Leitsatz (amtlich)
Ein Lehrhauer, der als Neubergmann nach mehrmonatiger Anlernung die Gedingearbeit aufgenommen und danach längere Zeit ausgeübt hat, kann bei Prüfung der Berufsunfähigkeit nach RKG § 46 auf die Tätigkeiten als Markenausgeber, Magazinarbeiter und Lampenstubenarbeiter sowie auf entsprechende Arbeiten nicht ganz einfacher Art verwiesen werden.
Normenkette
RKG § 46 Abs. 2 Fassung: 1957-05-21
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten der Revisionsinstanz sind unter den Beteiligten nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Jahre 1914 geborene Kläger, der zunächst in nichtknappschaftlichen Betrieben und als Tagesarbeiter in knappschaftlichen Betrieben gearbeitet hatte, nahm im September 1945 die Bergarbeit als Schichtlohnschlepper auf und war dann von Dezember 1945 an als Gedingeschlepper und von April 1948 an als Lehrhauer im Steinkohlenbergbau tätig, bis er die Gedingearbeit im August 1954 aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mußte. Nach kürzerer Tätigkeit als Hilfszimmerhauer und Ausbauhelfer arbeitet er seit August 1955 über Tage. Er ist mit der Sortierung von Blechmarken, die die Herkunft der zu Tage geförderten Kohlenwagen anzeigen, beschäftigt und wird nach Lohngruppe IV der Lohnordnung für den rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbau entlohnt. Seit Januar 1955 bezieht er die inzwischen in Bergmannsrente umgestellte Knappschaftsrente alter Art. Sein Antrag vom 12. November 1959 auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit wurde von der Beklagten abgelehnt; der Widerspruch blieb erfolglos.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit der er beantragt hatte, die Beklagte zur Zahlung der Gesamtleistung wegen Berufsunfähigkeit ab Antragstellung zu verurteilen, abgelehnt. Es ging davon aus, der Kläger sei nicht berufsunfähig, weil er noch als Laboratoriumsarbeiter, Maschinist, Apparatewärter, Tafelführer und Stellwerkswärter arbeiten könne. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es läßt es dahinstehen, ob er noch in der Lage sei, körperlich leichtere Arbeiten mit gehobener Verantwortung, etwa als Verwieger und Tafelführer (Lohngruppe III) zu verrichten. Jedenfalls könne er - wie er auch durch die Tat beweise - noch Tätigkeiten der Lohngruppe IV und ähnliche Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausüben; so entsprächen die Arbeitsplätze für Markenausgeber, Magazinarbeiter (Werkzeugausgeber) und Lampenstubenarbeiter den von dem Sachverständigen Prof. H gestellten Bedingungen. Dem ständen auch die Ausführungen im Gutachten des Sachverständigen Dr. A nicht entgegen. Zwar sei der Kläger seit 1962 mehrfach arbeitsunfähig krank gewesen, jedoch seien die Krankheitszeiten nicht so ausgedehnt, daß hierdurch seine Erwerbsfähigkeit entscheidend beeinträchtigt wurde. Als Lehrhauer ohne Berglehre und Knappenprüfung könne der Kläger auf die genannten Tätigkeiten, deren Tariflohn erheblich über der Hälfte des Tariflohns für Lehrhauer liege, verwiesen werden. Bei Neubergleuten setze die Verrichtung der Lehrhauertätigkeit keine besondere Ausbildung voraus, sie diene vielmehr gerade der Ausbildung zum Hauer. Demgemäß könne sie nicht anders bewertet werden als sonstige Tätigkeiten, die eine gewisse Anlernung oder Eingewöhnung erfordern. Arbeiter, die eine solche Tätigkeit verrichten, könnten aber in weiterem Umfange auf andere Tätigkeiten verwiesen werden als echte Facharbeiter. Beim Kläger komme hinzu, daß er vor seiner Gedingetätigkeit von 102 Monaten insgesamt 171 Monate Hilfsarbeiten verrichtet habe. Angesichts dieses Berufsbildes könne er nicht besser als ein angelernter Arbeiter eingestuft werden. Ein solcher Arbeiter müsse sich aber jedenfalls auf solche Tätigkeiten verweisen lassen, die über einfachste Hilfsarbeiten (z. B. Maschinenputzen und Hofreinigen) hinausgingen. Das sei bei den genannten Arbeiten, die der Kläger noch verrichten könne, der Fall. Revision wurde zugelassen.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß er zumindest seit 1961 berufsunfähig sei, da der Sachverständige Prof. H seither die Minderung seiner Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 60 v. H. geschätzt habe. Er sei nicht mehr in der Lage, vollschichtig zu arbeiten, weil er, wie aus der dem LSG vorgelegten Bescheinigung des Werkarztes vom 10. Juni 1964 hervorgehe, seine Arbeit mehrfach vorzeitig habe beenden müssen. Seine Erwerbsfähigkeit sei daher auf weniger als die Hälfte der Erwerbsfähigkeit einer gleichgestellten Person herabgesunken. Er könne nicht einmal die Tätigkeiten der Lohngruppe V mehr verrichten, da bei diesen Arbeiten die körperliche Belastung noch schwerer sei als bei der von ihm ausgeübten Tätigkeit, die er vergönnungsweise erhalten habe. Wenn er auch die Hauerprüfung nicht abgelegt habe, so habe er doch in den 102 Monaten Gedingearbeit die erforderliche bergmännische Berufserfahrung gewonnen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, Knappschaftsrente wegen Berufsunfähigkeit als Gesamtrente nach den §§ 1246 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und 46 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) vom Jahre 1961 an zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger habe als Lehrhauer die Ausbildung zum bergmännischen Facharbeiter - das sei der Hauer - nicht abgeschlossen. Eine unterschiedliche Behandlung gegenüber einem Hauer sei daher gerechtfertigt. Da der Hauer im Rahmen des § 46 RKG noch auf Arbeiten der Lohngruppe III über Tage verwiesen werden könne, müsse sich der weniger qualifizierte Lehrhauer folgerichtig noch auf Arbeiten der Lohngruppe IV sowie ähnliche Tätigkeiten außerhalb des Bergbaus verweisen lassen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Die Revision ist unbegründet. Dem Kläger steht die Rente wegen Berufsunfähigkeit auch seit 1961 - insoweit hat er mit der Revision den ursprünglichen Klageantrag zeitlich eingeschränkt - nicht zu. Er ist nicht berufsunfähig, weil er noch in der Lage ist, mit zumutbaren Tätigkeiten die Hälfte des Tariflohnes eines Lehrhauers zu erwerben (§§ 46 RKG; 1246 RVO).
Hierbei ist es nicht von wesentlicher Bedeutung, daß ärztlicherseits die MdE auf 60 v. H. geschätzt worden ist. Für die Prüfung, ob ein Versicherter berufsunfähig im Sinne des § 46 RKG ist, kommt es nicht - wie etwa im Versorgungsrecht - auf die in Prozenten ausgedrückte, abstrakte MdE, sondern allein darauf an, ob er mit zumutbarer Arbeit noch die gesetzliche Lohnhälfte verdienen kann. Hierzu hat das LSG festgestellt, daß der Kläger nach seinem Gesundheitszustand noch in der Lage ist, außer der von ihm tatsächlich verrichteten und entsprechend der Lohngruppe IV vergüteten Tätigkeit als Markensortierer auch noch weitere - in der Lohnordnung unter Gruppe IV ausdrücklich aufgeführte - Tätigkeiten, z. B. als Markenausgeber, Magazinarbeiter (Werkzeugausgeber) und Lampenstubenarbeiter zu verrichten. Gegen diese tatsächliche Feststellung sind zulässige und begründete Revisionsrügen nicht vorgebracht werden, so daß der Senat daran gebunden ist (§§ 163, 164 Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Der Hinweis des Klägers darauf, daß er seine Arbeit mehrfach vorzeitig habe beenden müssen, ist insoweit nicht anders zu bewerten als der vom LSG ausdrücklich berücksichtigte Umstand, daß der Kläger in den letzten Jahren mehrfach arbeitsunfähig krank gewesen ist. Es ist auch ohne Bedeutung, ob der Kläger - wie er behauptet - zu anderen, noch geringer bewerteten Tätigkeiten der Lohngruppe V nicht mehr tauglich ist; entscheidend ist, welche Arbeiten er tatsächlich noch verrichten kann.
Da der Lohn für alle Tätigkeiten im Steinkohlenbergbau höher liegt als die Hälfte des Gedingerichtsatzes ausmacht, kommt es für die Frage, ob der Kläger berufsunfähig ist, darauf an, ob ihm die Tätigkeiten, zu denen er nach den Feststellungen des LSG noch tauglich ist, "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können" (§ 46 Abs. 2 RKG, § 1246 Abs. 2 RVO). Wenn der Kläger die Gedingearbeit auch erst im Alter von 31 Jahren aufgenommen hat, so hat er sie bis zur erzwungenen Aufgabe doch hinreichend lange ausgeübt, um den Bergmannsberuf als seinen eigentlichen Beruf ansehen zu können. Er ist in diesem Beruf aber nicht zum Hauer, dem typischen Facharbeiter des Bergbaus, aufgestiegen, sondern Lehrhauer, also Gedingearbeiter ohne Hauerschein, geblieben. Ein Hauer kann - ebenso wie andere Facharbeiter, z. B. gelernte Zechenhandwerker - im Rahmen des § 46 RKG nicht auf ungelernte Arbeiten einfacher Art - und dazu gehören die Tätigkeiten der Lohngruppen IV und V über Tage -, sondern nur auf solche Arbeiten über Tage verwiesen werden, die sich durch besondere Anforderungen geistiger oder charakterlicher Art aus dem Kreis der einfachen Tätigkeiten hervorheben, also etwa die eines Verwiegers, Tafelführers, Maschinisten, Stellwerkswärters u. ä. nach den Lohngruppen III und höher. Diese Bewertung als Facharbeiter gilt nicht nur für den Hauer, der den Hauerschein über die grundsätzlich vorgesehene Ausbildung (Berglehre, Knappenprüfung, Hauerlehrgang und Hauerprüfung) erworben hat, sondern auch für den sogenannten Neubergmann, der bereits nach mehrmonatiger Anlernung und Eingewöhnung unter Tage in die Gedingearbeit aufgenommen worden ist und nach längerer Einarbeitung und Bewährung sowie Teilnahme an einem Hauerlehrgang die Hauerprüfung abgelegt hat. Dagegen ist für den Gedingearbeiter ohne Hauerschein, insbesondere also auch den Lehrhauer, eine einheitliche Bewertung der beruflichen Qualifikation nicht möglich. Diese Gedingearbeit wird nämlich sowohl von geprüften Knappen (bergmännischer Lehrberuf) als auch von Arbeitern verrichtet, die nur eine mehrmonatige Anlernung unter Tage mitgemacht haben. Sie ist im allgemeinen eine Durchgangsstation für die Qualifikation zum Hauer, kann aber auch zum eigentlichen Beruf werden. Daher kann einem Lehrhauer, der als Neubergmann vor Aufnahme der Gedingearbeit nur eine mehrmonatige Anlernung und Eingewöhnung in den Grubenbetrieb erfahren hat, nicht die Stellung eines Facharbeiters zuerkannt werden. Hat er allerdings - wie der Kläger - längere Zeit im Gedinge gearbeitet, so ist er im Rahmen der §§ 1246 RVO; 46 RKG in etwa einem Versicherten gleichzustellen, der für einen anerkannten Anlernberuf ausgebildet worden ist. Denn die Tätigkeit des Lehrhauers, die ja praktisch weitgehend der des Hauers entspricht, stellt wegen der besonderen Verhältnisse an den Gedingebetriebspunkten des Bergbaus doch höhere Anforderungen an den Versicherten als sonstige Arbeitertätigkeiten, die nur eine mehrmonatige Einarbeitung erfordern; diese besonderen Anforderungen sind bei Anwendung des § 46 RKG neben Umfang und Dauer der Ausbildung mit zu berücksichtigen.
Einem Versicherten dieser beruflichen Qualifikation können zwar ungelernte Arbeiten ganz einfacher Art (z. B. Reinigungs- und Putzarbeiten, Botengänge, Hof- und Platzarbeiten) nicht zugemutet werden, wohl aber einfache Arbeiten anderer Art (vgl. BSG in SozR RVO § 1246 Nr. 32). Zu diesen noch zumutbaren Tätigkeiten gehören die des Markenausgebers, Magazinarbeiters und Lampenstubenarbeiters und auch die vom Kläger noch verrichtete Arbeit als Markensortierer.
Die unterschiedliche Verweisbarkeit der Lehrhauer einerseits und der Hauer andererseits hat der Senat für die Prüfung der verminderten bergmännischen Berufsfähigkeit nach § 45 Abs. 2 RKG bereits ausgesprochen. So kann im Rahmen dieser Vorschrift auf die Kokereiarbeiten der Lohngruppe I über Tage (mit Zuschlag) zwar ein Lehrhauer (so Urteil vom 4. April 1963 - 5 RKn 64/61), nicht aber ein Hauer verwiesen werden (so Urteil vom 15. September 1964 - SozR RKG § 45 Nr. 15).
Der Kläger kann sich auch nicht darauf berufen, daß er durch seine langjährige Gedingetätigkeit bereits die Qualifikation eines vollwertigen Bergmanns erworben habe. Der Senat hat zwar anerkannt, daß ein langjährig tätiger Hauer, der in der früher üblichen Berufsentwicklung ohne besondere Berufsausbildung zum Hauer aufgestiegen ist, einem Hauer mit der heute vorgeschriebenen Berufsausbildung gleichzustellen ist (BSG 16, 125). Der Kläger ist indessen nicht zum Hauer aufgestiegen, sondern Lehrhauer geblieben. Der früher üblichen Berufsentwicklung entspricht heute die Ausbildung des Neubergmanns zum Hauer, die der Kläger aber nicht abgeschlossen hat.
Da der Kläger hiernach noch auf die Tätigkeit als Markenausgeber, Magazinarbeiter und Lampenstubenarbeiter sowie auf ähnliche Tätigkeiten inner- und außerhalb des Bergbaues verwiesen werden kann, ist sein - auch nicht näher substantiiertes - Vorbringen, er verrichte seine derzeitige Tätigkeit nur "vergönnungsweise", für die Entscheidung ohne Bedeutung.
Soweit der Kläger - übrigens in einem nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingereichten Schriftsatz - unter Bezugnahme auf einen ärztlichen Befund vom 13. November 1964 geltend macht, daß sich sein Gesundheitszustand nach Erlaß des angefochtenen Urteils noch verschlechtert habe, kann dieses Vorbringen in der Revisionsinstanz nicht berücksichtigt werden.
Demgemäß ist die Revision zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Im Einverständnis der Beteiligten konnte das Urteil ohne mündliche Verhandlung ergehen (§ 124 Abs. 2 i. V. m. §§ 153, 165 SGG).
Fundstellen