Entscheidungsstichwort (Thema)
Nebentätigkeit und Arbeitslosigkeit
Orientierungssatz
Arbeitnehmer, die erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit eine selbständige Nebentätigkeit aufnehmen, sind rechtlich nicht anders zu behandeln wie solche, die schon vor Verlust der unselbständigen Beschäftigung nebenher selbständig waren. In derartigen Fällen sind die Grundgedanken des § 75 Abs 3 Satz 2 AVAVG anzuwenden, daß solche Personen als arbeitslos gelten, wenn sie kein über die Grenzen des § 66 Abs 2 AVAVG (65 DM monatlich oder 15 DM wöchentlich) hinausgehendes Einkommen erzielen, der Umfang ihrer Tätigkeit wöchentlich 18 Stunden nicht überschreitet und den Gesamtumständen nach angenommen werden kann, daß sie auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig sein wollen. Dabei kommt es nur auf den Umfang der eigenen Tätigkeit an, nicht auch auf diejenige von etwa mithelfenden Familienangehörigen, und maßgebend ist die Tätigkeitsdauer im Jahresdurchschnitt. Ebenso muß das Einkommen (Nettoertrag) von dem Arbeitslosen selber durch seine Nebentätigkeit erzielt sein. Arbeiten Familienangehörige mit, so ist, wenn sie dafür Entgelt erhalten, dieses bereits bei der Berechnung des Ertrages abzusetzen. Wird nichts vergütet, so mindert sich, sofern die Mitarbeit nennenswert ist, das zu berücksichtigende Nettoeinkommen des Arbeitslosen entsprechend. Auch hier ist das durchschnittliche Jahreseinkommen zugrunde zu legen (vgl BSG 1963-01-25 7 RAr 20/62 = BSGE 18, 222).
Normenkette
AVAVG § 75 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1957-04-03, § 66 Abs. 2 Fassung: 1957-04-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 21.02.1962) |
SG Landshut (Entscheidung vom 26.02.1960) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1962 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der 1930 geborene Kläger war von 1947 an mit Unterbrechungen als Säger, Hilfsarbeiter und Kraftfahrer beschäftigt und wohnte im Hause seiner Eltern. Diesen gehörte ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb von 2,63 ha mit einem Einheitswert von 1.750,- DM, der in der Hauptsache von der Mutter des Klägers und seiner Ehefrau bewirtschaftet wurde. Das Haus wurde am 24. Juni 1957 durch einen Wirbelsturm zerstört und mußte geräumt werden. Am 28. Juni 1957 endete infolge Kündigung durch den Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis des Klägers. Er meldete sich am 1. Juli 1957 beim Arbeitsamt und beantragte Arbeitslosengeld (Alg). Gleichzeitig bat er um die Genehmigung, am Wiederaufbau seines elterlichen Anwesens mitarbeiten zu dürfen. Das Arbeitsamt bewilligte ihm ab 1. Juli 1957 Alg für 156 Tage und gab ihm die Erlaubnis für die Dauer von 13 Wochen. Der Kläger bezog Alg bis 14. Oktober 1957.
Weil die Eltern des Klägers nicht in der Lage waren, das zerstörte Wohnhaus aus eigenen Kräften und Mitteln wiederaufzubauen, übergaben sie ihr Anwesen durch notariellen Vertrag am 30. Juli 1957 mit dem gesamten landwirtschaftlichen Besitz an den Kläger, der mit seiner Ehefrau in Gütergemeinschaft lebt. Zu dem übernommenen Inventar gehörten zwei Stück Großvieh, ein Schwein und etwa zehn Hühner. Nach Fertigstellung des Hauses bezog es der Kläger mit seiner Familie und seinen Eltern wieder. In der Zeit des Wiederaufbaus und während der Arbeitslosigkeit des Klägers verrichteten seine Eltern und seine Ehefrau die Arbeiten in der Landwirtschaft.
Nachdem der Kläger vom 15. Oktober 1957 bis zum 4. Januar 1958 wieder als Kraftfahrer gearbeitet und in seinem Antrag auf Weiterbewilligung von Alg auf die Übernahme des elterlichen Anwesens hingewiesen hatte, wurde ihm ab 6. Januar 1958 erneut Alg gewährt, das vom 30. Juli bis zum 14. Oktober 1957 gezahlte Alg in Höhe von 561,- DM jedoch entzogen und zurückgefordert, weil der Kläger mit Übernahme des elterlichen Anwesens gemäß § 75 Abs. 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) Selbständiger geworden und damit nicht mehr arbeitslos gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.
Auf Klage hob das Sozialgericht die Bescheide der Beklagten auf. Ihre Berufung wies das Landessozialgericht (LSG) zurück: Als Selbständige im Sinne des § 75 Abs. 3 AVAVG könnten nur solche Personen angesehen werden, deren wirtschaftliche Existenz durch die selbständige Tätigkeit wenigstens überwiegend gewährleistet werde; dies sei beim Kläger nicht der Fall. Revision wurde zugelassen.
Die Beklagte legte gegen das am 26. April 1962 zugestellte Urteil am 22. Mai 1962 Revision ein und begründete diese am 22. Juni 1962. Sie rügt einen Verstoß gegen § 75 AVAVG und trägt vor, eine erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit aufgenommene Tätigkeit, selbst wenn sie die in § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG gesetzten Grenzen nicht überschreite, schließe die Arbeitslosigkeit dann aus, wenn sie von einem Selbständigen ausgeübt werde. Ein solcher sei der Kläger mit Übernahme des landwirtschaftlichen Anwesens geworden, weil für ihn die Möglichkeit bestand, daraus berufsmäßig Einnahmen zu erzielen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sei es unerheblich, in welcher Höhe Einnahmen tatsächlich erreicht würden und welchen Umfang die aufgewandte Tätigkeit habe. Zu den Einnahmen zählten auch die Produkte, die der Inhaber einer Landwirtschaft erzeuge und für sich selbst verbrauche.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 1962 und des Sozialgerichts Landshut vom 26. Februar 1960 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist nicht vertreten gewesen.
II.
Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthafte Revision ist zulässig und begründet.
Wie der Senat in seinem Urteil 7 RAr 25/61 vom gleichen Tage mit näherer Begründung ausgeführt hat, sind Arbeitnehmer, die erst nach Eintritt der Arbeitslosigkeit eine selbständige Nebentätigkeit aufnehmen, rechtlich nicht anders zu behandeln wie solche, die schon vor Verlust der unselbständigen Beschäftigung nebenher selbständig waren. In derartigen Fällen sind die Grundgedanken des § 75 Abs. 3 Satz 2 AVAVG anzuwenden, daß solche Personen als arbeitslos gelten, wenn sie kein über die Grenzen des § 66 Abs. 2 AVAVG (65 DM monatlich oder 15 DM wöchentlich) hinausgehendes Einkommen erzielen, der Umfang ihrer Tätigkeit wöchentlich 18 Stunden nicht überschreitet und den Gesamtumständen nach angenommen werden kann, daß sie auch künftig berufsmäßig in der Hauptsache als Arbeitnehmer tätig sein wollen. Dabei kommt es nur auf den Umfang der eigenen Tätigkeit an, nicht auch auf diejenige von etwa mithelfenden Familienangehörigen, und maßgebend ist die Tätigkeitsdauer im Jahresdurchschnitt. Ebenso muß das Einkommen (Nettoertrag) von dem Arbeitslosen selber durch seine Nebentätigkeit erzielt sein. Arbeiten Familienangehörige mit, so ist, wenn sie dafür Entgelt erhalten, dieses bereits bei der Berechnung des Ertrages abzusetzen. Wird nichts vergütet, so mindert sich, sofern die Mitarbeit nennenswert ist, das zu berücksichtigende Nettoeinkommen des Arbeitslosen entsprechend. Auch hier ist das durchschnittliche Jahreseinkommen zugrunde zu legen. (Urteil des Senats vom 25.1.1963 - 7 RAr 20/60).
Im vorliegenden Falle fehlen Feststellungen darüber, ob der Kläger bei seiner Nebentätigkeit die genannten Grenzen überschritten hat. Das Urteil des LSG muß daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 und 4 SGG).
Dem LSG bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens überlassen.
Fundstellen