Leitsatz (amtlich)
1. Für eine Klage, deren Ziel eine - von einem konkreten Sachverhalt losgelöste (abstrakte) - Normenkontrolle ist, bietet das sozialgerichtliche Verfahren auch dann keinen Raum, wenn die Frage der Gültigkeit der Norm formal nur Vorfrage, die Feststellung der Nichtigkeit der Norm also nicht ausdrücklich in den Klageantrag aufgenommen ist.
2. Zur Gewährung von vorbeugendem Rechtsschutz.
Normenkette
SGG §§ 54, 55 Abs. 1 Nr. 1
Tenor
Die Revision der Kläger gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Juli 1966 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Kläger sind in K und Umgebung als Fachärzte für Röntgenologie und Strahlenheilkunde niedergelassen. Sie sind zur Kassenpraxis zugelassen und Mitglieder der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV). Diese traf mit der beigeladenen Krankenkasse am 20. Dezember 1962 eine Vereinbarung, in der die Ausführung, Abrechnung und Vergütung von ärztlichen Sachleistungen rückwirkend vom 1. Januar 1962 neu geregelt wurde. Die Sachleistungen sollten danach wie bisher als Einzelleistungen, jedoch nach höheren Sätzen vergütet werden. Zur Ausführung der Leistungen bestimmte § 5:
§ 5
Der Kassenarzt darf ärztliche Sachleistungen, abgesehen von Notfällen, nur dann bewirken, wenn die Verordnung vorher durch die AOK Köln genehmigt worden ist. Die Genehmigung ist nicht erforderlich, wenn der behandelnde Arzt die Sachleistungen in eigener Praxis erbringt. Das Genehmigungsrecht beinhaltet kein Weisungsrecht.
Die Benutzung einer von der beigeladenen Krankenkasse unterhaltenen Eigeneinrichtung regelten die Vertragspartner in § 10 und § 11 wie folgt:
§ 10
Zwischen den Beteiligten besteht weiterhin Übereinstimmung, daß die Inanspruchnahme des Eigeninstituts durch Kassenpatienten im Umfang des Jahres 1958 zu erhalten ist (§ 2 Abs. 4 BMV-Ä). Dabei gehen sie davon aus, daß im Jahre 1958 rd. 30.000 Kassenpatienten Sachleistungen im Institut der Kasse erhalten haben.
§ 11
Wird die Patientenzahl des Jahres 1958 um mehr als 30 % unterschritten, so ist die AOK K bis zur Erreichung von 70 % des in § 10 genannten Leistungsumfangs berechtigt, den Versicherten die Inanspruchnahme des Eigeninstituts zu empfehlen. Dies soll jedoch dann nicht geschehen, wenn der behandelnde Arzt die Sachleistungen in eigener Praxis erbringt.
Wird die Patientenzahl des Jahres 1958 um mehr als 30 % überschritten, so ist im Folgequartal von der AOK K eine entsprechend geringere Zahl von Sachleistungen zu erbringen.
Nach den §§ 8 und 9 der Vereinbarung durfte das Eigeninstitut der Beigeladenen wie ein zugelassener Kassenarzt auch von Mitgliedern anderer Versicherungsträger benutzt werden.
Die Kläger, die als Röntgenfachärzte in der Regel auf Überweisung tätig werden, fühlen sich durch die §§ 5, 10 und 11 der Vereinbarung gegenüber behandelnden Ärzten, die Sachleistungen in eigener Praxis erbringen, benachteiligt. Während jene Sachleistungen ohne Genehmigung der Beigeladenen ausführen dürften, unterlägen sie einem Genehmigungsvorbehalt, der im übrigen nur bezwecke, die Versicherten bei Einholung der Genehmigung auf das Eigeninstitut der Beklagten hinzuweisen. Auch die der Beklagten in § 11 zugestandene Befugnis, den Versicherten unter bestimmten Voraussetzungen die Benutzung ihrer Eigeneinrichtung zu empfehlen, gehe allein zu Lasten der Kläger.
Nachdem diese bei der Beklagten einen - anscheinend nie beschiedenen - Widerspruch gegen die §§ 5 und 8 bis 11 der Vereinbarung eingelegt hatten, erhoben sie im März 1963 Klage und beantragten in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht (SG) am 18. Dezember 1963, die genannten Bestimmungen für nichtig zu erklären. Das SG entsprach diesem Antrag durch Urteil vom gleichen Tage, soweit es sich um die §§ 5 und 11 der Vereinbarung handelte; im übrigen wies es die Klage ab. Das SG hielt die Verpflichtungen, die die genannten Bestimmungen den Klägern auferlegten, für einen der Feststellung fähiges Rechtsverhältnis. Die Klage sei auch teilweise begründet, weil die Beklagte die Interessen aller Kassenärzte gleichmäßig wahrzunehmen habe.
Die Berufungen der beklagten KÄV und der beigeladenen Krankenkasse hatten Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) - in der Besetzung mit zwei Ärzten als ehrenamtlichen Beisitzern - sah die Klage als unzulässig an, auch nachdem die Kläger mit der Anschlußberufung nur noch die Feststellung beantragt hatten, daß die Beklagte mit den §§ 5 und 11 der Vereinbarung ihre Rechte insoweit verletzt habe, als sie hinsichtlich der Befugnis, Sachleistungen ohne vorherige Genehmigung der Beigeladenen zu erbringen, schlechter gestellt würden als Ärzte, die Sachleistungen in eigener Praxis erbrächten, und als ferner ihnen allein "das Risiko der Bestandsgarantie des Eigeninstituts der Beigeladenen" auferlegt worden sei. Das LSG führte in seinem Urteil vom 5. Juli 1966 aus: Die von den Klägern beantragte Feststellung einer Pflichtwidrigkeit der Beklagten betreffe kein Rechtsverhältnis, sondern nur ein Element eines solchen und sei daher im sozialgerichtlichen Verfahren nicht zulässig. Den Klägern könne auch durch eine Umdeutung der Klage nicht geholfen werden.
Die Kläger haben mit der zugelassenen Revision die Aufhebung des Berufungsurteils beantragt und im übrigen ihren letzten, mit der Anschlußberufung geänderten Klagantrag wiederholt. Ziel ihrer Klage sei die Feststellung, daß ihr Mitgliedschaftsverhältnis zur Beklagten von den Bestimmungen in §§ 5 und 11 der fraglichen Vereinbarung unberührt geblieben sei. Wollte man sie mit ihrem "vorbeugenden Abwehrmittel" ausschließen, so würde das praktisch einer Rechtsverweigerung gleichkommen. Bisher sei allerdings für sie noch kein größerer Schaden entstanden, weil § 5 der Vereinbarung in Wirklichkeit nicht praktiziert werde und auch der in § 11 vorausgesetzte Fall einer zu geringen Inanspruchnahme des Eigeninstituts der Beigeladenen noch nicht eingetreten sei. Die Kläger haben beantragt:
"1. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Der erkennende Teil des Urteils des Sozialgerichts Düsseldorf vom 18. Dezember 1963 wird gem. Ziff. 2 neu gefaßt.
2. Es wird festgestellt, daß die Beklagte durch den Abschluß der §§ 5 und 11 des rückwirkend am 1. Januar 1962 in Kraft getretenen Vertrages mit der Beigeladenen die Rechte der Kläger insoweit verletzt hat,
a) als die Röntgenfachärzte dadurch hinsichtlich der Befugnis, Sachleistungen ohne vorherige Genehmigung der Beigeladenen zu erbringen, schlechter gestellt werden als diejenigen Ärzte, die Sachleistungen in eigener Praxis erbringen (§ 5) und
b) als das Risiko der Bestandsgarantie des Eigeninstituts der Beigeladenen allein den Röntgenfachärzten auferlegt worden ist (§ 11).
3. Die Beklagte und die Beigeladene haben je zur Hälfte den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten."
Die beklagte KÄV und die beigeladene Krankenkasse halten die Klage mit dem LSG für unzulässig und beantragen,
die Revision der Kläger zurückzuweisen.
II
Der Senat hat in der Besetzung mit einem Arzt und einem Vertreter der Krankenkassen als ehrenamtlichen Beisitzern entschieden. Nach der Fassung der Klageanträge, die mit der Anschlußberufung neu formuliert und im Revisionsverfahren wiederholt worden sind, scheint es zwar so, daß die Kläger sich nur gegen die Beklagte, nämlich gegen eine von ihr durch Abschluß der Vereinbarung vom 20. Dezember 1962 ihnen gegenüber vermeintlich begangene Pflichtverletzung wenden wollen. Wie jedoch noch auszuführen sein wird, richtet sich die Klage in Wahrheit gegen die Vereinbarung selbst und damit gegen einen Akt der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen. Zu dieser von der Ansicht des LSG abweichenden Auslegung des Klagebegehrens ist auch das Revisionsgericht befugt (vgl. SozR Nr. 44 zu § 55 SGG). Der Senat hat demgemäß nach §§ 12 Abs. 3 Satz 1, 33 Satz 2 und 40 Satz 1 SGG zur Entscheidung über die Revision der Kläger einen Bundessozialrichter aus den Kreisen der Krankenkassen hinzugezogen (er hat auch schon früher über eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Gesamtvertrages in paritätischer Besetzung entschieden, Urteil vom 14. Juli 1965, 6 RKa 27/61; vgl. ferner BSG 21, 237, 238 mit weiteren Nachweisen). Wenn bei der Entscheidung des LSG nur Ärzte als Beisitzer mitgewirkt haben, so kann dieser Verfahrensmangel vom Revisionsgericht nicht beachtet werden, da ihn keiner der Beteiligten gerügt hat (vgl. BSG 11, 1, 3).
Die Revision der Kläger ist unbegründet. Das LSG hat ihr Feststellungsbegehren im Ergebnis mit Recht für prozessual unzulässig gehalten.
Unter welchen Voraussetzungen im sozialgerichtlichen Verfahren Rechtsschutz begehrt werden kann, ist in den §§ 54 und 55 SGG geregelt. Danach muß entweder ein den Kläger beschwerender Verwaltungsakt ergangen, der Erlaß eines von ihm beantragten begünstigenden Verwaltungsaktes unterblieben, ihm eine beanspruchte Leistung vorenthalten oder zwischen den Beteiligten eine bestimmte Rechtsbeziehung streitig geworden sein. Allen diesen Fällen ist gemeinsam, daß die Beteiligten aus gegebenem Anlaß - weil nämlich ein bestimmter Sachverhalt eingetreten ist, dessen rechtliche Würdigung Zweifel aufwirft - über die Anwendung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm streiten. Ohne einen solchen konkreten Anlaß kann im sozialgerichtlichen Verfahren grundsätzlich kein Rechtsschutz gewährt werden. Das trifft auch für die in § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG vorgesehene Feststellungsklage zu. Auch sie setzt voraus, daß der Streit das Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses, d. h. eine aus der Anwendung einer Norm auf einen Lebenssachverhalt entstandene Rechtsbeziehung, betrifft (zum Begriff des Rechtsverhältnisses vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 86 II 1 a, S. 404; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 27. Aufl., § 256, Anm. 2 A). Für eine von einem konkreten Sachverhalt losgelöste (abstrakte) Normenkontrolle ist somit in der Sozialgerichtsbarkeit - anders als in der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit (§ 47 VwGO) - kein Raum (vgl. dazu die Urteile des Senats vom 21. Oktober 1958 und 14. Juli 1965, SozR Nr. 1 zur Vertragsordnung für Kassenzahnärzte vom 27. August 1935 und Nr. 2 zu § 368 h RVO). Das gilt nicht nur, wenn mit der Klage ausdrücklich die Feststellung der Nichtigkeit einer Norm beantragt wird, sondern auch dann, wenn die Gültigkeit der Norm zwar formal nur Vorfrage ist, die Hauptfrage - der prozessuale Streitgegenstand - jedoch ebenfalls keine Beziehung zu einem konkreten Anwendungsfall der Norm aufweist.
Hier haben die Kläger zunächst - vor dem SG - den Antrag gestellt, die von ihnen beanstandeten Bestimmungen der fraglichen Vereinbarung für nichtig zu erklären. Da es sich bei den genannten Bestimmungen um normative Regelungen handelt - sie verpflichten die Kläger, ihre Gültigkeit unterstellt, zu einem bestimmten Verhalten oder zur Duldung gewisser Handlungen der beigeladenen AOK (vgl. § 368 a Abs. 4 i. V. m. § 368 g Abs. 1 und 2 RVO) -, richtete sich ihre Klage ursprünglich auf die abstrakte Feststellung der Nichtigkeit von Normen und war deshalb unzulässig.
Später - vor dem LSG - haben die Kläger nur noch die Feststellung beantragt, die Beklagte habe mit der Vereinbarung der genannten Bestimmungen ihre Rechte verletzt, weil sie dadurch gegenüber den behandelnden Ärzten benachteiligt würden. Seit dieser Änderung des Klageantrags ist zwar die Gültigkeit der fraglichen Bestimmungen formal nicht mehr der prozessuale Streitgegenstand, sondern nur noch Vorfrage dafür, ob die Beklagte die Rechte der Kläger verletzt hat. Indessen haben die Kläger auch den neuen Klaganspruch nicht auf einen konkreten Sachverhalt bezogen, aus dem sich eine Verletzung ihrer Rechte ergeben könnte. Auch mit dem geänderten Klagantrag erstreben sie vielmehr der Sache nach nur eine, mit einem bestimmten Lebensvorgang nicht zusammenhängende, abstrakte Klärung von Rechtsfragen. Dafür steht aber, wie ausgeführt, der Sozialrechtsweg nicht zur Verfügung, so daß auch die geänderte Klage unzulässig ist, wie das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat.
Welche Möglichkeiten des vorbeugenden Rechtsschutzes das sozialgerichtliche Verfahren einem Kläger bietet, dem durch die bevorstehende Anwendung einer Rechtsnorm ein Nachteil droht, kann hier offenbleiben (vgl. dazu etwa BSG 11, 198: Klage eines Versicherten auf Feststellung einer von der Krankenkasse bestrittenen Verpflichtung zur künftigen Gewährung von Familienkrankenhilfe; BSG 25, 243: Klage eines Unternehmers gegen eine Berufsgenossenschaft auf Feststellung, daß diese bestimmte Renten nicht mehr zahlen dürfe und deshalb die Beiträge künftig entsprechend senken müsse; SozR Nr. 44 zu § 55 SGG: Klage eines Rentners gegen die Ankündigung des Versicherungsträgers, bei künftigen Rentenanpassungen gewisse Versicherungszeiten nicht mehr zu berücksichtigen). Im vorliegenden Fall bestand für die Kläger, die übrigens in ihrer Klage selbst nur ein "vorbeugendes Abwehrmittel" sehen, nach ihrem eigenen Vorbringen nie die ernstliche Gefahr, daß die von ihnen beanstandeten Bestimmungen zu ihren Ungunsten angewendet wurden. Weder hat die beigeladene AOK noch die beklagte KÄV den Klägern bisher ausdrücklich das Recht bestritten, Sachleistungen auch ohne vorherige Genehmigung durch die AOK zu erbringen, oder ihnen gar für den Fall einer Zuwiderhandlung angedroht, nicht genehmigte Leistungen künftig nicht mehr zu vergüten (nach übereinstimmender Ansicht der AOK und der Beklagten dient der Genehmigungsvorbehalt lediglich einer nachträglichen Überprüfung der Kassenmitgliedschaft derjenigen Versicherten, die Sachleistungen in Anspruch nehmen). Auch hat die AOK bisher keine Anstalten getroffen, von ihrer Befugnis nach § 11 der Vereinbarung Gebrauch zu machen; es ist nicht einmal sicher, ob der Fall des § 11 (zu geringe Inanspruchnahme des Eigeninstituts der AOK) jemals praktisch werden wird. Von einer greifbaren Gefährdung berechtigter Interessen der Kläger durch Anwendung der fraglichen Bestimmungen kann somit bisher nicht gesprochen werden. Schon deswegen entfällt hier die Möglichkeit der Gewährung von vorbeugendem Rechtsschutz.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 224 |
MDR 1969, 172 |
DVBl. 1969, 510 |