Leitsatz (amtlich)

Ein Nachschieben von Gründen für einen angefochtenen Verwaltungsakt ist dann nicht möglich, wenn zur Anwendung der Vorschrift, die zur Begründung nachgeschoben wird, Tatsachen unterstellt werden müssen, die denjenigen widersprechen, welche dem angefochtenen Verwaltungsakt bei Erlaß zugrunde gelegt worden sind (hier: Nachschieben von Gründen gemäß KOV-VfG § 41 zu einem auf BVG § 62 gestützten Bescheid).

 

Leitsatz (redaktionell)

Unzulässige nachträgliche Umdeutung" eines auf BVG § 62 gestützten Neufeststellungsbescheides in einen "Berichtigungsbescheid nach KOV-VfG § 41.

 

Orientierungssatz

Verwaltungsakt - Nachschieben von Gründen: 1. Ein nachschieben von Gründen für einen angefochtenen Verwaltungsakt ist dann nicht möglich, wenn zur Anwendung der Vorschrift, die zur Begründung nachgeschoben wird, Tatsachen unterstellt werden müssen, die denjenigen widersprechen, welche dem angefochtenen Verwaltungsakt bei Erlaß zugrunde gelegt worden sind (hier: Nachschieben von Gründen gemäß KOV-VfG § 41 zu einem auf BVG § 62 gestützten Bescheid).

 

Normenkette

SGG § 54 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 41 Fassung: 1955-05-02; BVG § 62 Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Die Revision des Beklagten wird als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger bezog wegen verschiedener Gesundheitsstörungen durch Bescheid vom 8. Mai 1948 Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. und durch Bescheid vom 3. Januar 1949 Rente nach einer MdE um 80 v. H. Auf Grund einer Nachuntersuchung kam Dr. M unter Berücksichtigung eines nervenfachärztlichen Nebengutachtens des Dr. G zu dem Ergebnis, daß nur ein Teil der Gesundheitsstörungen Schädigungsfolgen seien; der vorzeitige Altersverbrauch mit beginnender Arteriosklerose sowie Erkrankungen in beiden Schulter- und Kniegelenken stünden nicht im Zusammenhang mit dem Wehrdienst. Für die anzuerkennenden Gesundheitsstörungen betrage die MdE 50 v. H., für die übrigen 30 v. H.. Folgen einer Hirnverletzung und eine durch Kriegseinflüsse bedingte MdE auf neurologischem Gebiet ließen sich nicht feststellen. Durch Umanerkennungsbescheid vom 9. Oktober 1951 wurde dem Kläger wegen "Narbenbildung am Schädel, rechter Oberarm und linker Unterarm mit Streckhemmung, Brustwand- und Bauchraumstecksplitter, Narbenbildung am Oberschenkel und der linken Beckenseite, Verwachsungen im Bauchraum, Narbenbildung am linken Gesäß, Versteifung des linken Daumens", hervorgerufen durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 1. Oktober 1950 an Rente nach dem BVG bewilligt, und zwar bis zum 30. November 1951 entsprechend einer MdE um 80 v. H. und ab 1. Dezember 1951 entsprechend einer MdE um 50 v. H.. Der Einspruch des Klägers wurde, soweit er die Bewertung der MdE betraf, zurückgewiesen, weil die nach den Gutachten von Dr. M und Dr. G eingetretene Besserung nur noch eine MdE um 50 v. H. rechtfertige. Die Klage wurde durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Schleswig vom 18. Februar 1954 abgewiesen. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Im Jahre 1956 beantragte der Kläger die Kapitalisierung der Rente. Aus diesem Anlaß erstatteten Dr. A und Dr. T im Jahre 1957 ein Gutachten, in dem die Gutachter ausführten, daß die MdE für die durch den Wehrdienst hervorgerufenen Schädigungsfolgen nicht mehr als 20 v. H. betrage, und daß im Vergleich zu früheren Befunden eine Besserung festzustellen sei. Daraufhin entzog das Versorgungsamt (VersorgA) H durch Bescheid vom 19. März 1957 die Rente mit Ablauf des Monats April 1957, weil in den Verhältnissen, die für die Feststellung maßgebend waren, eine wesentliche Änderung (Besserung) eingetreten sei. Gleichzeitig wurden die Schädigungsfolgen neu bezeichnet und der Antrag auf Kapitalabfindung abgelehnt. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen. Das SG hob durch Urteil vom 6. November 1958 den Bescheid vom 19. März 1957 auf und verurteilte den Beklagten, die Rente nach einer MdE um 50 v. H. weiterzuzahlen, da eine Besserung, die eine weitere Herabsetzung der Rente zulasse, nicht festgestellt werden könne. Der Beklagte legte Berufung ein. In der letzten mündlichen Verhandlung des Landessozialgerichts (LSG) am 3. November 1959 erklärte der Prozeßbevollmächtigte des Beklagten, er stütze den Bescheid vom 19. März 1957 hilfsweise auf § 41 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (VerwVG) und erteile in seiner Eigenschaft als Regierungsrat des Landesversorgungsamts (LVersorgA) nachträglich die nach § 41 Abs. 2 VerwVG erforderliche Genehmigung. Das LSG wies die Berufung durch Urteil vom 3. November 1959 zurück. Es führte aus, der Bescheid vom 19. März 1957 könne nicht auf § 62 BVG gestützt werden, weil nach den ärztlichen Feststellungen, insbesondere nach dem Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. A, eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand des Klägers nicht eingetreten sei. Die nachträgliche Berufung auf § 41 VerwVG scheitere schon daran, daß ein Neufeststellungsbescheid nach § 62 BVG nicht in einen Berichtigungsbescheid nach § 41 VerwVG umgedeutet werden könne, da dieser weiter gehe und einen anderen Inhalt habe. Der § 62 BVG betreffe die Nachprüfung des Anspruchs im Hinblick auf eine etwaige Änderung der Verhältnisse, die Berichtigung nach § 41 VerwVG dagegen die Grundlagen des für die Gewährung der Rente maßgebenden Anspruchs. Ein Berichtigungsbescheid könne nicht dadurch herbeigeführt werden, daß nachträglich der Bescheid vom 19. März 1957 auf § 41 VerwVG gestützt und die Zustimmung dazu erteilt werde. Dem Erfordernis der Genehmigung des Berichtigungsbescheides durch die vorgesetzte Dienststelle werde nicht dadurch genügt, daß ein Beamter dieser Dienststelle selbst den Bescheid und gleichzeitig die Genehmigung dazu erteile. Ein solcher Bescheid könne auch nur vom VersorgA erlassen werden. Die Revision wurde zugelassen.

Der Beklagte hat gegen das am 26. Februar 1960 zugestellte Urteil des LSG Revision eingelegt. Er beantragt,

das Urteil des LSG vom 3. November 1959 und das Urteil des SG vom 6. November 1958 abzuändern, soweit der Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger über den 30. April 1957 hinaus Versorgung nach einer MdE um 50 v. H. zu gewähren, und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung, die innerhalb der bis zum 13. April 1960 verlängerten Begründungsfrist eingegangen ist, rügt der Beklagte die unrichtige Anwendung des § 41 VerwVG. Er meint, er habe den angefochtenen Bescheid im Berufungsverfahren auf § 41 VerwVG stützen können, nachdem Dr. A eine wesentliche Änderung nicht festgestellt und das LSG zum Ausdruck gebracht habe, daß die Verhältnisse, die Anlaß zu dem "Entziehungsbescheid" vom 19. März 1957 gegeben haben, bereits bei der Feststellung der Rente nach einer MdE um 50 v. H. im Jahre 1951 vorgelegen hätten und damals berücksichtigt worden seien. Er habe für den Fall, daß der angefochtene Bescheid zunächst unrichtig begründet worden sein sollte, nachträglich einen anderen Rechtsgrund geltend gemacht. Dies sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zulässig, weil durch die nachgeschobene Begründung nicht ein neuer Verwaltungsakt entstehe, sondern der bestehende nur auf eine andere Rechtsgrundlage gestellt werde (BSG 7, 8, 12). So habe das BSG (BSG 7, 122, 124, 125) keine Bedenken getragen, einen Neufeststellungsbescheid nach § 40 Abs. 4 des Berliner Gesetzes über die Versorgung von Kriegs- und Militärdienstbeschädigten sowie ihren Hinterbliebenen (KVG) i. V. m. § 61 der Ersten Durchführungsverordnung vom 13. Dezember 1950, dem § 41 VerwVG entspreche, umzudeuten, sofern der Bescheid dadurch seinem Gehalt nach nicht verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht wesentlich erschwert werde. Dies gelte auch für den vorliegenden Fall, weil nach § 62 BVG wie nach § 41 VerwVG nur die MdE für die Zukunft zu Ungunsten des Versorgungsberechtigten neu festgestellt werde. Das LSG hätte daher prüfen müssen, ob der "Entziehungsbescheid" auf § 41 VerwVG gestützt werden könne, wenn eine wesentliche Besserung nicht nachgewiesen werden konnte. Das LSG habe übersehen, daß der nachträglich auf § 41 VerwVG gestützte Bescheid vom VersorgA erlassen worden war und nur dessen Rechtsgrundlage geändert werden sollte. Die Zustimmung nach § 41 Abs. 2 VerwVG habe nachträglich und ausnahmsweise auch mündlich oder zu Protokoll des Gerichts erklärt werden können. Die Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 Satz 2 zu § 41 VerwVG sei nur eine Ordnungsvorschrift ohne Rechtscharakter. Wenn der Vertreter des LVersorgA Gründe nachschieben dürfe, so müsse er auch das Recht haben, die nach § 41 Abs. 2 VerwVG erforderliche Zustimmung u. U. auch mündlich zu erteilen. Im übrigen sei diese Zustimmung schon durch den Widerspruchsbescheid als erteilt anzusehen.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG Schleswig vom 3. November 1959 zurückzuweisen und den Beklagten zur Erstattung der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu verurteilen.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und zulässig (§§ 164, 166 SGG). Sie ist aber nicht begründet.

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 19. März 1957 i. d. F. des Widerspruchsbescheids vom 23. Januar 1958. Durch diesen Bescheid sind die mit dem Bescheid vom 9. Oktober 1951 anerkannten Schädigungsfolgen neu bezeichnet und die zuletzt nach einer MdE um 50 v. H. gewährte Rente vom 30. April 1957 an entzogen worden. Der Bescheid vom 19. März 1957 ist seinem Inhalt und seiner Begründung nach ein Neufeststellungsbescheid, kein Berichtigungsbescheid. Der Beklagte hat ihn ausdrücklich auf § 62 BVG gestützt. Er hat in dem Bescheid auch ausdrücklich dargelegt, daß die Neufeststellung durch eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustandes und damit durch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse gerechtfertigt sei, die für die Feststellung der Rente maßgebend gewesen sind. Der Beklagte hat auch die bisher erteilten Bescheide weder ausdrücklich aufgehoben noch irgendwie zum Ausdruck gebracht, daß diese von Anfang an fehlerhaft gewesen wären. Unter diesen Umständen konnte sich der Beklagte zur rechtlichen Begründung des Bescheides vom 19. März 1957 nicht nachträglich im Berufungsverfahren auf § 41 VerwVG berufen. Zwar ist es der Verwaltung grundsätzlich nicht verwehrt, rechtliche Begründungen für einen angefochtenen Verwaltungsakt noch im Laufe des Rechtsstreits nachzuschieben; statthaft ist dies jedoch nur in Fällen, in denen der Verwaltungsakt durch die nachgeschobene Begründung seinem Wesen, insbesondere seinem Ausspruch nach nicht verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht beeinträchtigt wird (BSG 3, 209, (216); 7, 8, (12), (14); 11, 236, (230)). Entsprechend diesem Grundsatz hat das BSG auch das Nachschieben von Gründen bei Bescheiden für zulässig gehalten, die auf § 62 Abs. 1 BVG oder entsprechende Vorschriften anderer Gesetze gestützt waren (vgl. BSG aaO und 7, 122; BSG, Urteil vom 4. September 1956 - 10 RV 395/55 -). Daraus folgt aber nicht, wie der Beklagte unter Berufung auf diese Rechtsprechung anzunehmen scheint, daß ein Nachschieben stets zulässig wäre. Es kommt vielmehr auf die Verhältnisse des Einzelfalles an. Im vorliegenden Fall würde der angefochtene, auf eine Änderung der Verhältnisse gestützte Bescheid in seinem Wesen geändert werden, wenn er auf § 41 VerwVG gestützt würde, weil ihm dann ein ganz anderer und ein - gegenüber dem ursprünglich angenommenen - widersprechender Sachverhalt unterstellt werden müßte. Während bei Erlaß des angefochtenen Bescheides davon ausgegangen worden ist, daß auf Grund der anerkannten Gesundheitsstörung von Dezember 1951 an eine MdE um 50 v. H. bestanden hat, daß sich aber im Laufe der Zeit der Leidenszustand des Klägers gebessert und dadurch die MdE unter 25 v. H. gesunken ist, müßte - um § 41 VerwVG anwenden zu können - im Gegensatz dazu angenommen werden, daß sich seit Dezember 1951 der durch die anerkannte Gesundheitsstörung bedingte Leidenszustand des Klägers nicht mehr wesentlich gebessert hat, sondern daß der Zustand des Klägers schon bei Erlaß des Bescheides vom 9. Oktober 1951 derart dem heutigen Zustand entsprach, daß auch schon damals die MdE unter 25 v. H. lag. Nur unter dieser Voraussetzung könnte von einer "Berichtigung" im angefochtenen Bescheid die Rede sein. Das Wesen eines Bescheides ist aber grundlegend geändert, wenn ein dem Bescheid ursprünglich unterstellter Sachverhalt durch einen anderen und widersprechenden Sachverhalt ersetzt wird, um die Rechtmäßigkeit des Bescheides mit einer anderen rechtlichen Begründung aufrecht erhalten zu können. Wie bei Urteilen muß auch bei Verwaltungsakten ein Sachverhalt festgelegt sein, von dem aus die Rechtsfolgen beurteilt sind. Der zugrunde gelegte Sachverhalt gibt der Entscheidung erst die Grundlage, er macht das Wesen der Entscheidung aus und nach ihm kann überhaupt beurteilt werden, ob die ausgesprochene Rechtsfolge richtig oder falsch ist. Die Festlegung des Sachverhalts muß schon im Interesse der Rechtssicherheit gefordert werden, welche nicht die Unterstellung unterschiedlicher oder widersprechender Tatsachen duldet, sofern davon unterschiedliche Rechtsfolgen abhängen. Bei der Unterstellung unterschiedlicher Sachverhalte könnte auch, sofern ein Verwaltungsakt unanfechtbar geworden ist, gar nicht beurteilt werden, zu welchem Sachverhalt die Rechtsfolge ausgesprochen und verbindlich geworden ist. Die Unterstellung eines anderen Sachverhalts würde auch nicht mehr als ein "Nachschieben von Gründen" angesehen werden können.

Da im vorliegenden Fall ein ganz anderer Sachverhalt unterstellt werden müßte, um den angefochtenen Bescheid auf § 41 VerwVG stützen zu können, dadurch aber der angefochtene Bescheid in seinem Wesen geändert würde, konnte der Beklagte den angefochtenen Bescheid nicht nachträglich auf § 41 VerwVG stützen. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die von dem Bevollmächtigten des LVersorgA in der letzten mündlichen Verhandlung des LSG am 3. November 1959 erklärte Zustimmung den Erfordernissen des § 41 Abs. 2 VerwVG genügt hat, oder ob eine solche Zustimmung der in der Zurückweisung des Widerspruchs ausgedrückten Billigung des Entziehungsbescheides vom 19. März 1957 zu entnehmen wäre.

Das LSG hat somit ohne Rechtsirrtum davon ausgehen dürfen, daß der angefochtene Bescheid rechtlich nicht nach § 41 VerwVG, sondern nur nach § 62 BVG zu beurteilen ist. Dessen Voraussetzungen sind aber nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG nicht erfüllt. Das LSG hat daher den Bescheid vom 19. März 1957 mit Recht als nicht rechtmäßig angesehen.

Die Revision des Beklagten ist somit nicht begründet; sie war daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324190

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