Leitsatz (amtlich)
1. Aus dem Mitgliedschaftsverhältnis in der gesetzlichen Krankenkasse ergibt sich kein Anspruch des Versicherten auf Unterlassung einer bestimmten Mittelverwendung der Kasse.
2. Die Klage eines Versicherten gegen seine Krankenkasse auf Unterlassung gesetzlich vorgesehener Leistungen (hier nach §§ 200f, 200g RVO) an andere Versicherte ist unzulässig.
Orientierungssatz
Rechtsschutzbedürfnis für die Unterlassungsklage nach § 54 Abs 5 SGG bei Leistungen nach den §§ 200f, 220g RVO:
1. Die in § 54 Abs 5 SGG geregelte Leistungsklage kann auch auf ein schlichtes hoheitliches Verwaltungshandeln abzielen, das in einem Unterlassen bestehen kann, denn die Unterlassung eines bestimmten künftigen Verwaltungshandelns eines Versicherungsträgers kann nur mit einer Leistungsklage in der Gestalt der vorbeugenden Unterlassungsklage geltend gemacht werden (vgl BSG vom 27.1.1977 7 RAr 17/76 = BSGE 43, 134, 136 mwN).
2. Dient eine Klage nicht dem Schutz der individuellen Rechtssphäre, so führt auch Art 19 Abs 4 GG nicht zur Zulässigkeit der Klage, denn nach dieser Vorschrift steht der Rechtsweg nur demjenigen zur Verfügung, der durch die öffentliche Gewalt "in seinen Rechten verletzt" wird. Dieser Grundsatz hat in § 54 Abs 1 S 2 SGG seine ausdrückliche Konkretisierung erfahren. Danach ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger "behauptet", durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert, dh in seinen Rechten beeinträchtigt zu sein. Dabei genügt einerseits und ist andererseits auch erforderlich, daß nach dem Klagevortrag eine Verletzung der individuellen Rechte möglich ist. Ziel der Regelung ist es, sowohl die sogenannte Popularklage als auch solche Klagen auszuschließen, mit denen der Kläger nicht eine Verletzung seiner rechtlich geschützten, sondern nur seiner außerrechtlichen, zB seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Interessen geltend macht (vgl BSG 27.1.1977 7 RAr 17/76 = BSGE 43, 143, 141 mwN).
3. Der einzelne, der eine bestimmte Verwendung öffentlicher Mittel für rechtswidrig hält, kann weder aus seinen Grundrechten noch aus dem Mitgliedschaftsverhältnis in der gesetzlichen Krankenkasse als einem öffentlich-rechtlichen Zwangsverband einen Anspruch auf Unterlassung der Mittelverwendung der Kasse herleiten. Der einzelne hat keine Möglichkeit, im Klagewege die rechtswidrige Ausgabenverwendung zu verhindern. Die Kontrolle hierüber obliegt nicht dem einzelnen Mitglied, sondern allein den Selbstverwaltungsorganen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger (vgl §§ 31, 38, 87 ff SGB 4).
4. Das Verlangen auf Einstellung der nach Ansicht eines Einzelnen rechtswidrigen Verwaltungspraxis kann auch nicht auf die durch Art 2 Abs 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit gestützt werden. Den einzelnen Mitgliedern der öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände steht ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung nicht legitimer Aufgaben zu. Wollte man jedem Mitglied allein aufgrund seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft das Recht zugestehen, den von ihm nicht gebilligten, gesetzlich oder kraft Satzung geregelten Leistungsumfang an andere Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer gesetzlich nicht vorgesehen abstrakten Rechtskontrolle führen.
Normenkette
SGG § 54 Abs. 5 Fassung: 1953-09-03, Abs. 1 S. 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 200f Fassung: 1975-08-28, § 200g Fassung: 1975-08-28; StGB § 218a Abs. 1 Fassung: 1976-05-18; GG Art. 2 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23, Art. 19 Abs. 4 Fassung: 1968-06-24
Verfahrensgang
SG Dortmund (Entscheidung vom 30.11.1984; Aktenzeichen S 12 (8) 172/81) |
Tatbestand
Die Klägerin hat 1981 beim Sozialgericht (SG) Dortmund Klage erhoben und beantragt, die Beklagte zu verurteilen, für die Dauer der Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen gemäß §§ 200f, 200g der Reichsversicherungsordnung (RVO), § 17a Abs 2 - 4 der Versicherungsbedingungen der Beklagten für die sozial indizierten - nach § 218a Abs 1 des Strafgesetzbuches (StGB) nicht strafbaren - Schwangerschaftsabbrüche zu unterlassen; hilfsweise begehrt sie die Verurteilung der Beklagten, es für die Dauer der Mitgliedschaft der Klägerin zu unterlassen, für Schwangerschaftsabbrüche Leistungen nach den vorgenannten Vorschriften zu erbringen, ohne die Nichtrechtswidrigkeit, hilfsweise die Nichtstrafbarkeit des Schwangerschaftsabbruches selbst in angemessener Weise überprüft zu haben.
Das SG hatte wegen seiner Bedenken gegen die Vereinbarkeit der §§ 200f, 200g RVO mit den Vorschriften der Art 2 bis 4 des Grundgesetzes (GG) gemäß Art 100 Abs 1 GG das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen. Dieses hat jedoch die Vorlage durch Beschluß vom 18. April 1984 (BVerfGE 67, 26 = SozR 1500 § 54 Nr 60) für unzulässig erklärt. Auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Bestimmungen komme es nicht an, denn die Klage sei unzulässig. Die Klägerin begehre nicht die Verurteilung der Beklagten zu einer Unterlassung, auf die ein Rechtsanspruch der Klägerin bestehe. Die gesetzlich normierte Kassenleistung an Dritte berühre nicht den persönlichen, durch das Mitgliedschaftsverhältnis zur Kasse bestimmten Rechtskreis der Klägerin. Auch als einzelne Bürgerin könne die Klägerin aus ihren Grundrechten weder eine bestimmte Verwendung des Beitragsaufkommens herleiten noch einen Anspruch auf generelle Unterlassung der Verwendung des Aufkommens aus öffentlichen Abgaben erzwingen, wenn sie bestimmte Ausgaben aus Glaubens- oder Gewissensgründen für grundgesetzwidrig halte. Demgemäß sei die von der Klägerin erhobene Klage eine unzulässige Popularklage. Im übrigen sei die Klägerin auch nicht deshalb klagebefugt, weil sie der Beklagten als Pflichtversicherte zur gesetzlichen Krankenversicherung angehöre. Von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seien zwar Unterlassungsklagen einzelner Angehöriger öffentlich-rechtlicher Zwangsverbände für zulässig gehalten worden, soweit geltend gemacht worden sei, daß sich die öffentlich-rechtliche Körperschaft nicht auf die Wahrnehmung der ihr gesetzlich zugewiesenen Aufgaben beschränke. Im vorliegenden Fall verlange die Klägerin jedoch, daß die Beklagte eine ihr kraft Gesetzes obliegende Aufgabe nicht erfülle.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 30. November 1984 als unzulässig abgewiesen; in der Begründung ist es im wesentlichen der zuvor dargelegten Rechtsauffassung des BVerfG gefolgt.
Mit der Sprungrevision rügt die Klägerin Verstöße des SG gegen die Vorschriften des Art 19 Abs 4 GG und des § 54 Abs 5 SGG. Sie sei mit der Abweisung der Klage wegen fehlender Klagebefugnis jeden Rechtsschutzes beraubt, wenn die Beklagte auch nicht medizinisch indizierte Abtreibungen oder alle von den Ärzten abgerechneten Schwangerschaftsabbrüche finanziere, ohne zu prüfen, ob ein Schwangerschaftsabbruch überhaupt indiziert und damit wenigstens nicht strafbar gewesen sei. Durch ein solches Verhalten der Beklagten werde auch sie - die Klägerin - selbst in ihren Rechten verletzt. Als Mitglied der Beklagten müsse sie die Möglichkeit haben, dies durch eine Unterlassungsklage klären zu lassen; sie dürfe deshalb auch nicht auf ein Einschreiten der - bisher untätig gebliebenen - Aufsichtsbehörden verwiesen werden. Schließlich lege die Beklagte auch die Vorschriften der §§ 200f, 200g RVO unrichtig aus. Die Beklagte dürfe nur "nicht rechtswidrige" Schwangerschaftsabbrüche finanzieren. Die sogenannten sozial indizierten Schwangerschaftsabbrüche seien zwar straflos, sie blieben aber gleichwohl rechtswidrig.
