Leitsatz (amtlich)
1. Die Rahmenfrist des AVAVG § 85 Abs 2 ist jedenfalls auch dann vom Tage der tatsächlichen Arbeitslosmeldung aus zu berechnen, wenn einer früheren Meldung zwar außergewöhnliche Hindernisse entgegenstanden, der Arbeitslose aber nicht alles Zumutbare getan hat, um sie zu überwinden.
2. Kann die Arbeitslosmeldung wegen eines Sonn- oder Feiertages nicht erfolgen, so ist die Rahmenfrist des AVAVG § 85 Abs 2 dennoch von diesem Tage aus zu berechnen, sofern die Meldung am nächsten Werktage bewirkt wird.
Normenkette
AVAVG § 85 Abs. 2 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 19. September 1962 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/M. vom 25. Juni 1961 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der ... 1893 geborene Kläger war vom 21. Mai 1948 bis zum 31. Oktober 1959 beim Flughafen Frankfurt/M. als kaufmännischer Angestellter beschäftigt. Seit dem 1. April 1958 erhält er Altersruhegeld. Nach seiner Entlassung meldete er sich am Dienstag, dem 3. November 1959, arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Das Arbeitsamt lehnte ab, weil der Kläger in den letzten zwei Jahren vor seiner Arbeitslosmeldung nicht mindestens 26 Wochen in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden habe, nachdem seine Tätigkeit nur bis einschließlich 30. April 1958 versicherungspflichtig gewesen sei. In seinem Widerspruch machte der Kläger u. a. geltend, er sei wegen schwerer Erkrankung seiner Frau nicht in der Lage gewesen, sich schon am Montag, dem 2. November 1959, arbeitslos zu melden. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage ab. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte zur Zahlung des Alg für 78 Tage: Bei wörtlicher Auslegung des § 85 Abs. 2 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) sei der Kläger innerhalb der Rahmenfrist zwar keine vollen 26 Wochen oder sechs Monate versicherungspflichtig beschäftigt gewesen, da seine Tätigkeit vom 1. Mai 1958 an versicherungsfrei war. Doch müsse diese Vorschrift im Wege einer ergänzenden oder berichtigenden Rechtsbildung angewandt werden. Der Kläger habe für seine Nichtmeldung am 2. November 1959 einen wichtigen Grund (Krankheit und Pflegebedürftigkeit seiner Frau) nachgewiesen und sich am 1. November wegen des Sonntags nicht arbeitslos melden können. Deshalb laufe die zweijährige Rahmenfrist vom 1. November 1959 bis zum 31. Oktober 1959, wie sich aus den Gedanken der grundsätzlichen Entscheidung Nr. 5200 des Reichsversicherungsamts (AN 1938 S. 210) ergebe. Innerhalb dieser Rahmenfrist aber habe der Kläger volle sechs Monate in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis gestanden. Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte Revision ein und rügt Verletzung der §§ 85 und 87 AVAVG: Bei der Neufassung des AVAVG am 23. Dezember 1956 habe der Gesetzgeber bewußt nur im Falle des § 92 Abs. 1 Satz 3 eine Vorverlegung des Wartezeitbeginns angeordnet. Eine weitergehende Anwendung auch bei der Berechnung der Rahmenfrist nach § 85 Abs. 2 AVAVG habe er gerade nicht gewollt; sonst hätte er dies wie in § 92 auch bei § 85 berücksichtigt. Es fehle daher an einer Gesetzeslücke, so daß für eine ergänzende oder berichtigende Gesetzesauslegung kein Raum sei. Die Rahmenfrist dürfe vielmehr erst vom Tage der tatsächlichen Arbeitslosmeldung aus berechnet werden. Überdies liege eine wirksame Arbeitslosmeldung nach § 85 Abs. 2 AVAVG nur vor, wenn zu ihrem Zeitpunkt alle Voraussetzungen des § 74 AVAVG erfüllt seien, also auch die in § 76 AVAVG geforderte Verfügbarkeit für die Arbeitsvermittlung. Vor dem 3. November 1959 sei der Kläger jedoch durch die Pflege seiner Frau gehindert gewesen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen LSG vom 19. September 1962 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Frankfurt/M. vom 25. Juli 1961 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet. Dem Kläger steht Alg nicht zu.
Nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 AVAVG hätte der Kläger nur dann einen Anspruch auf Alg für achtundsiebzig Tage, wenn er innerhalb der Rahmenfrist mindestens sechsundzwanzig Wochen oder sechs Monate in einer versicherungspflichtigen Beschäftigung gestanden hätte. Die Rahmenfrist beträgt nach § 85 Abs. 2 AVAVG zwei Jahre. Sie geht dem Tage der Arbeitslosmeldung unmittelbar voraus, an dem die sonstigen Voraussetzungen für den Anspruch auf Arbeitslosengeld erfüllt sind. Legt man die tatsächliche Arbeitslosmeldung am 3. November 1959 zugrunde, so war der Kläger innerhalb der Rahmenfrist vom 3. November 1957 bis zum 2. November 1959 nur vom 3. November 1957 bis zum 30. April 1958, also weniger als 26 Wochen oder 6 Monate versicherungspflichtig beschäftigt; es fehlen 2 Tage. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt also davon ab, ob die Arbeitslosmeldung etwa als bereits am 1. November 1959 erfolgt gelten kann.
Dem LSG ist insoweit beizupflichten, als es für unschädlich ansieht, daß sich der Kläger nicht an dem 1. November meldete. Denn dieser Tag war ein Sonntag, und an einem solchen sind die Dienststellen der beklagten Bundesanstalt geschlossen, ein in der Organisation der Arbeitsverwaltung begründeter Umstand, der dem Kläger nicht zum Nachteil gereichen darf. Hier muß der Grundgedanke des § 92 Abs. 1 Satz 2 AVAVG platz greifen, wonach die Wartezeit schon an einem Sonn- oder Feiertag beginnt, wenn dieser der erste Tag der Arbeitslosigkeit ist und der Arbeitslose sich am folgenden Werktag arbeitslos meldet.
Anders steht es dagegen mit dem 2. November, einem Werktage, an dem das Arbeitsamt geöffnet war. Wenn der Kläger sich trotzdem nicht arbeitslos meldete, so ist ihm das zur Last zu legen, zumal der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. April 1957 die Meldung nicht mehr wie bisher als ein nur formelles Erfordernis betrachtet, sondern sie als eine materielle Voraussetzung des Anspruchs auf Alg eingeführt hat. Zu ihrem Zeitpunkt müssen zugleich alle sonstigen Voraussetzungen des Anspruchs erfüllt sein, damit die Rahmenfrist von diesem Tage aus berechnet werden darf (§ 85 Abs. 2 AVAVG). Es kann für die Entscheidung dahinstehen, ob unter besonders schwierigen Verhältnissen eine verspätete Arbeitslosmeldung für die Bemessung der Rahmenfrist unschädlich ist, so z. B. wenn jemand bei einem Verkehrsunfall zur Hilfeleistung oder zur Vermeidung von Fahrerflucht (§§ 142, 330 c des Strafgesetzbuches) an Ort und Stelle bleiben und deshalb die beabsichtigte Arbeitslosmeldung versäumen mußte oder wenn er infolge schwerer Erkrankung bezw. plötzlichen Todesfalles in seiner Familie an dem Tage überhaupt keine Möglichkeit zu der Meldung hatte. Ein solcher Sonderfall liegt hier aber nicht vor. Nach den Feststellungen des LSG, die sich auf die Aussage des behandelnden Arztes stützen, war die Frau des Klägers schon einige Zeit krank. Er hätte also Gelegenheit gehabt, für einige Stunden des 2. November eine andere Betreuung zu beschaffen, insbesondere nachdem ein Sonntag vorausging. Die Krankheit der Frau könnte höchstens dann als ein unabwendbares Ereignis oder außergewöhnliches Hindernis anerkannt werden, wenn der Kläger alles Zumutbare getan hätte, um seine Arbeitslosmeldung an dem 2. November zu bewirken. Das ist nach dem Sachverhalt jedoch nicht der Fall. Hinzukommt schließlich, daß der Kläger infolge der Pflege seiner Frau an dem 2. November auch keine Arbeitnehmerbeschäftigung hätte aufnehmen können und deshalb der Arbeitsvermittlung nicht zur Verfügung stand (§ 76 AVAVG). An diesem Tage waren also nicht alle Voraussetzungen für den Anspruch auf Alg erfüllt, wie dies § 85 Abs. 2 AVAVG ausdrücklich erfordert.
Weil somit der Kläger innerhalb der Rahmenfrist vom 3. November 1957 bis zum 2. November 1959 keine vollen 26 Wochen oder sechs Monate in einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stand, hat er keinen Anspruch auf Alg. Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen