Leitsatz (redaktionell)

Genaue Ermittlungen werden erst dann angezeigt sein, wenn zu befürchten ist, daß das vom GrS angegebene Maß erreicht werden könnte (Verhältniszahl 75:100).

 

Normenkette

RVO § 1247 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. September 1970 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der Kläger - 1919 geboren - ist ungelernter Arbeiter. Bei einem Arbeitsunfall im Jahre 1963 erlitt er einen Oberschenkelhalsbruch. Er bezieht wegen einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 40 v. H. eine Verletztenrente aus der Unfallversicherung. Seine Erwerbsfähigkeit ist vornehmlich wegen rechtsseitiger Hüftgelenksversteifung und eingeschränkter Bewegungs- und Belastungsfähigkeit des rechten - verkürzten - Beines herabgesetzt. Auch die Lendenwirbelsäule hat bei starker Verspannung der Muskeln an Beweglichkeit eingebüßt. Arbeitsfunktionen vermag der Kläger nur noch im Sitzen auszuüben, und zwar ohne Sitzhilfe bis zu vier Stunden täglich, bei Benutzung eines auf der rechten Seite ausgeschnittenen und mit angepaßter Rückenlehne versehenen Spezialstuhles ganztägig.

Den Antrag auf Rente wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 16. November 1967). Sie hält den Kläger noch nicht für berufsunfähig. Er vermöge noch mindestens einer Halbtagsarbeit nachzugehen. Wenn er an seinem Wohnort keine Anstellung finden sollte, könne ihm ein Wohnortwechsel oder - zur Überbrückung größerer Entfernungen - die Benutzung des eigenen PKW angesonnen werden. Der Besitz eines eigenen Hauses in industriell weniger aufgeschlossener Gegend könne bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit nach dem Recht der Rentenversicherung nicht berücksichtigt werden.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat dagegen die Beklagte zur Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit verurteilt (Urteil vom 28. September 1970). Es geht davon aus, daß es auf dem allgemeinen Arbeitsfeld keine Arbeitsplätze gebe, auf denen der Kläger noch mehr als geringfügige Einkünfte erzielen könnte. Das folge daraus, daß er mehr als eine Halbtagstätigkeit nur unter Bedingungen verrichten könne, die von den betriebsüblichen abwichen. Er habe infolgedessen mit den gleichen Anstellungsschwierigkeiten wie jemand zu rechnen, dessen Leistungsvermögen nur noch zu Teilzeitarbeiten ausreiche. An seinem Wohnort habe der Kläger in Industriebetrieben nicht untergebracht werden können. Ob sich andernorts geeignete - und gar offene - Arbeitsplätze böten, brauche nicht untersucht zu werden; denn "selbst von der weitestgehenden Umfrage" könne man sich "keinen Überblick über das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Arbeitsuchenden zu betriebsunüblichen Bedingungen, wie sie der Kläger anzubieten habe, und eventuell vorhandenen Arbeitsplätzen" versprechen. Auch die Bundesanstalt für Arbeit (BA) sei nicht imstande, vollständige Auskünfte zu geben. Wenn deshalb dem Versicherten kein offener Arbeitsplatz angeboten werden könne, sei in der Regel davon auszugehen, daß er von der Teilnahme am Erwerbsleben ausgeschlossen sei. Das bedeute aber nicht nur seine Berufsunfähigkeit, sondern auch seine Erwerbsunfähigkeit. Dem stehe nicht entgegen, daß der Kläger in den Sommermonaten der letzten beiden Jahre im Schwimmbad seines Wohnorts als Kassierer beschäftigt gewesen sei. Dort habe er, wenn man seine Einkünfte von vier Monaten auf das ganze Jahr umlege, ein monatliches Durchschnittseinkommen von 115,- bis 120,- DM erzielt. Mit diesem Einkommen habe er den Satz nicht überschritten, der die Annahme einer versicherungsfreien Nebenbeschäftigung rechtfertige. Ein solches Arbeitsentgelt sei geringfügig.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt, das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen. Sie meint, das dem Kläger verbliebene Leistungsvermögen schließe die Annahme einer Berufsunfähigkeit aus. Er falle unter die Gruppe derjenigen Versicherten, die noch halb- bis vollschichtig zu arbeiten vermöchten. Deshalb sei er auf das Arbeitsfeld der Bundesrepublik zu verweisen. Die Einschränkung auf eine sitzende Beschäftigung falle nicht ins Gewicht. Hinzu komme, daß der Kläger durch seine Erwerbsarbeit als Kassierer zu einem monatlichen Bruttolohn von 458,- DM mehr als nur geringfügig, nämlich mehr als ein Fünftel des durchschnittlichen Bruttotariflohnes eines Hilfsarbeiters, verdient habe. Er habe gezeigt, daß er vollschichtig einsatzfähig sei.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision ist begründet.

Das Berufungsgericht hat die Aussicht verneint, daß der Kläger seine Arbeitskraft noch nutzbringend verwerten könne. Für dieses Ergebnis hat ihm die Auskunft der örtlichen Arbeitsverwaltung genügt, daß am Wohnort des Klägers keine - seinem Leistungsvermögen angepaßte - Arbeitsplätze zu erhalten seien. Dabei hat es das Berufungsgericht bewenden lassen, obgleich sich bereits im engeren Wohnortbezirk des Klägers sowohl bei dem früheren Arbeitgeber als auch bei einer anderen Stelle Ansatzpunkte für eine Arbeitsvermittlung geboten hatten. Die Gründe und die Motive für das Scheitern der Bemühungen um eine Wiedereingliederung des Klägers in das Arbeitsleben hat das Berufungsgericht nicht näher untersucht. Es hat es sogar für möglich gehalten, daß "es in weiter entfernten Bereichen für den Kläger geeignete Arbeitsplätze" gibt. Von einer Nachforschung in dieser Richtung hat es aber abgesehen, weil es sich von dem Resultat solcher Beweiserhebung nicht die Erkenntnis versprach, daß eine für den Kläger in Betracht kommende Arbeitsnachfrage mehr als nur zufällig bestehe. Den Grad der dem Kläger verbliebenen Erwerbsfähigkeit hat das LSG aus der geringen Höhe des von ihm in den letzten Jahren effektiv erzielten Arbeitseinkommens gefolgert. Es hat sich dagegen nicht die Frage vorgelegt, welcher Schluß aus dieser Arbeitstätigkeit auf die Leistungsfähigkeit des Klägers zu ziehen sei, wiewohl es doch nach § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auf die Fähigkeit zum Erwerb ankommt.

Die angefochtene Entscheidung ist mit der ihr gegebenen Begründung nicht zu rechtfertigen. Das LSG wendet die Begriffe der Berufsunfähigkeit und der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der §§ 1246, 1247 RVO in der Weise an, die sich nicht mit der Grenze zwischen den von der Arbeitslosenversicherung einerseits und der Rentenversicherung andererseits zu tragenden Risiken vereinbaren läßt (dazu BSG 30, 167, 183). Für die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit ist es nicht erheblich, daß Arbeitsplätze, die der Versicherte noch ausfüllen kann, frei oder besetzt sind (Entscheidungssatz Nr. 1 des Beschlusses des Großen Senats des Bundessozialgerichts vom 11. Dezember 1969 in BSG 30, 167). Darauf läuft aber die Entscheidung des Berufungsgerichts hinaus. Außerdem ist es für einen Versicherten, der - wie der Kläger - noch wenigstens "halbschichtig tätig sein" kann, nicht allein wichtig, ob für ihn Arbeitsplätze an seinem Wohnort oder in dessen näherer Umgebung vorhanden sind (Entscheidungssatz Nr. 5 aaO; BSG 21, 257). Das LSG verkennt die Bedeutung, die in dem Satz Nr. 4 der Entscheidung des Großen Senats liegt, nämlich daß dem Versicherten der Arbeitsmarkt erst dann praktisch verschlossen ist, wenn das Verhältnis der für ihn in Betracht kommenden Arbeitsstellen zur Zahl der Interessenten ungünstiger als 75:100 ist. Bei diesem Verhältnis ist stets mit einer übernormalen Arbeitslosigkeitsquote zu rechnen. Das angegebene Mindestverhältnis wird häufig nicht erreicht, geschweige denn unterschritten. Genaue Ermittlungen werden deshalb erst dann angezeigt sein, wenn zu befürchten ist, daß das von dem Großen Senat angegebene Maß erreicht werden könnte (BSG SozR Nr. 89 zu RVO § 1246). Für eine solche Befürchtung geben der mitgeteilte Sachverhalt und das Ergebnis der Verhandlung keinen Anlaß. Das LSG hätte deshalb eher zu einem gegenteiligen Schluß gelangen können. Wenn das Berufungsgericht jedoch nicht über die nötige Anschauung zur Beurteilung der einschlägigen Situation verfügte, hätte es Beweise erheben müssen. Dazu mußte es sich durch die Überlegungen des Großen Senats des Bundessozialgerichts (BSG) angehalten fühlen. Was dort im Entscheidungssatz Nr. 6 (BSG 30, 167) in bezug auf das Bestehen von Teilzeitarbeitsplätzen erklärt worden ist, nämlich daß es nicht allgemein zulässig sei, die Ermittlungen auf Anfragen an die Arbeitsverwaltung zu beschränken, gilt auch sonst. Zu Art und Umfang anzustellender Nachforschungen wird vom Großen Senat (S. 182) ausgeführt, daß die Sachaufklärung nicht wegen erheblicher Schwierigkeiten und zu erwartenden großen Zeitaufwandes unterbleiben dürfe.

Bei dem gegenwärtigen Sachstand vermag der Senat nicht in der Sache abschließend zu entscheiden. Noch notwendige Ermittlungen und die Kostenentscheidung bleiben dem LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649345

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