Entscheidungsstichwort (Thema)

Verhinderung der Rückkehr in die Heimat vor dem 14. Lebensjahr

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Zeit, in welcher der Versicherte vor Vollendung seines 14. Lebensjahres während des Krieges durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr in seine Heimat gehindert worden war, ist nicht als Ersatzzeit anzurechnen.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. März 1970 und die Urteile des Sozialgerichts Kassel vom 30. April 1968 und 11. September 1968 werden aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Versicherte - Ehemann und Vater der Kläger - die Wartezeit in der gesetzlichen Rentenversicherung erfüllt hat. Er war am 5. April 1931 geboren worden. Im Alter von 13 Jahren, und zwar im Januar 1945 wurde er aus Berlin nach Ostpreußen evakuiert. Dort geriet er noch im selben Monat in russische und später in polnische Internierung. Erst Mitte Oktober 1946 kehrte er nach B zurück. 1957 ist er verstorben.

Den Antrag der Kläger auf Bewilligung der Witwen- und Waisenrente lehnte die Beklagte ab (Bescheide vom 31. Juli 1967). Sie ging von einer Beitragszeit von 38 Monaten aus - das Landessozialgericht (LSG) hat statt dessen eine solche von 39 Monaten festgestellt -. Ferner hielt sie eine Ersatzzeit von April 1945 bis Oktober 1946, also von 19 Monaten, für gegeben (§ 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Dagegen bewertete sie die Zeit, in welcher der Versicherte noch vor Vollendung seines 14. Lebensjahres in fremdem Gewahrsam gehalten worden war, nicht als Ersatzzeit.

Der Klage haben Sozialgericht (SG) und LSG stattgegeben (Urteile des SG Kassel vom 30. April und 11. September 1968; Urteil des Hessischen LSG vom 5. März 1970), das LSG aus dem Grunde, daß der Versicherte eine Ersatzzeit schon mit 13 Lebensjahren und damit bereits von Januar 1945 an habe zurücklegen können. Für die Verwirklichung des Ersatzzeittatbestandes genüge seine Versicherungsfähigkeit.

Diese sei nicht auszuschließen, weil der Versicherte nach damaligem Recht (§ 1243 RVO aF) freiwillig habe versichert werden können. Für die Selbstversicherung sei ein Mindestalter nicht vorgeschrieben gewesen. Mit der zusätzlich gutzubringenden Ersatzzeit werde die geforderte Mindestversicherungszeit erreicht.

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Klage abzuweisen. Sie hält es rechtlich für unvertretbar, daß eine entfernte - nur theoretisch bestehende - Versicherungsmöglichkeit zur Grundlage einer Ersatzzeitgutschrift erhoben wird. Ferner wendet sie gegen ihre Verurteilung zur Leistung den Mangel der Passivlegitimation ein. Sie trägt vor, schon früher darauf aufmerksam gemacht zu haben, daß sowohl im Rentenantrag als auch in der Sterbeurkunde der Versicherte als kaufmännischer Angestellter bezeichnet worden sei.

Im Verwaltungsverfahren sei vorgetragen worden, er sei als "Angestellter in der Paketausgabe und im Büro beschäftigt gewesen. Demgemäß sei, so meint die Beklagte, nicht sie, sondern die Bundesversicherungsanstalt für Angestellt (BfA) der zuständige Versicherungsträger (§ 1311 RVO).

Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.

Die Revision hat Erfolg.

Der Beklagten ist nicht darin beizupflichten, daß die Rentenansprüche sich nicht gegen sie, sondern gegen die BfA richteten. Das Berufungsgericht ist ebenso wie vorher die Beklagte selbst und - bei Gelegenheit früherer Rentenfeststellungsverfahren - auch die Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin davon ausgegangen, daß der letzte Beitrag zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet worden und demgemäß ein Träger dieses Versicherungszweigs zur Feststellung der Leistung zuständig sei (§ 1311 Abs. 1 Satz 1 RVO). Nach der Art der Umstände, unter denen der Versicherte beschäftigt gewesen war, erschien die Ansicht, daß er in einem Arbeiterverhältnis gestanden hatte, ohne weiteres einleuchtend. Der Versicherte hatte zwar in einem Lebenslauf einmal angegeben, er sei Angestellter gewesen. Offen ist aber geblieben, ob ihm dabei die versicherungsrechtliche Bedeutung des Begriffs Angestellter bewußt war und ob er überhaupt an seine letzte Berufsstellung gedacht hatte. In einer anderen ebenfalls von ihm - gegenüber dem Bezirksbürgermeister in B - abgegebenen Erklärung bezeichnete er sich als Lagerarbeiter. Die übrigen in den Akten befindlichen Hinweise auf die Zugehörigkeit des Klägers zur Gruppe der Angestellten stammen von seiner Ehefrau. Daß diese Hinweise einen zuverlässigen Anhalt geben könnten, ist nicht zu erkennen. Verheiratet war der Versicherte erst seit 1955. Die letzte Berufsarbeit hatte er aber bereits 1951 aufgegeben. Es ist nicht dargetan, daß die Ehefrau aus eigener Kenntnis über das Berufsleben des Versicherten zu bekunden vermochte. Bei dieser Sachlage mußte das LSG nicht - entgegen dem Erscheinungsbild, wie es sich nach der Lebensgeschichte des Versicherten darbot - an die Möglichkeit einer Angestellteneigenschaft des Versicherten denken und in dieser Richtung Nachforschungen anstellen. Hinzu kommt, daß die Beklagte es bei ihrer Aufklärungsrüge auch an der Mitteilung konkreter Beweisquellen und Beweismittel fehlen läßt. Diese Angaben sind aber wesentlicher Bestandteil für einen vollständigen, die tatsächlichen Feststellungen im Berufungsurteil erschütternden Revisionsangriff.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist das Berufungsurteil nicht aufrecht zu erhalten. Die Zeit, in welcher der Versicherte vor Vollendung seines 14. Lebensjahres während des Krieges durch feindliche Maßnahmen an der Rückkehr in seine Heimat gehindert worden war, ist nicht als Ersatzzeit (§ 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO) anzurechnen (dazu: BSG SozR Nr. 44 zu § 1251 RVO). Im Alter von 13 Jahren war der Versicherte noch volksschulpflichtig (§ 2 Abs. 1, § 4 Abs. 1 des Reichsschulpflichtgesetzes vom 6. Juli 1938). Nach dem im Jahre 1945, also während des hier zu beurteilenden Geschehens geltenden Jugendschutzrecht (§ 1 Abs. 2 § 4 Abs. 1, § 5 Abs. 2 und 3 Jugendschutzgesetz vom 30. April 1938), durfte ein Kind vor Vollendung des 12. Lebensjahres überhaupt nicht, vor der Vollendung des 14. Lebensjahres nur ausnahmsweise - und dies zudem sehr selten versicherungspflichtig - beschäftigt werden. Diese entfernte Möglichkeit rechtfertigt nicht die Feststellung einer Ersatzzeit. Den Ersatzzeiten liegen Aufopferungstatbestände zugrunde; sie sind im Gesetz stark verkürzt dargestellt. Nach dem Wortlaut kommt es nicht auf den Nachweis oder die Wahrscheinlichkeit eines Nachteils im Einzelfall an. Werden schon hierdurch in die Ersatzzeitenregelung Sachverhalte einbezogen, die außerhalb des Zwecks des Gesetzes - Ausgleich für verhinderte Beitragsentrichtung - liegen, so ist es geboten, die Gesetzesanwendung auf den Normalfall zu beschränken. Auf Ausnahmefälle - nämlich die der Kinderarbeit - hat der Gesetzgeber auch bei ähnlichen Pauschalregelungen keine Rücksicht genommen (vgl. § 8 Abs. 2 der Verordnung über die Feststellung von Leistungen aus den gesetzlichen Rentenversicherungen bei verlorengegangenen, zerstörten, unbrauchbar gewordenen oder nicht erreichbaren Versicherungsunterlagen, § 16 des Fremdrentengesetzes).

Die Selbstversicherung (§ 1243 RVO aF), die dem Kläger in den Jahren 1945 und 1946 theoretisch möglich gewesen wäre, muß außer Betracht bleiben, weil sie für Kinder und Jugendliche ebenfalls einen extrem seltenen Ausnahmefall darstellte.

Hiernach sind die angefochtenen Urteile aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649596

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