Die Klägerin beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 30. November 1984 aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Sprungrevision der Klägerin zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene hat im Revisionsverfahren keinen Antrag gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen, weil der Klägerin die Klagebefugnis für das von ihr erhobene Unterlassungsbegehren fehlt.
Zwar kann die in § 54 Abs 5 SGG geregelte Leistungsklage auch auf ein schlichtes hoheitliches Verwaltungshandeln abzielen, das in einem Unterlassen bestehen kann (BSGE 25, 116, 117), denn die Unterlassung eines bestimmten künftigen Verwaltungshandelns eines Versicherungsträgers kann nur mit einer Leistungsklage in der Gestalt der vorbeugenden Unterlassungsklage geltend gemacht werden (BSGE 43, 134, 136 mwN).
Die Klägerin ist aber nicht klagebefugt. Wie für jede andere Klage ist auch für die Unterlassungsklage in Form der Leistungsklage ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich. Dient eine Klage nicht dem Schutz der individuellen Rechtssphäre, so führt auch Art 19 Abs 4 GG nicht zur Zulässigkeit der Klage, denn nach dieser Vorschrift steht der Rechtsweg nur demjenigen zur Verfügung, der durch die öffentliche Gewalt "in seinen Rechten verletzt" wird. Dieser Grundsatz hat in § 54 Abs 1 Satz 2 SGG seine ausdrückliche Konkretisierung erfahren. Danach ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger "behauptet", durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert, dh in seinen Rechten beeinträchtigt zu sein. Dabei genügt einerseits und ist andererseits auch erforderlich, daß nach dem Klagevortrag eine Verletzung der individuellen Rechte möglich ist. Ziel der Regelung ist es, sowohl die sogenannte Popularklage als auch solche Klagen auszuschließen, mit denen der Kläger nicht eine Verletzung seiner rechtlich geschützten, sondern nur seiner außerrechtlichen, zB seiner politischen, wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Interessen geltend macht (BSGE 43, 134, 141 mwN). Die zitierte Entscheidung hat zwar offen gelassen, ob das in § 54 Abs 1 Satz 2 SGG geregelte besondere Rechtsschutzbedürfnis auch für die reine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG erforderlich ist. Diese Frage muß aber schon deshalb bejaht werden, weil in § 54 Abs 1 Satz 2 SGG nur ein allgemeiner Rechtsgrundsatz zum Ausdruck kommt, der für alle Klagen gilt, soweit das Gesetz nicht konkrete Ausnahmen macht (vgl auch BSG SozR Nr 109 zu § 54 SGG). Es kann daher dahingestellt bleiben, ob auch - wie das BVerfG meint - in § 54 Abs 5 SGG der gleiche Gedanke insofern enthalten ist, als auf die eingeklagte Leistung ein Rechtsanspruch bestehen muß. Die Klägerin ist durch die beanstandete Leistungserbringung der Beklagten nicht in ihren eigenen Rechten verletzt. Dies kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil sich die Erbringung von Leistungen der Beklagten nach den Vorschriften der §§ 200f, 200g RVO nicht unmittelbar gegen den Rechtskreis der Klägerin richtet und damit auch nicht deren rechtlich geschützte Interessen beeinträchtigt.
§ 54 Abs 5 SGG eröffnet für die Klägerin auch nicht die Möglichkeit einer abstrakten Normenkontrolle. Dies hat das BVerfG (Beschluß vom 18. April 1984 aa0; vgl auch den Beschluß vom 30. April 1986 - 1 BvR 1203/85 und 1 BvR 1453/85 -) für die von der Klägerin in diesem Verfahren erhobene Klage angenommen. Es kann dahingestellt bleiben, ob - wie im Schrifttum mehrfach angenommen worden ist (Geiger, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1984, 409; Krause, Neue Verwaltungszeitschrift 1985, 87) - das BVerfG nicht zur Prüfung befugt gewesen ist, ob die von der Klägerin erhobene Klage die Voraussetzungen des § 54 Abs 5 SGG erfüllt. Denn der Senat hält die Klage auch nach eigener Prüfung sowohl mit dem Haupt- als auch mit dem Hilfsantrag für unzulässig. Der einzelne, der eine bestimmte Verwendung öffentlicher Mittel für rechtswidrig hält, kann weder aus seinen Grundrechten noch aus dem Mitgliedschaftsverhältnis in der gesetzlichen Krankenkasse als einem öffentlich-rechtlichen Zwangsverband einen Anspruch auf Unterlassung der Mittelverwendung der Kasse herleiten. Der einzelne hat keine Möglichkeit, im Klagewege die rechtswidrige Ausgabenverwendung zu verhindern. Die Kontrolle hierüber obliegt nicht dem einzelnen Mitglied, sondern allein den Selbstverwaltungsorganen und Aufsichtsbehörden der Versicherungsträger (vgl §§ 31, 38, 87 ff SGB IV).
Die Klägerin kann ihr Verlangen auf Einstellung der nach ihrer Ansicht rechtswidrigen Verwaltungspraxis der Beklagten auch nicht auf die durch Art 2 Abs 1 GG gewährleistete allgemeine Handlungsfreiheit stützen. Soweit die Klägerin hierzu unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE 59, 231; 64, 115, 298) geltend macht, sie werde in diesem Grundrecht verletzt, indem sie gezwungen werde, einem öffentlich-rechtlichen Verband anzugehören, der Leistungen erbringt, die ihrer Meinung nach der Zweckbestimmung der gesetzlichen Krankenversicherung widersprechen, berücksichtigt sie nicht, daß das BVerwG den einzelnen Mitgliedern der öffentlich-rechtlichen Zwangsverbände ein Abwehrrecht nur gegen die Wahrnehmung nicht legitimer Aufgaben eingeräumt hat. Dieser Rechtsgedanke kann nicht auf die Pflichtmitglieder zur gesetzlichen Krankenversicherung dahin ausgedehnt werden, daß dem einzelnen, durch die gesetzlich vorgesehene Leistungsgewährung an ein anderes Mitglied nicht unmittelbar nachteilig in seinen Rechten betroffenen Mitglied ein Klage-Abwehrrecht eröffnet ist. Vielmehr entfaltet die Leistung des Versicherungsträgers an ein anderes Mitglied keine unmittelbaren Rechtswirkungen gegenüber einem unbeteiligten Mitglied (zur Frage, ob die Erbringung von Leistungen gemäß §§ 200f, 200g RVO die Beitragspflicht der anderen Mitglieder berührt vgl BSGE 57, 184). Wollte man jedem Mitglied allein aufgrund seiner versicherungsrechtlichen Zwangsmitgliedschaft das Recht zugestehen, den von ihm nicht gebilligten, gesetzlich oder kraft Satzung geregelten Leistungsumfang an andere Mitglieder gerichtlich überprüfen zu lassen, so würde dies zu einer gesetzlich nicht vorgesehenen abstrakten Rechtskontrolle führen.
Diese Grundsätze gelten in gleicher Weise für den Hilfsantrag der Klägerin. Es kann dahingestellt bleiben, ob und inwieweit die beklagte Ersatzkasse zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit bzw Straflosigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichtet ist. Denn die Klägerin hat jedenfalls aus den zuvor dargelegten Gründen kein individuelles, im Wege der Klage durchsetzbares Recht, die Nichterfüllung der gesetzlich normierten Leistungen der Krankenkasse durchzusetzen. Zwar folgt aus dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, daß rechtswidrige Leistungen nicht erbracht werden dürfen. Die Verwaltung zur Beachtung dieses Grundsatzes anzuhalten, ist nicht Aufgabe des von der Leistung nicht unmittelbar betroffenen Kassenmitgliedes. Auch insoweit ist die Klägerin durch die öffentliche Gewalt nicht in ihren Rechten verletzt, so daß mit der Versagung des Rechtsweges auch für den Hilfsantrag der Klägerin kein Verstoß gegen Art 19 Abs 4 GG vorliegt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 248 |
NJW 1987, 517 |
Streit 1986, 138 |