Leitsatz (amtlich)
ArVNG Art 2 § 55 Abs 2 (= AnVNG Art 2 § 54 Abs 2) setzt im Gegensatz zu Abs 1 dieser Vorschrift nicht voraus, daß die unterbewerteten Sachbezüge während mindestens 10 Jahren gewährt worden sind.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 55 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23; AnVNG Art. 2 § 54 Abs. 2 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Februar 1962 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 21. November 1960 Altersruhegeld vom 1. Januar 1959 an nach dem seit dem 1. Januar 1957 geltenden Recht. Der Kläger war von Februar 1946 bis März 1949 in landwirtschaftlichen Unternehmen gegen aus Bar- und Sachbezügen bestehendes Entgelt versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Mit seiner Klage gegen den Bescheid beanstandet er den für die Jahre 1946 bis 1949 angenommenen Arbeitsentgelt und begehrt höhere Rente. Das Sozialgericht (SG) Detmold hat mit Urteil vom 26. September 1961 die Klage als unbegründet abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 28. Februar 1962 die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG und teilweiser Aufhebung des angefochtenen Bescheides verurteilt, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, in dem der für ihn maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage ein Arbeitsentgelt für die Zeit von Februar 1946 bis März 1949 zugrunde gelegt ist, der gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt um 20 v. H. erhöht ist. Das LSG hat die Revision zugelassen. Es hat sich bei seinem Urteil auf Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) gestützt.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision mit dem Antrag eingelegt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 28. Februar 1962 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Detmold vom 26. September 1961 zurückzuweisen.
Die Beklagte rügt, das LSG habe Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG zu Unrecht angewandt, weil der Kläger keine mindestens zehnjährige Beschäftigung im Sinne des Art. 2 § 55 Abs. 1 ArVNG nachgewiesen habe. Abs. 2 nehme ausdrücklich auf die Voraussetzungen des Abs. 1 Bezug, also auch auf die Pflichtbeitragsentrichtung für mindestens zehn Jahre. Der Wortlaut sei klar. Dieselbe Rechtsauffassung habe das Bayerische LSG im Urteil vom 27. Juli 1961, abgedruckt in Bay. ABl Nr. 5/1962 Seite B 18, dargelegt.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet, weil das Berufungsgericht den Art. 2 § 55 ArVNG zutreffend zugunsten des Klägers angewandt hat.
Nach Abs. 1 des Art. 2 § 55 ArVNG ist die nach den §§ 32 und 33 dieses Artikels umgestellte Rente ohne Kinderzuschuß um 10 v. H. zu erhöhen, wenn der Versicherte nachweist, daß für ihn vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes während mindestens zehn Jahren Beiträge für eine versicherungspflichtige Beschäftigung u. a. in einem landwirtschaftlichen Unternehmen entrichtet worden sind und ihm während dieser Zeit neben Barbezügen als Sach- oder Dienstleistungen freier Unterhalt (Kost und Wohnung) oder entsprechend Sachbezüge gewährt wurden. Nach Abs. 2 dieser Vorschrift ist der Berechnung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage auf Antrag für Zeiten vor dem 1. Januar 1957, für die der Versicherte die Voraussetzungen des Absatzes 1 nachweist, ein Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das um 20 v. H. gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt erhöht ist. Beide Absätze der Vorschrift bezwecken, einen gewissen Ausgleich dafür zu schaffen, daß in der Zeit vor dem 1. Januar 1957, dem Tage des Inkrafttretens des ArVNG, Sachbezüge unter ihrem wahren wirtschaftlichen Wert bewertet worden sind und daß die dadurch verursachte Unterversicherung bei der allein auf dem Entgelt beruhenden neuen Rentenberechnung zu unangemessen niedrigen Renten führt.
Da die in diesem Sinne unterversicherte Beschäftigung des Klägers in landwirtschaftlichen Unternehmen nicht während mindestens zehn Jahren, sondern nur während drei Jahren bestanden hat, hing - da die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 des Art. 2 § 55 ArVNG unzweifelhaft erfüllt sind - die Anwendung des Absatzes 2 allein davon ab, ob dieser Absatz ebenso wie Absatz 1 der Vorschrift voraussetzt, daß jene Beschäftigung mindestens zehn Jahre gedauert hat.
Diese Frage, die in Rechtsprechung und Schrifttum umstritten ist, ist in Übereinstimmung mit dem angefochtenen Urteil zu verneinen.
Die Gegenmeinung stützt sich allein auf den Wortlaut des Absatzes 2, den sie für eindeutig klar hält. Dies trifft jedoch nicht zu.
Ein eindeutig klarer Wortlaut im Sinne der Gegenmeinung ist an sich denkbar. Zum Beispiel hätte Absatz 2 folgende Fassung haben können:
"Der Berechnung der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage ist auf Antrag für Zeiten vor dem 1. Januar 1957, wenn der Versicherte die Voraussetzungen des Abs. 1 nachweist, ein Arbeitsentgelt zugrunde zu legen, das um 20 vom Hundert gegenüber dem nachgewiesenen Arbeitsentgelt erhöht ist."
Eine solche Fassung hätte klargestellt, daß Abs. 2 nur anwendbar sei, wenn der Versicherte alle Voraussetzungen des Absatzes 1 nachweise, mithin auch die Voraussetzung, daß die in Abs. 1 ihrer Art nach näher bezeichneten Zeiten mindestens zehn Jahre gedauert haben müssen. Diese oder eine ähnliche Fassung hat die Vorschrift aber nicht. Sie spricht vielmehr von Zeiten vor dem 1. Januar 1957, " für die " der Versicherte die Voraussetzungen des Absatzes 1 nachweist, zielt also auf Zeiten ab, für die besondere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. In dieser Weise pflegt nach allgemeinem Sprachgebrauch die besondere Qualität einer Zeit oder von Zeiten bezeichnet zu werden; die Dauer einer Zeit hingegen ist nach üblichem Sprachgebrauch ein Quantitätsbegriff. Nach dem Wortlaut des Absatzes 2 ist es mithin zum mindesten nicht auszuschließen, daß die Zeiten, für die der Versicherte die Voraussetzungen des Absatzes 1 nachweisen muß, nicht mindestens zehn Jahre gedauert zu haben brauchen.
Ist aber der Wortlaut des Absatzes 2 nicht eindeutig, so bedarf es für dessen Auslegung um so mehr der Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem die Vorschrift im Gesetz sich befindet, und ihres Zweckes unter Beachtung des Auslegungsergebnisses. Die Vorschrift ist ein Teil des ArVNG, d. h. eines Gesetzes, dessen Ziel wie das erklärte Ziel der gesamten Reform der Rentenversicherung überhaupt es war, die Rente nach der Lebensarbeitsleistung des Versicherten zu bemessen (zu vergl. Teil A Allgemeines Absatz 1 der Begründung des von der Bundesregierung beschlossenen Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung von Härten in den gesetzlichen Rentenversicherungen, Bundestagsdrucksache IV/2572 S. 23). Mit diesem Ziel aber wäre es unvereinbar, zB einen landwirtschaftlichen Arbeiter mit nahezu zehn Jahren Arbeit bei unterbewerteten Sachbezügen von der in Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG vorgesehenen Erhöhung des Arbeitsentgelts auszuschließen.
Zusammenhang und Zweck der Vorschrift nötigen vielmehr zu der Auslegung, daß Abs. 2 die in ihm vorgesehene Erhöhung des Arbeitsentgelts unabhängig von der Dauer der unterversicherten Beschäftigung vorschreibt.
Die darin liegende Abweichung von der in Abs. 1 getroffenen Regelung ist wohl begründet. Bei Abs. 1 der Vorschrift liegen die Dinge völlig anders. Hier bleiben zwar die in Rede stehenden Beschäftigungszeiten unter zehn Jahren unberücksichtigt, jedoch aus einem einleuchtenden besonderen Grunde. Der Gesetzgeber stand nämlich bei der Schaffung des Absatzes 1 unter dem unabwendbaren Zwang, im Zusammenhang mit der Umstellung der alten Renten eine Lösung zu finden, die die Rentenversicherungsträger nicht mit einer nicht zu bewältigenden Verwaltungsarbeit belastete und dadurch die Durchführung der Rentenversicherungsreform gefährdete. Er war daher gezwungen, eine verhältnismäßig leicht durchführbare, wenn auch grobe Lösung zu finden. Er hat sie gefunden mit der pauschalen Erhöhung der umgestellten Rente um 10 v. H. Es ist aber selbstverständlich, daß eine solche Erhöhung der gesamten Rente nur vertretbar ist bei Vorliegen recht erheblicher Zeiträume mit unterbewerteten Sachbezügen, nicht aber bei einer nur geringen Dauer dieser Zeiten. Hier ist deshalb das Erfordernis mindestens zehnjähriger Dauer sinnvoll. Von einer solchen oder ähnlichen Zwangslage des Gesetzgebers kann bei Abs. 2 jedoch keine Rede sein.
Der Senat hat auch erwogen, ob gegen die von ihm gegebene Auslegung des Absatzes 2 etwa spreche, daß sie die Rentenversicherungsträger mit einer Verwaltungsarbeit belaste, die in keinem angemessenen Verhältnis zu den durch die Anwendung des Absatzes 2 im Sinne dieser Auslegung sich ergebenden Aufbesserungen der Renten stehe. Hiervon kann jedoch einmal deswegen nicht gesprochen werden, weil Abs. 2 einen besonderen Antrag des Versicherten voraussetzt, und sodann vor allem deswegen, weil die Vorschrift dem Versicherten nicht nur die Beweislast, sondern auch die Beweisführungslast auferlegt. Zwar wird es Fälle geben, in denen Anträge nach Absatz 2 schon bei Unterversicherungszeiten von geringer, vielleicht nicht einmal ein Jahr erreichender Dauer gestellt werden. In solchen Fällen besteht in der Tat ein Mißverhältnis zwischen der erforderlichen Verwaltungsarbeit und der geringen Rentenerhöhung, die sich aus ihr ergibt. In der Praxis werden solche Fälle jedoch verhältnismäßig selten sein, und jedenfalls können derartige Ausnahmefälle kein Grund dafür sein, entgegen dem erklärten Ziel der Rentenversicherungsreform die Vorschrift des Absatzes 2 auch für erhebliche Unterversicherungszeiten unter zehn Jahren nicht anzuwenden.
Nach alledem konnte die Revision der Beklagten keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen