Leitsatz (amtlich)
Das Gericht hat gemäß SGG § 103 von Amts wegen auch den Sachverhalt zu erforschen, der für die Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtserheblich ist. Diese Aufklärungspflicht ist nicht dadurch aufgehoben, daß nach SGG § 67 der Antragsteller die Tatsache zur Begründung des Antrags glaubhaft machen soll.
Normenkette
SGG § 67 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1955 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger, der während des zweiten Weltkrieges der Kriegsmarine angehört hatte, beantragte am 23. Januar/3. Februar 1951, ihm wegen Erblindung Beschädigtenrente zu gewähren. Das Versorgungsamt Gelsenkirchen lehnte mit Bescheid vom 4. April 1952 den Antrag ab, und der Beschwerdeausschuß des Versorgungsamts G wies den dagegen eingelegten Einspruch des Klägers mit Entscheidung vom 23. September 1952 zurück. Die Versorgungsbehörden sahen die Erblindung nicht als Folge einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) an. Die Einspruchsentscheidung wurde zur Zustellung durch eingeschriebenen Brief unter der Anschrift des Klägers "B, N.-straße ..." am 3. Oktober 1952 zur Post gegeben. Nach Auskunft des Postamts G wurde die Sendung am 4. Oktober 1952 laut Empfangsschein zugestellt. Der Kläger, der vom 8. Oktober 1951 bis 1. Dezember 1952 eine Strafe in der Strafanstalt Münster verbüßte, legte mit Schreiben vom 23. November 1952, das am 25. November 1952 beim Landesversorgungsamt M i. W. einging, Berufung gegen die Einspruchsentscheidung ein. Der Vorsitzende der Spruchkammer V C des Oberversicherungsamts D verwarf die Berufung durch Vorentscheidung vom 19. März 1953 als verspätet. Der Kläger stellte Antrag auf mündliche Verhandlung. Das Sozialgericht Dortmund, auf welches der Rechtsstreit inzwischen mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, wies durch Urteil vom 15. September 1954 die nunmehr als Klage angesehene Berufung alten Rechts wegen Fristversäumnis als unzulässig ab.
Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil blieb erfolglos. Das Landessozialgericht führt in seinem Urteil vom 10. März 1955 aus, daß dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Klagefrist gemäß § 67 SGG nicht stattgegeben werden könne. Ein Grund für die Wiedereinsetzung sei nicht darin zu erblicken, daß dem Kläger die Entscheidung des Beschwerdeausschusses verspätet in das Gefängnis, in dem er sich damals befand, nachgesandt worden sei. Sache des Klägers wäre es gewesen, seinen Angehörigen oder sonstigen Personen Weisungen dahin zu geben, daß ihm Schriftstücke, deren Bearbeitung von einer Frist abhängig gemacht war, unverzüglich in das Gefängnis nachgesandt wurden. Falls er eine derartige Weisung nicht erteilt habe, träfen ihn die Folgen der Unterlassung.
Die Revision wurde nicht zugelassen.
Gegen das am 1. April 1955 zugestellte Urteil hat der Kläger mit Schriftsatz vom 13. April 1955, eingegangen beim Bundessozialgericht am 14. April 1955, Revision eingelegt und diese zugleich begründet. Er beantragt - dem Sinne nach -,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1955, das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 15. September 1954, die Vorentscheidung des Vorsitzenden der Spruchkammer V C des Oberversicherungsamts D vom 19. März 1953, die Einspruchsentscheidung des Beschwerdeausschusses des Versorgungsamts G vom 23. September 1952 sowie den Bescheid des Landesversorgungsamts G vom 4. April 1952 aufzuheben und den Beklagten dem Grunde nach zu verurteilen, dem Kläger vom 1. Februar 1951 an eine Rente wegen Erblindung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 % zu zahlen,
hilfsweise unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 10. März 1955 die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Er macht geltend, daß das Landessozialgericht zu Unrecht eine Fristversäumnis bei der Einlegung der damaligen Berufung alten Rechts angenommen habe, denn die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hätten vorgelegen. Seine Mutter habe sich an seine Weisung, seine Angelegenheiten für ihn zu regeln und Fristsachen an ihn weiterzuleiten, nicht gehalten, weil sie gegen ihn durch die damalige Bestrafung aufgebracht gewesen sei. Dies werde in einer der Revisionsschrift beigefügten eidesstattlichen Versicherung seiner Mutter bestätigt. Aus diesem Grunde habe er von der Zustellung nicht rechtzeitig Kenntnis erhalten und die Berufungsfrist nicht einhalten können. Ihn treffe kein Verschulden, zumal da er als Blinder schon auf Grund seiner körperlichen Schädigung an der Wahrnehmung seiner Geschäfte schwer behindert sei. Das Landessozialgericht hätte in dieser Richtung durch Ausübung des Fragerechts die Verschuldensfrage prüfen und näher aufklären müssen.
In einem weiteren Schriftsatz vom 14. Juli 1955 rügt der Kläger, daß die Zustellung der Einspruchsentscheidung nicht ordnungsmäßig erfolgt sei.
Der Beklagte hat im Schriftsatz vom 28. Mai 1955 beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen.
Er ist der Ansicht, der Kläger habe keine Tatsachen vorgetragen, die einen wesentlichen Mangel des Verfahrens vor dem Landessozialgericht ergeben.
In der mündlichen Verhandlung waren die Beteiligten nicht vertreten. Der Senat konnte trotzdem verhandeln und entscheiden, da die Beteiligten darauf hingewiesen worden waren, daß auch im Falle ihres Ausbleibens verhandelt und entschieden werden kann.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da der Kläger einen Mangel des Verfahrens des Landessozialgerichts insofern gerügt hat, als er behauptet, das Landessozialgericht habe den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt. Er führt zwar die Vorschrift des § 103 SGG nicht ausdrücklich an, jedoch ergibt sich aus seinem Hinweis auf die Fragepflicht und aus der Anführung der Tatsachen, bei deren Aufklärung das Gericht zu einer anderen Beurteilung seines Wiedereinsetzungsantrags gekommen wäre, daß er eine Verletzung der Aufklärungspflicht des Landessozialgerichts rügen will. Die von ihm angeführten Tatsachen und Beweismittel ergeben auch eine solche Verletzung des § 103 SGG.
Nach dieser Vorschrift hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Diese Pflicht bezieht sich nicht nur auf den Sachverhalt, der für den erhobenen Anspruch sachlich-rechtlich von Bedeutung ist, sondern auch auf den Sachverhalt, der verfahrensrechtlich für die Entscheidung erheblich ist (Peters-Sautter-Wolff § 103 Anm. 2). Bei der Entscheidung darüber, ob ein Rechtsbehelf rechtzeitig eingelegt ist und ob ein Sachurteil oder ein Prozeßurteil zu ergehen hat, sind daher auch alle Umstände zu erforschen, die für die Entscheidung über den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtserheblich sind. Diese allgemeine Aufklärungspflicht des Gerichts ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung (§ 67 SGG) nicht aufgehoben. Im Gegensatz zum Verfahren der Zivilprozeßordnung, die im § 236 vorschreibt, daß der Antrag auf Wiedereinsetzung die Angabe der die Wiedereinsetzung begründenden Tatsachen enthalten muß, verlangt § 67 SGG - ebenso wie früher § 133 RVO - nicht unbedingt die Angabe aller dieser Tatsachen. Wenn es im § 67 SGG heißt, daß die Tatsachen zur Begründung des Antrags glaubhaft gemacht werden "sollen", so bedeutet dies, daß das Gericht nicht in jedem Falle einer Fristversäumnis von Amts wegen nach diesen Tatsachen zu forschen hat, sondern daß es in erster Linie Sache des Antragstellers ist, diese Tatsachen vorzubringen und glaubhaft zu machen. Das entbindet das Gericht aber nicht von seiner Fragepflicht (§ 106 Abs. 1, § 112 Abs. 2 SGG) und seiner allgemeinen Aufklärungspflicht (§ 103 SGG). Es hat dann, wenn das übrige Vorbringen des Klägers oder die sonstigen Umstände auf das Vorhandensein von Tatsachen hindeuten, die den Wiedereinsetzungsantrag begründet erscheinen lassen könnten, diese Tatsachen aufzuklären.
Diese Aufklärungspflicht oblag auch dem Landessozialgericht, das im Berufungsverfahren zu entscheiden hatte, ob dem Kläger die Wiedereinsetzung schon im ersten Rechtszug zu Unrecht verweigert worden war. Soweit der Kläger allerdings in seinem Schriftsatz vom 14. Juli 1955 rügt, daß das Landessozialgericht nicht aufgeklärt habe, ob die Einspruchsentscheidung ordnungsmäßig zugestellt worden sei, kann die Rüge dieses Mangels gemäß § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG schon deshalb nicht mehr bei der Prüfung der Statthaftigkeit der Revision berücksichtigt werden, weil diese Rüge erst erhoben worden ist, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bereits abgelaufen war.
Zwar kann in der Rüge, die Wiedereinsetzung sei zu Unrecht abgelehnt worden, "im Zweifel" die Rüge mitenthalten sein, das Vordergericht habe den Rechtsbehelf zu Unrecht als verspätet angesehen (SozR. § 164 Bl. Da 6 Nr. 21). Der Kläger hat jedoch weder im bisherigen Verfahren noch in seiner Revisionsbegründung vom 13. April 1955 die Ordnungsmäßigkeit der Zustellung der Einspruchsentscheidung mit der Abgabe des Briefes in der Wohnung der Mutter des Klägers in Zweifel gezogen, sondern ist stets von der Ordnungsmäßigkeit dieser Zustellung ausgegangen. In seiner in der Revisionsbegründungsschrift fristgemäß vorgebrachten Rüge, die Wiedereinsetzung sei ihm zu Unrecht versagt worden, kann daher nicht zugleich die Rüge gesehen werden, daß die Einspruchsentscheidung nicht ordnungsmäßig zugestellt worden sei.
Der Kläger rügt aber zutreffend eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht des Landessozialgerichts insofern, als das Gericht nicht seine Mutter darüber vernommen habe, ob diese von ihm Weisung erhalten hatte, seine Angelegenheiten zu regeln und seine Fristsachen weiterzuleiten. Allerdings hat der Kläger im Verfahren vor dem Landessozialgericht eine derartige ausdrückliche Behauptung nicht aufgestellt. Seine erst im Revisionsverfahren vorgetragene Behauptung und seine Bezugnahme auf die eidesstattliche Versicherung seiner Mutter reichen für sich allein nicht aus, einen Verfahrensmangel des Landessozialgerichts darzutun. Jedoch auch ohne diese ausdrückliche Erklärung war das Landessozialgericht den Umständen nach gehalten aufzuklären, ob der Kläger für die Nachsendung seiner Post Sorge getragen hatte. Das Landessozialgericht, das nach seiner Rechtsauffassung - auf die es für den Umfang der Sachaufklärung allein ankommt - den Wiedereinsetzungsantrag des Klägers nach der Vorschrift des § 67 SGG beurteilte, hat mit Recht dem Umstand ausschlaggebende Bedeutung beigemessen, ob der Kläger Weisung wegen der Nachsendung seiner Post erteilt hatte. Da dem Kläger tatsächlich die Einspruchsentscheidung - offenbar von seiner Mutter - in die Strafanstalt nachgesandt worden war, hätte das Landessozialgericht auch nachforschen müssen, warum überhaupt die Nachsendung erfolgte und wann sie erfolgte. Die Tatsache der Nachsendung legte die Annahme nahe, daß dieser Nachsendung eine Bitte oder Weisung des Klägers zugrundelag. Das Landessozialgericht hätte die näheren Umstände durch Befragung des Klägers oder der Mutter des Klägers leicht klären können. Es hat insofern seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Der Kläger hat diesen Verfahrensmangel gerügt, seine Revision ist daher gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft.
Damit ist die Revision auch zugleich begründet, denn auf diesem Verfahrensmangel beruht die angefochtene Entscheidung (§ 162 Abs. 2 SGG). Bei der Verletzung einer verfahrensrechtlichen Vorschrift beruht die Entscheidung schon dann auf der Verletzung dieser Vorschrift, wenn die Möglichkeit besteht, daß das Landessozialgericht bei der richtigen Anwendung der Vorschrift anders entschieden hätte (BSG. 2 S. 201). Diese Möglichkeit liegt im vorliegenden Fall um so näher, als das Landessozialgericht nach seinen Ausführungen im Urteil bei der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag dem Umstand besondere Bedeutung beigemessen hat, ob der Kläger für die Nachsendung seiner Post genügend Vorsorge getroffen hatte. Das Urteil mußte daher aufgehoben werden.
In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, da es bei dem vom Kläger fristgerecht gerügten Mangel an der Aufklärung fehlt, ob der Kläger tatsächlich seiner Mutter Weisung wegen der Nachsendung gegeben hatte, wann ihm tatsächlich die Einspruchsentscheidung zuging und wann er als Blinder Gelegenheit hatte, Berufung gegen die Einspruchsentscheidung einzulegen. Die Sache mußte daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Vordergericht zurückverwiesen werden. Das Landessozialgericht wird vorab zu prüfen haben, ob die Einspruchsentscheidung am 4. Oktober 1952 ordnungsmäßig zugestellt worden ist und ob, falls eine Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag erforderlich ist, die Entscheidung nach § 67 SGG zu treffen ist oder nach den Vorschriften, die vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes galten (BSG. 1,44). Von dem Ausgang der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag wird es schließlich abhängen, ob über den Anspruch des Klägers ohne weitere Aufklärung sachlich entschieden werden kann.
Die Kostenentscheidung mußte dem abschließenden Urteil vorbehalten bleiben.
Fundstellen
Haufe-Index 2290869 |
NJW 1957, 1944 |