 10. Mai 1957 hob das Landessozialgericht (LSG.) auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG. auf und wies die Klage ab, auf die Anschlußberufung des Klägers hob es den Bescheid des VersorgA. vom 2. Mai 1957 auf: Die vegetative Dysregulation sei nicht die Folge von Unfällen, die der Kläger 1936 und im Winter 1937/38 im Dienst der SS-Verfügungstruppe erlitten habe, die Bronchiektasien seien Begleiterscheinungen des Lungenleidens und von dessen Anerkennung bereits umfaßt. Durch das Lungenleiden sei die MdE. nicht mehr als um 30 v.H. gemindert, zu Unrecht habe das SG. bei der Höherbewertung der MdE. als besondere seelische Begleiterscheinung berücksichtigt, daß die mit dem Lungenleiden verbundene Ansteckungsgefahr die Aufnahme von Arbeit für den Kläger erschwert habe; die Lungentuberkulose sei nicht offen gewesen, eine Ansteckungsgefahr habe daher nicht bestanden. Die Klage sei sonach nicht begründet. Aber auch für den Bescheid vom 2. Mai 1957 seien die Voraussetzungen nicht erfüllt. Der aufgehobene Bescheid vom 23. Februar 1953 sei zu der Zeit, als er erlassen wurde, tatsächlich und rechtlich nicht zweifellos unrichtig gewesen. Der Kläger habe schon 1950 im Versorgungsantrag angegeben, das Lungenleiden habe er sich während des Dienstes in der Waffen-SS von 1935 bis 1940 zugezogen. Bei der Beurteilung der rechtlichen Unrichtigkeit dürfe ein Wandel in der Rechtsprechung nicht berücksichtigt werden (Verwaltungsvorschriften - VV - Nr. 4 zu § 41 VerwVG). Dem BVG sei nicht ohne weiteres zu entnehmen gewesen, daß der Dienst in der SS-Verfügungstruppe oder in der Waffen-SS vor dem 1. September 1939 nicht als militärischer Dienst anzusehen sei. Dies habe erst das Bundessozialgericht (BSG.) geklärt. Das LSG. ließ die Revision zu.
Der Beklagte beantragte mit der Revision, das Urteil des LSG. zu ändern und die Anschlußberufung des Klägers zurückweisen. Er begehrte die Nachprüfung des Rücknahmebescheides vom 2. Mai 1957 jedoch nur insoweit, als er die Leistungen nach dem BVG vom 1. Oktober 1950 an betraf. Der Beklagte begründete die Revision damit, daß schon 1953, zur Zeit der erstmaligen Feststellung der Versorgungsbezüge nach dem BVG, der Dienst in Verbänden der SS vor dem 1. September 1939 nicht als militärischer Dienst hätte angesehen werden können. Zwar gelte nach der "Begründung zum Entwurf des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges" als militärischer Dienst auch der Dienst in der Waffen-SS, diese sei aber aus den SS-Verfügungstruppen erst am 1. August 1939 gebildet worden.
Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und zulässig. Sie ist auch sachlich begründet.
Nach § 41 VerwVG kann die Versorgungsverwaltung Bescheide über Rechtsansprüche zuungunsten des Versorgungsberechtigten durch neuen Bescheid nur ändern oder aufheben, wenn ihre tatsächliche und rechtliche Unrichtigkeit im Zeitpunkt ihres Erlasses außer Zweifel steht. Der Bescheid muß im Zeitpunkt seines Erlasses sowohl tatsächlich als auch rechtlich zweifellos unrichtig gewesen sein (BSG. 8 S. 198). Außer Zweifel steht die Unrichtigkeit, wenn die Versorgungsverwaltung nach dem festgestellten Sachverhalt jede andere Möglichkeit als ausgeschlossen ansieht (Urteil des BSG. vom 15.11.1957, SozR. VerwVG § 41 Bl. Ca 1 Nr. 1).
Das VersorgA. hat durch Bescheid vom 25. Februar 1953 (Erstanerkennung) die Lungentuberkulose des Klägers als Folge von Schädigungen im Sinne des § 1 KVG und des § 1 BVG anerkannt und vom 1. Juli 1950 an Rente bewilligt. Zwar enthält dieser Bescheid nicht die für die Feststellung der Schädigungsfolge erheblichen Tatsachen; er stützt sich aber offensichtlich auf das Zeugnis des versorgungsärztlichen Dienstes vom 21. Januar 1953, in dem festgestellt wurde, der Kläger sei nach seinen Angaben von 1935 bis 1940 "Kradschütze bei der Wehrmacht" gewesen, leide seit 1938 an Tuberkulose und dieses Leiden sei als Wehrdienstbeschädigung anerkannt gewesen. Nach § 41 VerwVG hat das VersorgA. den Erstanerkennungsbescheid nur aufheben dürfen, wenn er im Zeitpunkt seines Erlasses tatsächlich und rechtlich zweifellos unrichtig gewesen ist. Das LSG. hat festgestellt, der Kläger habe bereits im Versorgungsantrag vom 25. August 1950 angegeben, daß er sich das Lungenleiden im Dienst der Waffen-SS von 1935 bis 1940 zugezogen habe; auch aus den bei den Versorgungsakten befindlichen Karteikarten des VersorgA. III B und des SS-VersorgA. B sei zu ersehen, daß der Kläger zur SS-Verfügungstruppe gehört und seit dem 1. Februar 1940 Versorgung wegen seines Lungenleidens bezogen habe; schließlich müsse das VersorgA. vor Erteilung seiner Bescheide offensichtlich die Akten geprüft haben, zumal es nicht nur über das Lungenleiden, sondern auch über das Herzleiden befunden habe. Wenn das LSG. aus diesen nicht angegriffenen und für das BSG. bindenden tatsächlichen Feststellungen (§ 163 SGG) keinen Anhalt dafür zu finden vermochte, daß das VersorgA. bei Erlaß des Bescheides vom 25. Februar 1953 von der falschen Voraussetzung ausgegangen sei, das Lungenleiden des Klägers sei erst nach Kriegsausbruch im Dienste der Waffen-SS entstanden, so hat es daraus doch nicht schließen dürfen, der Bescheid sei tatsächlich nicht unrichtig gewesen. Ausgangspunkt des VersorgA. war vielmehr das Versorgungszeugnis und die im Versorgungsantrag und dem Versorgungsarzt gegenüber vorgebrachte Angabe des Klägers, 1938 "Kradschütze bei der Wehrmacht" gewesen zu sein. Das LSG. hat aber auf Grund seiner Feststellungen nicht als widerlegt ansehen können, erst nachträglich habe sich ergeben, daß sich der Kläger 1938 zur Zeit der Erkrankung an Tuberkulose im Dienst der SS-Verfügungstruppe befunden habe. Dies gilt erst recht dann, wenn es selbst erwähnt hat, der Kläger sei 1938 an doppelseitiger Lungentuberkulose erkrankt, im Dienst der SS-Standarte "Der Führer" gewesen und wegen seines Leidens 1940 nach wiederholter Behandlung in Heilstätten entlassen worden. Steht fest, daß der Kläger 1938 lungenkrank geworden ist, damals aber in Verbänden der SS, nicht, wie er angab, bei der Wehrmacht Dienst geleistet hat, so ist der Bescheid vom 25. Februar 1953 tatsächlich zweifellos unrichtig gewesen.
Er ist auch rechtlich unrichtig gewesen. Das LSG. hat festgestellt, der Kläger habe Dienst in der SS-Verfügungstruppe geleistet. Dieser Dienst war 1938 weder militärischer noch militärähnlicher Dienst (BSG. 4 S. 276; Urteil des BSG. vom 25.6.1957, SozR. BVG § 2 Bl. Ca 2 Nr. 4). Nach § 1 Abs. 1 BVG erhält Versorgung, wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung, durch einen Unfall während des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Militärischer Dienst im Sinne dieser Vorschrift ist nach § 2 Abs. 1 Buchst. a BVG jeder nach deutschem Wehrrecht geleistete Dienst als Soldat oder Wehrmachtsbeamter. Zur Zeit seiner Erkrankung diente der Kläger bei der SS-Verfügungstruppe. Er hat jedenfalls zu dieser Zeit nicht Dienst als Soldat nach deutschem Wehrrecht geleistet, sondern war Angehöriger einer bewaffneten Gliederung der NSDAP, die den Gesetzen der SS unterworfen und für besondere Aufgaben bestimmt war. Der Dienst des Klägers gilt auch nicht als militärähnlicher Dienst (§ 1 Abs. 1 § 3 Abs. 1 BVG). Dazu rechnen - ungeachtet des § 6 BVG - nur die in § 3 Abs. 1 und § 4 BVG erschöpfend aufgezählten Dienstleistungen (Urteil des BSG. vom 25.6.1957, SozR. BVG. § 3 Bl. Ca 5/6 Nr. 9). Der Dienst in der SS erfüllte diese Voraussetzungen nicht.
Diese Beurteilung beruht nicht auf einem bloßen Wandel der rechtlichen Auffassung, die durch das BSG. herbeigeführt worden wäre. In der Aufzählung der Dienstleistungen, die militärischer Dienst im Sinne des § 1 Abs. 1 BVG sind, ist der Dienst in Verbänden der SS nicht enthalten (§ 2 BVG). Militärischer Dienst läge insoweit nur vor, wenn Angehörige der SS-Verfügungstruppen oder der Waffen-SS nach deutschem Wehrrecht Dienst als Soldaten geleistet hätten. Davon ist auch das BSG. ausgegangen. Die rechtliche Auffassung hat sich in dieser Hinsicht nicht gewandelt, das BSG. hat vielmehr nur darüber entschieden, ob der Dienst in der SS-Verfügungstruppe vor dem 1. September 1939 die Merkmale des militärischen Dienstes im Sinne des § 2 Abs. 1 Buchst. a BVG erfüllte.
Das VersorgA. ist an der Aufhebung des Bescheids vom 25. Februar 1953 auch nicht dadurch gehindert gewesen, daß dem Kläger bereits durch Bescheid nach dem WFVG Versorgung wegen seines Lungenleidens zuerkannt war. Zwar ist, soweit nach bisherigen versorgungsrechtlichen Vorschriften über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einem schädigenden Vorgang im Sinne des § 1 BVG entschieden worden ist, die Entscheidung auch nach dem BVG rechtsverbindlich (§ 85 Satz 1 BVG). Diese Rechtsverbindlichkeit erstreckt sich aber nicht auf die Frage, ob ein schädigender Vorgang im Sinne des § 1 BVG vorliegt (BSG. 4 S. 21; Urteile des BSG. vom 14.1.1958 und vom 29.4.1959, SozR. BVG § 85 Bl. Ca 6 Nr. 8 und 10).
Das LSG. hat sonach § 41 VerwVG nicht richtig angewandt. Sein Urteil über die Anschlußberufung des Klägers war daher, soweit der Bescheid vom 2. Mai 1957 Leistungen nach dem BVG betraf, aufzuheben; gleichzeitig war die Anschlußberufung des Klägers insoweit zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen