Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 11.03.1957)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 11. März 1957 aufgehoben, soweit es die Berufung der Klägerin betrifft.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin, Inhaberin der Bekleidungswerke G.m.b.H. „N.”, beschäftigte in der Regel 300 Arbeitnehmer. Am 5. Dezember 1953 zeigte sie dem Arbeitsamt (ArbA.) Ingolstadt an, sie werde 106 Arbeitnehmer zum 18. Dezember 1953 wegen Arbeitsmangels entlassen. Unter diesen befänden sich 64, deren Arbeitsverhältnis bis zu diesem Tage befristet sei, den übrigen 42 Arbeitnehmern sei zum 18. Dezember 1953 gekündigt worden. Der Ausschuß für Kündigungsschutz bei Massenentlassungen (MEA.) beim Landesarbeitsamt (LArbA.) Südbayern stimmte am 12. Januar 1954 der Entlassung dieser 42 Arbeitnehmer rückwirkend zum 31. Dezember 1953 zu und wies am 11. Februar 1954 den Widerspruch der Klägerin zurück. Mit der Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung der Entscheidung des MEA. Da sie von 97 befristet eingestellten Arbeitnehmern 30 weiter beschäftigt habe, hätten sich die Entlassungen entsprechend vermindert und die für die Anzeige vorgeschriebene Mindestzahl habe nicht mehr vorgelegen. Das Sozialgericht (SG.) München wies die Klage durch Urteil vom 6. April 1955 ab. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG.) wies durch Urteil vom 11. März 1957 die Berufung der Klägerin zurück und verwarf gleichzeitig die Anschlußberufung der Beklagten. Es entschied: Die Klage auf Änderung der Entscheidung, die der MEA. nach § 16 Abs. 1 u. 2 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) getroffen habe, sei zu Recht gegen die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (BfArb.) gerichtet worden. Der MEA. sei nicht rechtsfähig; beteiligt am sozialgerichtlichen Verfahren sei daher die BfArb., der die Entscheidung des MEA. zuzurechnen sei. Zur Sache selbst führte das LSG. aus: Sofern sich unter den 42 entlassenen Arbeitnehmern, wie die Klägerin nachträglich angegeben habe, sieben Heimarbeiter und drei von vornherein nur bis Weihnachten eingestellte Arbeitnehmer befänden, sei die Zustimmung insoweit gegenstandslos, weil sich die Anzeigepflicht nach § 15 KSchG nicht auf Heimarbeiter und nicht auf Arbeitnehmer erstrecke, deren Beschäftigungsverhältnis nach dem Willen der Parteien durch Zeitablauf geendigt habe. Soweit zwei Arbeitnehmern schon am 15. und 20. Dezember – in Wirklichkeit ist es der November – 1953 gekündigt worden sei, sei die Zustimmung des LArbA. nicht entbehrlich, weil die Entlassungen in den Zeitraum von vier Wochen fielen. Auch wenn sieben Heimarbeiter und drei befristet eingestellte Arbeitnehmer auszunehmen seien, sei die Anzeige erforderlich gewesen, weil innerhalb von vier Wochen insgesamt mehr als 25 Arbeitnehmer entlassen worden seien. Sie sei auch nicht dadurch hinfällig geworden, daß die Klägerin 30 Arbeitnehmer, deren Beschäftigungsverhältnis am 15. Dezember 1953 durch Zeitablauf geendet habe, weiterbeschäftigt habe. Sinn und Zweck des Kündigungsschutzes bei Massenentlassungen ließen es nicht zu, Neueinstellungen oder die Fortsetzung von Beschäftigungsverhältnissen auf Entlassungen anzurechnen und die Anzeige nach § 15 KSchG nur für erforderlich zu halten, wenn die dafür vorgeschriebene Mindestzahl auch nach der Anrechnung noch erfüllt sei. Fehlerhaft sei auch nicht, daß die Zustimmung rückwirkend bis zum 31. Dezember 1953 und nicht, wie beantragt, zum 18. Dezember 1953 erteilt worden sei. Darüber habe der MEA. nach pflichtgemäßem Ermessen entscheiden dürfen. Er habe insoweit die Interessen der Beteiligten, das öffentliche Interesse und die Lage des Arbeitsmarktes abwägend berücksichtigt und die Grenzen seines Ermessens nicht überschritten. Das LSG. ließ die Revision zu. Das Urteil wurde der Klägerin am 13. Mai 1957 zugestellt.

Die Klägerin legte am 6. Juni 1957 Revision ein mit dem Antrag,

das Urteil des LSG., soweit es ihre Berufung betreffe, aufzuheben.

Sie begehrte die Aufhebung der Entscheidung des MEA. und machte geltend: Das LSG. habe die Anrechnung von Neueinstellungen auf Entlassungen zu Unrecht nicht für zulässig erachtet, zumal es sich hier um die Fortsetzung von Arbeitsverhältnissen mit Arbeitnehmern gehandelt habe, die im Betrieb bereits beschäftigt waren und die sonst, da ihre Beschäftigung bis zum 18. Dezember 1953 befristet gewesen sei, entlassen worden wären. Insoweit sei der Arbeitsmarkt entlastet Worden. Auch die Beklagte halte die Aufrechnung von Entlassungen und Neueinstellungen für zulässig. Nach ihrem Erlaß vom 24. Februar 1954 brauchen bei der Berechnung der Mindestzahl von Entlassungen, die anzuzeigen sind, diejenigen Entlassungen nicht mitgezählt zu werden, die innerhalb der betrieblichen Fluktuation vorgenommen worden sind; der Arbeitgeber könne also Entlassungen und Neueinstellungen von Arbeitnehmern für die gleichen Arbeitsplätze gegeneinander auf rechnen. Zulässig sei die Anrechnung nur dann nicht, wenn die Arbeitskräfte außerhalb der betrieblichen Fluktuation wechselten.

Die Beklagte beantragte,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise, die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.

Sie rügte, daß Klagen, welche Entscheidungen des MEA. beträfen, jedenfalls nicht gegen die BfArb. gerichtet werden könnten. Der MEA. sei kein Organ der BfArb. und deren Weisungen bei seinen Entscheidungen nicht unterworfen. Sachlich betreffe der Streit auch nicht die Frage, ob Entlassungen und Neueinstellungen von Arbeitnehmern für die gleichen Arbeitsplätze gegeneinander aufgerechnet werden könnten. Die Klägerin habe mit 30 Arbeitnehmern das bis zum 18. Dezember 1953 befristete Arbeitsverhältnis unbefristet fortgesetzt. Sie habe dadurch den Arbeitsmarkt nicht entlastet, sondern ihn lediglich nicht zusätzlich belastet.

Im Termin vom 25. Februar 1960 war die Klägerin nicht erschienen. Die Beklagte beantragte, gemäß § 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) nach Lage der Akten zu entscheiden.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat durfte nach Lage der Akten entscheiden, da die Voraussetzungen dafür vorlagen (§ 126 SGG).

Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und, da sie die Klägerin form- und fristgerecht eingelegt und begründet hat, zulässig. Die Revision ist auch begründet.

Das LSG. hat die BfArb. zu Recht als Beklagte angesehen. Die Klägerin hat mit der Klage die Aufhebung der Entscheidung des MEA. begehrt. Dieser Ausschuß hat insoweit als Verwaltungsbehörde einen Einzelfall auf dem Gebiet des zum öffentlichen Recht gehörenden Kündigungsschutzes bei Massenentlassungen geregelt und einen Verwaltungsakt erlassen. Die Klage auf dessen Aufhebung konnte aber hier nicht, wie in der Regel, gegen die Stelle, die ihn erlassen hat (BSG. 6 S. 180), in diesem Falle gegen den MEA., gerichtet werden, da dieser selbst nicht fähig ist, am sozialgerichtlichen Verfahren beteiligt zu sein und ihm diese Fähigkeit in Bayern auch nicht landesrechtlich verliehen ist (§ 70 Nr. 1 u. 3 SGG; BSG. 11 S. 14, 15). Fehlt dem MEA. diese Fähigkeit, so war die Klage gegen die BfArb. als Träger der Verwaltung zu richten, welcher der angefochtene Verwaltungsakt jedenfalls verfahrensrechtlich zuzurechnen ist (BSG. 7 S. 234 ff.; BSG. 11 S. 14, 15).

Zu Recht hat das LSG. die Voraussetzungen der Anzeigepflicht nach § 15 Abs. 1 Buchst. b KSchG bejaht. Nach dieser Vorschrift ist in Betrieben mit in der Regel mindestens 50 und weniger als 500 Arbeitnehmern der Arbeitgeber verpflichtet, dem ArbA. schriftlich Anzeige zu erstatten, bevor er 10 v.H. der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer innerhalb von vier Wochen entläßt. Nach den Feststellungen, von denen das Bundessozialgericht auszugehen hat (§ 163 SGG), hat die Klägerin in der Regel 300 Arbeitnehmer beschäftigt. Sie hat davon jedenfalls mehr als 25 Arbeitnehmer innerhalb von vier Wochen entlassen. Die Anzeigepflicht erstreckt sich auf Entlassungen der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer. Unter Entlassung ist die tatsächliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung des Arbeitgebers zu verstehen (Hueck, Kündigungsschutzgesetz, 3. Aufl. § 15 Anm. 4 und 5). Bei der Mindestzahl, von der die Anzeigepflicht abhängt, sind daher die Fälle, in denen das Arbeitsverhältnis durch Zeitablauf endet, nicht mitzurechnen. Heimarbeiter bleiben außer Betracht, weil sie nicht im Betrieb beschäftigt sind. Zwar würde sich danach die Zahl der Entlassungen, die anzuzeigen sind, vermindern, wenn die Anzeige, wie die Klägerin nachträglich behauptete, sieben Heimarbeiter und drei von vornherein nur bis Weihnachten eingestellte Arbeitnehmer umfaßte. Sie würde aber immer noch die Mindestzahl überschreiten, an die in diesem Fall die Anzeige geknüpft ist. Ob bei der Feststellung dieser Zahl Entlassungen und Neueinstellungen in einem Zeitraum von vier Wochen gegeneinander aufgerechnet werden dürfen, konnte der Senat hier dahingestellt sein lassen. Hueck (a.a.O. § 15 Anm. 9) verneint dies grundsätzlich. Erdmann-Müller (Das Kündigungsschutzgesetz, 2. Aufl. § 15 Anm. 15), Herschel-Steinmann (Komm. zum Kündigungsschutzgesetz, 3. Aufl. § 15 Anm. 4) und in Übereinstimmung mit diesen der Präsident der BfArb. (Erlaß vom 24.2. 1954 ANBA 1954 S. 254) halten es für zulässig, wenn die Arbeitnehmer im Verlauf einer betriebsüblichen Fluktuation wechseln und andere Arbeitskräfte für die Arbeitsplätze eingestellt werden, die durch Entlassungen aus Anlaß einer betriebsüblichen Fluktuation freigeworden sind. Um einen solchen Fall handelt es sich hier aber nicht. Den Feststellungen des LSG. und dem Vorbringen der Klägerin ist nicht zu entnehmen, daß die Arbeitnehmer im Rahmen einer betriebsüblichen Fluktuation gewechselt hätten und die Klägerin aus diesem Anlaß andere Arbeitskräfte an Stelle der entlassenen neu oder wieder eingestellt hätte. Hat die Klägerin mit 30 Arbeitnehmern das am 18. Dezember 1953 abgelaufene Arbeitsverhältnis fortgesetzt, so hat sie zwar verhütet, daß noch mehr Arbeitskräfte aus dem Betrieb ausscheiden mußten und arbeitslos wurden; dadurch hat sie aber nicht die Zahl der Entlassungen vermindert, die anzuzeigen waren. Sie hat möglicherweise die Arbeitskräfte, die sie behalten hat, im Betrieb umgesetzt, aber jedenfalls nicht an Stelle der entlassenen Arbeitnehmer andere für die Besetzung von Arbeitsplätzen eingestellt, die durch Entlassungen im Rahmen einer betriebsüblichen Fluktuation freigeworden wären.

Nur Entlassungen, die nach § 15 KSchG anzuzeigen sind, konnten vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige beim ArbA. ohne dessen Zustimmung nicht wirksam werden (§ 16 KSchG). Diese Zustimmung war danach nur für die Entlassung der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer erforderlich, aber nicht für Heimarbeiter und für Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis durch Zeitablauf endete. Die Zustimmung des LArbA. wäre daher, soweit sie sieben Heimarbeiter und drei nur bis Weihnachten eingestellte Arbeitnehmer betrifft, nicht richtig gewesen. Insoweit hätte das LSG. aber nicht bloß unter der Voraussetzung, daß die nachträglichen Angaben der Klägerin zutrafen, die Zustimmung als gegenstandslos erachten dürfen. Es hätte vielmehr die Angaben der Klägerin nachprüfen und, wenn sie zutrafen, die Zustimmung insoweit als fehlerhaft ansehen und ändern müssen.

Soweit die Zustimmung des LArbA. zwei Arbeitnehmer betrifft, denen – wie sich aus dem Urteil ergibt – nach den Angaben der Klägerin am 15. und 20. November 1953, nach den Feststellungen des LSG. am 15. und 20. Dezember 1953 gekündigt wurde, kommt es für deren Rechtmäßigkeit auf den Zeitpunkt der Entlassungen an. Sie bedurften der Zustimmung nur, wenn sie in den Zeitraum fielen, auf den sich die Anzeigepflicht erstreckte. Diesen Zeitpunkt hätte das LSG. feststellen müssen. Aus dem nicht einmal geklärten Zeitpunkt der Kündigung allein hätte es nicht schließen dürfen, die Entlassung liege innerhalb des für die Anzeige maßgebenden Zeitraums. Würden die Entlassungen der beiden Arbeitnehmer von der Anzeigepflicht nicht umfaßt, so wäre die Zustimmung auch insoweit fehlerhaft und zu ändern.

Das LSG. hat zwar zu Recht die Anzeigepflicht nach § 15 KSchG bejaht, bei der Nachprüfung der Anwendung des § 16 KSchG aber die insoweit erheblichen Tatsachen nicht oder nicht eindeutig festgestellt und aus der teilweisen Rechtswidrigkeit der angefochtenen Zustimmung des LArbA. rechtlich nicht zutreffende Folgerungen gezogen. Es hat insoweit das Gesetz nicht richtig angewandt. Auf die zugelassene Revision war daher das Urteil des LSG. – auch soweit eine Rüge nicht erhoben worden ist – aufzuheben (Urteil des BSG. vom 20.11.1959, SozR. SGG § 162 Bl. Da 41 Nr. 143), Zwar hätte der Senat in der Sache teilweise selbst entscheiden können, teilweise ist aber eine Sachentscheidung mangels ausreichender Feststellung nicht möglich. Unter diesen Umständen hielt er es für tunlich, die Sache in vollem Umfang zur erneuten Entscheidung an das LSG, zurückzuverweisen. Das LSG. hat damit die Möglichkeit, nach Feststellung der erforderlichen Tatsachen und unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats einheitlich darüber zu entscheiden, ob und inwieweit die angefochtene Zustimmung des LArbA. zu ändern ist.

Die Entscheidung über die Kosten ist dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Unterschriften

Dr. Berndt, Dr. Schmeißer, Dr. Strauß

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926350

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