Entscheidungsstichwort (Thema)
Mißglückter Arbeitsversuch
Leitsatz (amtlich)
Bei der Frage, ob ein mißglückter Arbeitsversuch vorliegt, darf eine Beschäftigung hinsichtlich ihrer Dauer dann nicht isoliert betrachtet werden, wenn sie sich - ohne wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse - an ein der Art nach gleichgelagertes vorangegangenes versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis anschließt. Dabei hat sich eine Beschäftigung auch dann an ein vorangegangenes Beschäftigungsverhältnis angeschlossen, wenn die seit Beendigung abgelaufene Zeit - etwa wegen des "Heimaturlaubs" eines Gastarbeiters - den Umständen nach angemessen ist (Ergänzung zu BSG 1978-12-19 3 RK 82/76).
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein mißglückter Arbeitsversuch liegt nur dann vor, wenn objektiv feststeht, daß der Beschäftigte bei Aufnahme der Arbeit zu ihrer Verrichtung nicht fähig war oder die Arbeit nur unter schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit - etwa unter Gefahr einer weiteren Verschlimmerung seines Leidens würde verrichten können, und wenn er die Arbeit entsprechend der darauf zu gründenden Erwartung vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit aufgegeben hat.
2. Bei einem Gastarbeiter, der nach einer sechseinhalbmonatigen Beschäftigung entlassen wird und im Anschluß an seine Entlassung einen siebenwöchigen Heimaturlaub antritt, nach dessen Beendigung die früher ausgeübte Beschäftigung beim gleichen Arbeitgeber wieder aufnimmt, nach einer zweiwöchigen Tätigkeit jedoch arbeitsunfähig erkrankt und stationär behandelt werden muß, kann kein mißglückter Arbeitsversuch angenommen werden, weil die Beschäftigung vor dem Heimaturlaub und danach als eine Einheit anzusehen ist.
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1945-03-17, § 206 Fassung: 1924-12-15, § 306 Abs. 1 Fassung: 1956-06-12
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 12.01.1978; Aktenzeichen L 5 K 22/77) |
SG Speyer (Entscheidung vom 18.05.1977; Aktenzeichen S 12 K 3/76) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 12. Januar 1978 und des Sozialgerichts Speyer vom 18. Mai 1977 sowie der Bescheid der Beklagten vom 4. September 1975 und der Widerspruchsbescheid vom 15. Dezember 1975 aufgehoben.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 21. April bis 24. August 1975 Krankengeld zu zahlen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung von Krankengeld.
Der Kläger, ein türkischer Gastarbeiter, war vom 1. August 1974 bis 18. Februar 1975 bei einem Transportunternehmen als Müllader versicherungspflichtig beschäftigt. Dann trat er - nachdem sein Arbeitgeber ihm gekündigt und er dem nicht widersprochen hatte - einen siebenwöchigen "Heimaturlaub" an. Nach seiner Rückkehr aus der Türkei nahm er am 8. April 1975 seine Tätigkeit bei seinem früheren Arbeitgeber wieder auf. Am 21. April 1975 kam er in stationäre Behandlung; Diagnose: Lumbalsyndrom mit ischialgieformen Wurzelreizerscheinungen als Zustand nach einem alten Deckplatteneinbruch am ersten Lendenwirbelkörper. Mit Bescheid vom 4. September 1975 lehnte es die Beklagte ab, ihm für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit (21. April bis 24. August 1975) Leistungen zu gewähren: Ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis sei mit der erneuten Arbeitsaufnahme nicht entstanden; es habe sich lediglich um einen mißglückten Arbeitsversuch gehandelt.
Im Widerspruchsverfahren zog die Beklagte eine gutachtliche Stellungnahme des Krankenhauses bei, in dem der Kläger ab 21. April 1975 stationär behandelt worden war. Darin heißt es: Der Deckplatteneinbruch sei auf ein länger als ein Jahr zurückliegendes Unfallgeschehen zurückzuführen; rückschauend sei festzustellen, daß der Kläger im April 1975 für die Tätigkeit als Müllader nicht geeignet gewesen sei.
Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt: In der erneuten Arbeitsaufnahme sei ein mißglückter Arbeitsversuch zu sehen, der die Versicherungspflicht des Klägers und auch die Leistungspflicht der Beklagten ausschließe. Bei der Arbeitsaufnahme am 8. April 1975 habe es sich um ein neues Arbeitsverhältnis gehandelt. Ob der Kläger bis zu der am 21. April 1975 erfolgten Aufgabe seiner Tätigkeit ihrem Umfang nach Arbeit von wirtschaftlichem Wert geleistet habe, könne dahinstehen. Maßgebend sei allein, daß noch keine wirtschaftlich ins Gewicht fallende Zeit verstrichen gewesen sei, als er diese Tätigkeit nach neun Arbeitstagen wieder habe aufgeben müssen. Auch stehe aufgrund der von der Beklagten eingeholten ärztlichen Stellungnahme fest, daß er von Anfang an arbeitsunfähig gewesen sei; denn objektiv sei von vornherein zu erwarten gewesen, daß er die Arbeit nach kürzester Zeit wegen Krankheit werde wieder aufgeben müssen.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt der Kläger Verletzung materiellen Rechts. Er meint, von einem mißglückten Arbeitsversuch könne hier deshalb nicht gesprochen werden, weil er trotz seines Gesundheitsschadens die Tätigkeit als Müllader bei demselben Arbeitgeber in einem vorangegangenen Beschäftigungsverhältnis längere Zeit ununterbrochen verrichtet habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile der Vorinstanzen sowie die ihnen zugrunde liegenden Verwaltungsbescheide aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 21. April bis 24. August 1975 Krankengeld zu zahlen;
hilfsweise den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beigeladene stellt keine Anträge.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 21. April bis 24. August 1975 Krankengeld zu zahlen.
Für die Frage der Mitgliedschaft des Klägers (§ 306 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) und damit auch der Leistungspflicht der Beklagten (§ 206 RVO) ist hier entscheidend, ob der Kläger am 8. April 1975 eine versicherungspflichtige Beschäftigung iS von § 165 Abs 1 Nr 1, Abs 2 RVO ausgeübt hat. Nach ständiger Rechtsprechung liegt eine versicherungspflichtige Beschäftigung vor, wenn der Arbeitnehmer in persönlicher Abhängigkeit gegen Entgelt beschäftigt wird (vgl BSGE 13, 130, 132; 16, 289, 293; zur abhängigen Beschäftigung zuletzt Urteil vom 13. Juli 1978 - 12 RK 14/78 - und vom 24. Oktober 1978 - 12 RK 58/76 - mwN). Daß das bei dem Kläger ab 8. April 1975 der Fall war, ist nicht zweifelhaft und auch unstreitig. Ob er an den folgenden neun Arbeitstagen die volle Arbeitsleistung einer vergleichbaren gesunden Arbeitskraft erbracht hat, kann dahinstehen; denn für die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses genügt es, daß der Arbeitnehmer überhaupt imstande ist, wirtschaftlich brauchbare Arbeit während einer nicht nur von vornherein eng begrenzten Zeit zu verrichten (BSG SozR Nr 44 zu § 165 RVO). Das war hier ebenso zweifellos und unstreitig der Fall.
Entgegen der von den Vorinstanzen gebilligten Auffassung der Beklagten hat es sich bei der am 8. April 1975 aufgenommenen Beschäftigung des Klägers nicht um einen sogenannten mißglückten Arbeitsversuch gehandelt. Wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 19. Dezember 1978 - 3 RK 82/76 - zur Veröffentlichung vorgesehen), liegt ein solcher nur vor, wenn objektiv feststeht, daß der Beschäftigte bei Aufnahme der Arbeit zu ihrer Verrichtung nicht fähig war oder die Arbeit nur unter schwerwiegender Gefährdung seiner Gesundheit - etwa unter der Gefahr einer weiteren Verschlimmerung seines Leidens - würde verrichten können, und wenn er die Arbeit entsprechend der darauf zu gründenden Erwartung vor Ablauf einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit aufgegeben hat. Von einem mißglückten Arbeitsversuch kann deshalb nicht gesprochen werden, wenn der Beschäftigte trotz der genannten ungünstigen Erwartung tatsächlich brauchbare Arbeit (BSG SozR Nr 44 zu § 165 RVO) über einen wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeitraum geleistet hat und deshalb nach den Umständen des Falles darauf vertrauen durfte, durch seine Beschäftigung einen Versicherungsschutz erworben zu haben (BSG SozR 2200 § 165 RVO Nr 2). Diese Voraussetzungen waren hier gegeben; denn bei der Frage, wann ein wirtschaftlich ins Gewicht fallender Zeitraum zu bejahen ist, darf eine Beschäftigung hinsichtlich ihrer Dauer dann nicht isoliert betrachtet werden, wenn sie sich - ohne wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse - an ein der Art nach gleichgelagertes vorangegangenes versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis anschließt. Auch das hat der Senat in seinem vorstehend genannten Urteil vom 19. Dezember 1978 bereits entschieden.
Bei der vom Kläger am 8. April 1975 aufgenommenen Beschäftigung handelte es sich unstreitig um dieselbe Beschäftigung, wie er sie bereits in der Zeit vom 1. August 1974 bis 18. Februar 1975, also sechs Monate und 18 Tage hindurch ununterbrochen und unbeanstandet ausgeübt hatte. Es bedarf im vorliegenden Rechtsstreit keiner generellen Entscheidung der Frage, welche Frist als äußerste Grenze für das Erfordernis einer wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeit anzunehmen ist; denn bei einer Beschäftigungsdauer von mehr als sechs Monaten liegt offensichtlich ein wirtschaftlich ins Gewicht fallender Zeitraum vor. Anhaltspunkte dafür, daß sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers seit Beginn dieses Zeitraumes wesentlich geändert hätten oder daß er damals keine brauchbare Arbeit geleistet habe, sind nicht gegeben; das Gegenteil wird auch von der Beklagten nicht behauptet. Auch hat sich die am 8. April 1975 vom Kläger aufgenommene Beschäftigung an sein vorangegangenes versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis angeschlossen; denn die seit dessen Beendigung abgelaufene Zeit von sieben Wochen ist bei einem Gastarbeiter, der "Heimaturlaub" macht, den Umständen nach angemessen und kann für den Kläger keine nachteilige Bedeutung gewinnen. Seine beiden Beschäftigungsverhältnisse sind deshalb hinsichtlich der Frage, ob ein wirtschaftlich ins Gewicht fallender Zeitraum vorliegt, als Einheit zu betrachten.
Nach alledem hat der Kläger für die Zeit vom 21. April bis 24. August 1975, während der er unstreitig arbeitsunfähig krank war, Anspruch auf Krankengeld (§§ 182, 183 RVO). Seine Revision muß deshalb Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Da die Beklagte dem Kläger die außergerichtlichen Kosten zu erstatten hat, bedarf es keiner besonderen Entscheidung über das Armenrechtsgesuch.
Fundstellen