Leitsatz (amtlich)
1. Für den Nachweis längerer Ausfallzeiten iS von ArVNG Art 2 § 14 S 1 ist erforderlich, daß sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme Beginn und Ende der Ausfallzeiten genau bestimmen lassen.
2. Es besteht kein allgemeiner Erfahrungssatz des Inhalts, daß ein Versicherter zu Beginn der dreißiger Jahre während eines Zeitraums, für den die lückenlos vorhandenen Versicherungsunterlagen keine Beitragsmarken enthalten, ständig arbeitslos gewesen ist und fortlaufend die in RVO § 1259 Abs 1 Nr 3 genannten Leistungen bezogen hat.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 14 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1957-02-23; SGG § 128 Abs. 1 Fassung: 1958-08-23
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 17. Februar 1970 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Mai 1969 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem am 30. Oktober 1899 geborenen Kläger unter zusätzlicher Berücksichtigung einer Ausfallzeit i.S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933 ein höheres Altersruhegeld zusteht.
Die Beklagte wandelte die Rente, die sie dem Kläger wegen Erwerbsunfähigkeit vom 1. April 1962 an gewährt hatte, vom 1. Oktober 1964 an in das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres um, wobei sie u.a. eine Ersatzzeit wegen Verfolgung vom 24. Juni 1933 bis 11. März 1934 berücksichtigte. Der bisherige Rentenzahlbetrag änderte sich hierdurch nicht (Bescheid vom 21. September 1967).
Die Klage, mit welcher der Kläger ... unter Anrechnung weiterer Beiträge in den Jahren 1925 bis 1929 ein höheres Altersruhegeld begehrte, wies das Sozialgericht (SG) Hamburg ab (Urteil vom 29. Mai 1969).
Mit der Berufung machte der Kläger geltend, es müßten ihm weitere Ausfallzeiten wegen Arbeitslosigkeit angerechnet werden. In den Zeiten, für die seine Versicherungskarten Lücken enthielten, sei er arbeitslos gewesen und habe in der Meldekontrolle des Arbeitsamts Hamburg in der Kieler Straße gestanden. Es handele sich insbesondere um den Zeitraum seit Beginn des Jahres 1930 bis zu seiner Inhaftierung im Juni 1933. Die Stempelkarten aus dieser Zeit seien bei einem Bombenangriff vernichtet worden. Auch das Arbeitsamt habe keine Unterlagen mehr. Nach Vernehmung der Geschwister des Klägers, K O und M M als Zeugen hob das Landessozialgericht (LSG) Hamburg das erstinstanzliche Urteil auf und verpflichtete die Beklagte - entsprechend dem Berufungsantrag des Klägers -, ein höheres Altersruhegeld ab 1. Oktober 1964 unter Berücksichtigung einer weiteren Ausfallzeit vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933 zu gewähren; es ließ die Revision nicht zu (Urteil vom 17. Februar 1970).
Zur Begründung führte das LSG im wesentlichen aus:
In den 37 Monaten, welche die Beklagte als nachgewiesene Ausfallzeit bei der Berechnung des Altersruhegeldes berücksichtigt habe, sei die Zeit vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933, für die weder das Arbeitsamt Hamburg noch der Kläger entsprechende Unterlagen hätten, nicht enthalten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und den Gesamtumständen sei es aber als erwiesen anzusehen, daß der Kläger in dieser Zeit arbeitslos gewesen sei und auch die übrigen Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO erfüllt seien. Der Kläger habe dies von Anfang an vorgetragen, ohne sich allerdings noch an Einzelheiten erinnern zu können. Das sei mit Rücksicht auf den langen dazwischenliegenden Zeitraum und auf seinen reduzierten Geisteszustand auch nicht zu erwarten. Auch die gehörten Zeugen hätten keine ins einzelne gehenden Angaben über die streitige Zeit machen können, was aus den gleichen Gründen wie beim Kläger zu erklären sei. Sie hätten jedoch bestätigt, daß der Kläger zur Zeit der großen Arbeitslosigkeit lange Zeit hindurch arbeitslos gewesen sei und - soweit ihnen das bekannt sei - keine anderen Einkünfte, etwa aus einer selbständigen Tätigkeit, gehabt habe. Nach den Gesamtumständen seien keine Anhaltspunkte für vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers und der Zeugen ersichtlich. Es sei bekannt, daß 1929 die große Arbeitslosigkeit in Deutschland eingesetzt habe und erst Mitte der dreißiger Jahre langsam zurückgegangen sei. Der Kläger sei als ungelernter Arbeiter bis 1929 in der Metallindustrie beschäftigt gewesen. Er sei also von der Welle der Arbeitslosigkeit am ehesten betroffen worden. Nach seinen Vermögens- und Familienverhältnissen sei er auf Arbeitslosen- oder Fürsorgeunterstützung angewiesen gewesen. Die Möglichkeit, sich durch ungemeldete Arbeiten seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sei für ihn praktisch ausgeschieden. Für die Möglichkeit einer abhängigen Beschäftigung, für die keine Versicherungsbeiträge geleistet worden seien, lägen keine Anhaltspunkte vor. Der Kläger habe auch keine längeren, eine Arbeitslosigkeit unterbrechenden Notstandsarbeiten geleistet, für die Versicherungsbeiträge hätten gezahlt werden müssen. Die Quittungskarte Nr. 10 enthalte den letzten Beitrag am 27. Dezember 1929 und sei am 14. Februar 1931 aufgerechnet worden; sie enthalte 12 freie Felder. Die am 14. Februar 1931 ausgestellte Quittungskarte Nr. 11 sei am 17. Februar 1933 aufgerechnet worden; sie enthalte keine Beitragsmarken. Sie hätte für die Zeit ab 12. Januar 1931 verwendet werden sollen. Daraus sei die Arbeitsbereitschaft des Klägers zu folgern. Aus seinem weiteren Versicherungsleben ergebe sich, daß der Kläger stets abhängig gearbeitet habe, soweit er nicht arbeitslos oder krank gewesen sei. Aufgrund von Indizien sei es somit als erwiesen anzusehen, daß die Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO im streitigen Zeitraum vorgelegen haben.
Mit der rechtzeitig eingelegten und begründeten Revision rügt die Beklagte eine Überschreitung des Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und eine mangelnde Sachaufklärung (§ 103 Satz 1 SGG) durch das Berufungsgericht. Die beiden Zeugen, die der Kläger für die im Berufungsverfahren behauptete Arbeitslosigkeit benannt habe, hätten bei ihrer Vernehmung keinerlei präzise Aussagen über den Zeitraum der Arbeitslosigkeit oder andere Einzelheiten machen können. Wenn das LSG trotz dieses für den Kläger negativen Ergebnisses der Beweisaufnahme kraft seiner Lebenserfahrung im Wege des Indizienbeweises auf das Vorliegen der Beweistatsachen schließen wollte, so reichten die insoweit vom LSG gegebenen allgemeinen Hinweise hierfür nicht aus. Im übrigen hätte es auch jene Tatsachen bei seiner Beweiswürdigung berücksichtigen müssen, die gegen die Behauptung des Klägers sprächen. Das sei jedoch nicht geschehen.
Das LSG hätte die Möglichkeit des Erwerbs durch ungemeldete Arbeiten oder einer abhängigen Beschäftigung ohne Leistung von Versicherungsbeiträgen nicht unter Hinweis auf das vollständig erhaltene Versicherungsmaterial ausschließen dürfen. Allein im Zeitraum vom Eintritt des Klägers in die Versicherung im Oktober 1915 bis zum Juni 1942 seien 116 Monate nicht durch Beitrags-, Ersatz- oder Ausfallzeiten belegt. Selbst wenn man die streitbefangene Ausfallzeit ausklammere, bestehe immer noch eine Lücke im Versicherungsverlauf, die gut sechs Jahre umfasse. Diese Tatsache sei so schwerwiegend, daß sie als Anhaltspunkt für Zweifel an der Richtigkeit der Sachdarstellung des Klägers ausreiche. Das LSG hätte angesichts der aufgezeigten Lücken im Versicherungsverlauf nicht darauf verzichten dürfen, sich mit weiteren Möglichkeiten auseinanderzusetzen. So könnte es vorgekommen sein, daß sich ein Arbeitgeber mit Rücksicht auf die Wirtschaftslage die ordnungsmäßige Anmeldung seiner Aushilfskräfte zur Sozialversicherung ersparte. Auch läge es nicht außerhalb der Lebenserfahrung, wenn der Kläger zuweilen für eigene Rechnung gearbeitet hätte. Schließlich sei auch denkbar, daß die Meldung beim Arbeitsamt nicht rechtzeitig vorgenommen oder aus besonderen Gründen die Unterstützung gesperrt worden sei. Das LSG habe es unterlassen, die sich aus den erheblichen Lücken im Versicherungsverlauf des Klägers ergebenden Gründe für eine unterbliebene Beitragsentrichtung zu würdigen. Es habe dadurch sowohl die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung, als auch seine Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen verletzt. Es sei auch nicht auszuschließen, daß das LSG in Kenntnis der aufgezeigten und bisher bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigten Tatsachen eine andere Auffassung vertreten hätte.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 17. Februar 1970 aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen,
hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
II
Die Revision ist gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, da der gerügte wesentliche Verfahrensmangel eines Verstoßes gegen § 128 Abs. 1 SGG durch das Berufungsgericht vorliegt.
Die Beklagte wendet sich zu Recht dagegen, daß das Berufungsgericht "keinen Anhaltspunkt für vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers und der Zeugen" gesehen hat. Zu diesem Ergebnis ist das LSG gekommen, obwohl der Kläger erstmals während des Berufungsverfahrens allein anhand der Beitragslücken in den Versicherungsunterlagen Beginn und Ende der streitigen Arbeitslosigkeit näher bezeichnet hat. Die vom Kläger für diese erstmalige Behauptung benannten und vom Berufungsgericht gehörten Zeugen (Schwester und Bruder des Klägers) konnten jedenfalls den genauen Zeitraum der Arbeitslosigkeit nicht bestätigen.
Für den Nachweis längerer Ausfallzeiten i.S. des Art. 2 § 14 Satz 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) muß aber - angesichts der großzügigen, keinen Nachweis erfordernden Pauschalanrechnung nach dieser Vorschrift - verlangt werden, daß sich nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme Beginn und Ende der geltend gemachten Ausfallzeit genau bestimmen lassen. Da hierüber die Zeugen keine konkreten Angaben machen konnten, hat das LSG - wie seine Ausführungen zeigen - letztlich ebenso wie der Kläger allein aus der letzten Beitragsentrichtung in der Quittungskarte Nr. 10 zum 27. Dezember 1929 den Schluß gezogen, daß der Kläger vom 1. Januar 1930 an arbeitslos gewesen sei. Der durch den Inhalt dieser Quittungskarte geführte Nachweis der Unterbrechung eines Beschäftigungsverhältnisses läßt für sich allein aber einen solchen Schluß nicht zu. Es gibt keinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß ein Versicherter zu Beginn der dreißiger Jahre während eines Zeitraumes, für welchen die lückenlos vorhandenen Versicherungsunterlagen keine Beiträge enthalten, ständig arbeitslos gewesen ist und fortlaufend die in § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO genannten Leistungen bezogen hat. Etwas anderes könnte nur dann gelten, wenn - wie es für die Zeit vom 1. Oktober 1927 bis Dezember 1933 üblich war - von den Arbeitsämtern Anwartschaftsbeiträge entrichtet worden wären, da diese als ein echtes Indiz für das Vorliegen von Arbeitslosigkeit mit Unterstützungsbezug anzusehen sind (vgl. hierzu Hanow/Lehmann/Bogs, Kommentar zum 4. Buch der RVO, 5. Aufl., Anm. 119 zu § 1259). Solche Anwartschaftsbeiträge sind aber in den für den streitigen Zeitraum geltenden Quittungskarten Nr. 10 bis 12 gerade nicht enthalten. Ob ein derartiger Erfahrungssatz auch dann anzunehmen wäre, wenn - wie das LSG meint - der Versicherte während seines sonstigen Versicherungslebens stets abhängig gearbeitet hat, kann dahingestellt bleiben, weil dies beim Kläger - wie von der Beklagten anhand des Versicherungsverlaufs nachgewiesen wird - nicht der Fall gewesen ist.
Wenn demgegenüber das LSG den erforderlichen Nachweis der Arbeitslosigkeit - mit Unterstützungsbezug - für die Zeit vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933 aufgrund eines nicht bestehenden Erfahrungssatzes als erbracht angesehen hat, so hat es die Grenzen seines Rechts, das Gesamtergebnis des Verfahrens frei zu würdigen, überschritten (vgl. BSG in SozR Nr. 16 zu § 128 SGG).
Da der u.a. gerügte wesentliche Verfahrensmangel (Verstoß gegen § 128 Abs. 1 SGG) vorliegt, ist die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG zulässig, ohne daß der weitere von der Revision noch gerügte Verfahrensverstoß zu prüfen ist. Die Revision ist auch begründet. Der Senat kann selbst in der Sache entscheiden. Einer Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG, wie von der Beklagten hilfsweise beantragt, bedarf es nicht (§ 170 Abs. 2 SGG).
Der nach Art. 2 § 14 Satz 1 ArVNG erforderliche Nachweis der vom Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933 behaupteten Ausfallzeit i.S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO ist nicht erbracht worden. Dieser Nachweis ist zwar nicht auf bestimmte Arten von Beweismitteln beschränkt (vgl. BSG in SozR Nr. 8 zu Art. 2 § 14 ArVNG). Die vom Kläger - mit Rücksicht auf nicht vorhandene schriftliche Unterlagen - benannten Zeugen konnten jedoch einen genau bestimmbaren Zeitraum einer Arbeitslosigkeit nicht bekunden. Weitere Zeugen vermochte der Kläger zu diesem Beweisthema nicht zu benennen. Sonstige Beweismittel sind nicht ersichtlich. Eine weitere Sachaufklärung, die das Revisionsgericht nicht selbst vornehmen könnte, kommt daher nicht in Betracht.
Der Kläger vermag sonach der ihm für eine ... Arbeitslosigkeit im streitigen Zeitraum obliegenden objektiven Beweislast nicht zu genügen. Die bloße Möglichkeit, daß damals der Kläger solche Zeiten zurückgelegt hat, reicht nach dem Gesetz nicht aus. Die Folgen der objektiven Beweislosigkeit dieser Tatsache sind aber vom Kläger zu tragen, weil er aus dieser Tatsache das Recht auf eine höhere Rente herleiten will (vgl. BSG in SozR Nr. 18 zu § 103 SGG).
Der Kläger hat deshalb keinen Anspruch auf zusätzliche Berücksichtigung einer Ausfallzeit wegen Arbeitslosigkeit vom 1. Januar 1930 bis 23. Juni 1933 bei dem ihm von der Beklagten gewährten Altersruhegeld. Das Urteil des LSG ist daher aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen