Leitsatz (redaktionell)
Der Weg von der Arbeitsstätte zum Arzt steht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn der Arbeitgeber die Konsultation des Arztes ausdrücklich angeordnet hat.
Normenkette
RVO § 550
Tenor
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 13. April 1960 dahingehend geändert, daß an Stelle der Beklagten die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten verurteilt wird, den Klägern aus Anlaß des Unfalls des Maschinenmeisters Karl H. vom 8. September 1956 die Hinterbliebenenrente zu gewähren.
2. Die Revision der Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten wird zurückgewiesen.
3. Die Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des Maschinenmeisters Karl H (H.), der bei der Zigarettenfabrik W in S beschäftigt war. H. erlitt am Samstag, 8. September 1956, gegen 11,25 Uhr beim Fahren auf seinem Motorrad einen tödlichen Verkehrsunfall. Er hatte den Betrieb, wo an jenem Tag bis 12 Uhr gearbeitet wurde, gegen 11,15 Uhr verlassen, um einen Augenarzt aufzusuchen. Nach Erledigung dieses Vorhabens wollte er wieder zum Betrieb zurückkehren, um dort noch weiterzuarbeiten und dann die Räume abzuschließen. Auf der Fahrt zum Arzt stieß H. gegen einen vor ihm abbremsenden LKW. Die Landesversicherungsanstalt für das Saarland, Abt. Allgemeine Arbeitsunfallversicherung, (LVA) lehnte durch Bescheid vom 22. November 1956 den Entschädigungsanspruch ab mit der Begründung, das Aufsuchen eines Arztes zwecks Verschreibung einer Brille liege vorwiegend im eigenen Interesse des Versicherten und unterliege nicht dem Versicherungsschutz.
Das Oberversicherungsamt für das Saarland (OVA) wies durch das am 13. Februar 1957 verkündete Urteil die Berufung - alten Rechts - der Kläger gegen diesen Bescheid zurück: Nach dem Sachvortrag der Kläger habe H. schon Monate vor dem Unfall an Sehschwäche gelitten, weshalb ihm die Betriebsleitung nahegelegt habe, sich eine Brille zu besorgen. Ein solches Verhalten der Betriebsleitung, bei dem es sich eher um einen Rat als um eine wirkliche Anordnung gehandelt haben könne, sei nicht geeignet, den inneren Zusammenhang des Weges zum Arzt mit der versicherten Beschäftigung herzustellen, zumal da es betrieblich nicht geboten gewesen sei, daß H. gerade im Unfallzeitpunkt diesen Weg antrat, und da außerdem das Aufsuchen des Augenarztes allein noch nicht die sofortige Besserung der Arbeitsfähigkeit bedingt hätte, hierzu vielmehr noch zweimaliger Besuch beim Optiker erforderlich gewesen wäre.
Gegen das am 18. Juli 1957 zugestellte Urteil haben die Kläger Rekurs eingelegt, der am 1. Januar 1959 als Berufung auf das Landessozialgericht für das Saarland (LSG) übergegangen ist. Das LSG hat den Kaufmann Z (Z.), den Inhaber der Firma W, als Zeugen vernommen. Dieser hat ausgesagt, bereits seit 1954 seien bei H. Sehstörungen aufgetreten, die sich immer mehr verschlimmert hätten, wodurch auch Schäden in der Fabrikation eingetreten seien. H. - von Z. wiederholt auf die Notwendigkeit der Anschaffung einer Brille hingewiesen - habe diese Anschaffung immer wieder hinausgezögert. Im Jahre 1956 seien die Mängel in der Fabrikation so häufig geworden, daß Z. dem H. einmal eine Lupe geben mußte und schließlich anordnete, H. müsse sich unbedingt eine Brille beschaffen. Da der 8. September 1956 als Samstag für diese Beschaffung günstiger als ein anderer Werktag gewesen sei und da Z. "es leid war, daß H. meine Anordnungen nicht befolgte und immer wieder hinausschob, ordnete ich ausdrücklich an, an diesem Sonnabend den Arzt aufzusuchen. An und für sich sollte er schon um 10.30 Uhr zum Arzt gehen, aber H. verstand es, das Weggehen wiederum hinauszuzögern, bis er dann auf meine Veranlassung um etwa 11,15 Uhr die Firma verließ". - Das LSG hat durch Urteil vom 13. April 1960 die Entscheidung des OVA sowie den Bescheid der beklagten LVA aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Klägern die Hinterbliebenenrente zu gewähren: Die nach altem und nach neuem Verfahrensrecht zulässige Berufung sei begründet, da die unfallbringende Fahrt des H. wegen der besonderen Umstände ihrer Ausführung ausnahmsweise einer Betriebstätigkeit gleichzustellen sei. An der in ständiger Rechtsprechung vertretenen Auffassung, daß das Aufsuchen eines Arztes vorwiegend im eigensten Interesse des Beschäftigten liege und mit der Beschäftigung im Unternehmen nicht zusammenhänge (RVA EuM 23, 166; 24, 324; 27, 503; 42, 385; Breith. 1939, 160; BSG Urteil vom 13.3.1956, 2 RU 52/54, mitgeteilt in BABl 1957, 105; Bayer. LSG, Breith. 1954, 1121; LSG Baden-Württemberg, Breith. 1955, 18; LSG Celle, BG 1956, 491), werde zwar grundsätzlich festgehalten. Im vorliegenden Fall hätten aber, wie sich aus der Beweisaufnahme ergebe, die betrieblichen Interessen an der Beschaffung einer Brille für H. so im Vordergrund gestanden, daß der unfallbringende Weg als Betriebstätigkeit anzusehen sei. Das LSG hat die Revision zugelassen mit der Begründung, es sei von der Entscheidung des BSG vom 13. März 1956 (2 RU 52/54) abgewichen.
Nach der Urteilsverkündung haben die LVA (Schreiben vom 11. Mai 1960) und die bislang am Verfahren nicht beteiligte Berufsgenossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten - BG - (Schreiben vom 25. Mai 1960) dem LSG mitgeteilt, daß auf Grund des § 15 des Gesetzes zur Neuordnung der Sozialversicherungsträger im Saarland (SOGS) vom 28. März 1960 (BGBl I 194) die Zuständigkeit auf die BG übergegangen sei. Die BG hat sich in ihrem Schreiben als "nunmehrige Beklagte und Berufungsbeklagte" bezeichnet und sich der Rechtsauffassung und dem Sachantrag der LVA angeschlossen. Das LSG hat daraufhin das Urteil am 13. Juni 1960 der BG zugestellt. Die Zustellung an die LVA ist erst am 29. September 1960 nachgeholt worden. Als Prozeßbevollmächtigter der LVA und der BG hat Rechtsanwalt Dr. M. am 29. Juni 1960 für beide Versicherungsträger Revision eingelegt mit dem Antrag,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Kläger gegen das Urteil des OVA zurückzuweisen.
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
In einem am 23. Juli 1960 eingegangenen Schriftsatz hat sich der Prozeßbevollmächtigte zur Frage der Passivlegitimation auf Grund des am 1. April 1960 in Kraft getretenen § 15 SOGS geäußert. Unter Hinweis auf Entscheidungen des BSG (BSG 3, 50; 10, 218; Beschluß vom 12.3.1959, 2 RU 199/57) hat er angedeutet, daß seiner Ansicht nach das SOGS eine auch in der Revisionsinstanz wirksame Zuständigkeitsänderung herbeigeführt habe.
In der am 27. Juli 1960 eingegangenen Revisionsbegründung wird Verletzung des § 542 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF gerügt. Versicherungsschutz für das Aufsuchen des Arztes bestehe nur, wenn die ärztliche Untersuchung oder Behandlung wegen eines unmittelbar vorhergegangenen Arbeitsunfalls notwendig sei und die Fortsetzung der unterbrochenen Betriebsarbeit ermöglichen solle. Ein solcher von der Rechtsprechung anerkannter Ausnahmefall habe bei H. nicht vorgelegen. Die Beschaffung einer Brille sei auch weniger betriebsbezogen als die Beschaffung von Arbeitskleidung (BSG 8, 176, SozR RVO § 543 Bl. Aa 7 Nr. 11; 2 RU 196/55 vom 16.4.1957, SGb 1957, 142). Auch aus der nachdrücklichen Anordnung des Z., H. solle am 8. September 1956 endlich den Arzt aufsuchen, sei eine Betriebsbedingtheit des unfallbringenden Weges nicht herzuleiten, denn das eigene Interesse des H. an der Erhaltung oder Verbesserung seiner Sehschärfe habe immer noch überwogen. Im Jahre 1956 wäre es dem Unternehmer ohne weiteres möglich gewesen, bei Untauglichkeit des H. einen anderen Maschinenmeister einzustellen.
Die Kläger beantragen,
die Revision der BG zurückzuweisen,
hilfsweise,
die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils an das LSG zurückzuverweisen.
Der vom LSG vertretenen Rechtsauffassung pflichten die Kläger bei und heben hervor, daß H. den Arzt auf Grund einer ausdrücklichen, aus dem Direktionsrecht des Arbeitgebers herzuleitenden Anordnung aufgesucht habe. Im übrigen machen sie geltend, die Annahme, daß H. überhaupt an Sehstörungen gelitten habe, sei durch die bisherigen Beweiserhebungen nicht ausreichend begründet. Werde diese Annahme durch noch anzustellende weitere Ermittlungen widerlegt, so müsse der Versicherungsschutz schon deshalb anerkannt werden, weil H. einer zwingenden Auflage des Betriebsinhabers Z. gefolgt sei, die sachlich ungerechtfertigt gewesen sei und den persönlichen Interessen des H. keinesfalls gedient haben könne.
II
Die durch Zulassung nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaften Revisionen sind von der Beklagten wie von der BG Nahrungsmittel und Gaststätten form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie sind zulässig. Beide Versicherungsträger sind durch das angefochtene Urteil beschwert.
Ebenso wie die beklagte LVA, deren Beschwer keiner näheren Darlegung bedarf, war auch die BG zur Revisionseinlegung befugt, obwohl sie am Verfahren bisher noch nicht beteiligt war. Wie der Senat bereits am 30. März 1962 (BSG 17, 15) in einem gleichliegenden Fall entschieden hat, kann ein LSG-Urteil, durch das die LVA für das Saarland nach Inkrafttreten des SOGS am 1. April 1960 zur Unfallentschädigungsleistung verurteilt wurde, mit der Revision auch von der BG angefochten werden, in deren Zuständigkeitsbereich nach den Saarländischen Überleitungsvorschriften das der Verurteilung zugrunde liegende Versicherungsverhältnis fällt. Auch die Revision der BG Nahrungsmittel und Gaststätten als der Rechtsnachfolgerin der LVA für diesen Fall ist demnach als zulässig zu behandeln. Sie hatte jedoch - im Unterschied zur Revision der beklagten LVA - keinen Erfolg; denn das LSG hat im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Ehemann und Vater der Kläger einem Arbeitsunfall zum Opfer gefallen ist.
Nach den von der Revision nicht wirksam angegriffenen Feststellungen des LSG ist der vorliegende Sachverhalt dadurch gekennzeichnet, daß der Maschinenmeister H. von sich aus überhaupt nicht gewillt war, etwas zur Verbesserung seiner Sehfähigkeit zu tun, insbesondere sich von einem Augenarzt eine Brille verschreiben zu lassen. Daß er sich am Unfalltag von der Arbeitsstätte aus zum Augenarzt begab, beruhte vielmehr allein auf der ausdrücklichen Anordnung des Betriebsinhabers Z. Diesem war schon seit längerer Zeit aufgefallen, daß H. immer schlechter sehen konnte, wodurch sich auch Schäden in der Fabrikation einstellten. Ob die Beobachtungen des Z. objektiv zutrafen, kann dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall haben sie ihn dazu bewogen, den H. wiederholt auf die Notwendigkeit der Anschaffung einer Brille hinzuweisen und schließlich - nachdem dieses Zureden gegenüber dem Widerstreben des H. keinen Erfolg hatte - als schärferes Druckmittel die ausdrückliche Weisung an seinen Arbeitnehmer H. zu gebrauchen. Unter diesen Umständen muß die sonst bei Arztbesuchen während der Arbeitszeit übliche Erwägung, die ärztliche Beratung oder Behandlung liege stets vorwiegend im eigensten Interesse des Beschäftigten, in den Hintergrund treten gegenüber dem Gesichtspunkt, daß hier für den - selbst zur Inanspruchnahme des Arztes nicht gewillten - Versicherten eine bindende betriebliche Anordnung vorlag, bei deren Befolgung er den Unfall erlitten hat. Dieser ist daher mit dem LSG als Arbeitsunfall zu werten, wobei es auch nicht entscheidend darauf ankommt; daß ein Besuch beim Augenarzt nicht zur sofortigen Behebung der - mutmaßlichen - Sehschäden geführt haben würde, hierzu vielmehr außerdem noch die Besorgung einer Brille beim Optiker erforderlich gewesen wäre.
Durch die im einzelnen dargelegten Besonderheiten des Sachverhalts unterscheidet sich dieser Fall erheblich von dem BSG-Urteil vom 13. März 1956 (2 RU 52/54) und auch von der RVA-Entscheidung in EuM 42, 385; er stimmt vielmehr im wesentlichen überein mit einem vom Hessischen LSG entschiedenen Fall (Breith. 1961, 416), in welchem gleichfalls das Aufsuchen des Arztes in Befolgung einer zwingenden betrieblichen Anordnung als Teil der versicherten Tätigkeit angesehen worden ist.
Da nach den Saarländischen Übergangsvorschriften die Entschädigungspflicht rückwirkend ohne zeitliche Begrenzung auf den nunmehr fachlich zuständigen Versicherungsträger übergegangen ist (BSG 17, 15, 21), war auf die Revision der beklagten LVA an ihrer Stelle die BG Nahrungsmittel und Gaststätten zur Gewährung der Hinterbliebenenrente zu verurteilen (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Die Revision der BG war als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen