Beteiligte
Hessische Landesamt für Versorgung und Soziales - Landesversorgungsamt - |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. März 1998 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat den Klägern auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Die Kläger begehren Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Die Klägerin zu 1) ist die Witwe, die Kläger zu 2) und zu 3) sind die Kinder (geboren am 21. Oktober 1984 bzw am 17. September 1986) des verstorbenen K. L. (L.). Dieser wurde am 7. Juni 1987 von A. P. (P.) durch mehrere Messerstiche tödlich verletzt.
Das Landgericht (Schwurgericht) Frankfurt am Main hat P. vom Vorwurf des Totschlags freigesprochen (Urteil vom 7. Juni 1988 - 76 Js 15931/87 Ks -). Dabei ist es von folgendem Sachverhalt ausgegangen: Die Ehefrau des P. lernte L. auf dem Heimweg von einem Straßenfest kennen und nahm ihn mit nach Hause. Beide standen unter Alkoholeinfluß; um 2.00 Uhr morgens betrug die Blutalkoholkonzentration bei Frau P. 1,7 Promille, bei L. 1,74 Promille. Nach energischer Aufforderung des P., der bereits geschlafen hatte und aufgewacht war, verließ L. das Haus. Danach kam es zwischen den Eheleuten zu einer lautstarken Auseinandersetzung, in deren Verlauf P. seine Ehefrau packte, um sie in das Obergeschoß zu bringen. Diese wehrte sich, ließ sich im Flur des Erdgeschosses auf den Boden fallen und rief grundlos um Hilfe. P. ging sodann in die im Erdgeschoß gelegene Küche des Hauses und beabsichtigte, sich eine Portion rohen Schinken abzuschneiden, um sich ein Brot zuzubereiten. Dazu nahm er ein 20 cm langes, 4 cm breites Messer. In diesem Augenblick entschloß sich L., der vor dem Haus stehen geblieben war und vermutlich das Rufen von Frau P. gehört hatte, in das Haus zurückzukehren. Er klopfte nachdrücklich an die Eingangstür. P., der annahm, einer seiner Bekannten suche ihn nach Rückkehr von dem Fest noch auf, öffnete, ohne das Messer wegzulegen, die Tür. L. drang sofort in den Flur ein und sah Frau P. auf dem Boden liegen. In Verkennung der Situation ging er auf P. los, der vor ihm zurückwich und die linke Hand schützend vor seinen Kopf hielt. Mit der rechten Hand machte er zunächst ungezielte Abwehrbewegungen, mit denen er L. oberflächliche Schnittverletzungen zufügte. Als dieser weiterhin versuchte, P. mit Faustschlägen zu treffen, stieß P. zweimal das Messer in L.'s Oberkörper. L. sank zusammen und verstarb kurze Zeit später.
Den Freispruch begründete das Schwurgericht damit, daß P. in Notwehr gehandelt habe; er sei L. von Statur und Körperkraft unterlegen und auf den Angriff nicht gefaßt gewesen. Der Angegriffene könne dasjenige für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lasse. P. sei 30 Jahre älter und erheblich kleiner als L. gewesen. Die beiden oberflächlichen Schnittverletzungen, die P. dem L. mit dem Messer beigebracht habe, hätten zur Abwehr des Angriffs nicht ausgereicht, so daß die Stiche in die Brust des L. durch Notwehr gerechtfertigt seien.
Mit Bescheiden vom 19. Mai 1995 erkannte die Hessische Ausführungsbehörde den Klägern ab 7. Juni 1987 eine Rente im Hinblick auf § 539 Abs 1 Nr 9c Reichsversicherungsordnung (RVO) zu (Leistungen aus der Unfallversicherung für Personen, die sich zum Schutz eines widerrechtlich Angegriffenen persönlich einsetzen). Am 10. August 1987 beantragten die Kläger Versorgungsleistungen nach dem OEG. Mit Bescheiden vom 3. Mai 1990 und bestätigenden Widerspruchsbescheiden vom 22., 23. und 24. Oktober 1990 lehnte der Beklagte die Anträge ab.
Das Sozialgericht Frankfurt am Main (SG) hat mit Urteil vom 7. Dezember 1993 die Klage abgewiesen. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung der Kläger unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide sowie des Urteils des SG den Beklagten verurteilt, den Klägern Hinterbliebenenversorgung nach dem OEG iVm mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab 1. Juli 1987 zu gewähren (Urteil vom 5. März 1998). Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Hinterbliebenenversorgung nach § 1 Abs 8 iVm Abs 1 Satz 1 OEG sowie §§ 38 und 45 BVG lägen vor. Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des Schwurgerichts sei L. durch einen gegen ihn gerichteten vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff getötet worden. Der Angriff sei rechtswidrig, weil er nicht durch Notwehr iS von § 32 Strafgesetzbuch (StGB) geboten und gerechtfertigt gewesen sei. L. habe geglaubt, der bedrängten Ehefrau des P. zu Hilfe kommen zu müssen. Die damit gegebene Putativ-Nothilfesituation habe das Notwehrrecht des P. eingeschränkt, auch wenn er dies nicht erkannt habe oder nicht habe erkennen können. Infolgedessen hätte er das Messer auch unter Berücksichtigung seiner körperlichen Unterlegenheit nicht zu gezielten Stichen in den Brustkorbbereich einsetzen dürfen. P. habe sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum über die Einschränkung seines Notwehrrechts befunden. Gemäß § 1 Abs 1 Satz 2 OEG werde dadurch die Opferentschädigung jedoch nicht ausgeschlossen. Die Hinterbliebenenversorgung sei auch nicht nach § 2 OEG zu versagen. Weder habe L. die Schädigung (mit)verursacht, noch seien Gründe in seinem Verhalten erkennbar, die die Leistungen unbillig erscheinen ließen.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 1 Abs 1 OEG und macht geltend: Nach den überzeugenden Ausführungen des Schwurgerichts seien die Messerstiche als Abwehrhandlung iS der Notwehr geboten gewesen. Eine vom Schwurgericht abweichende Beurteilung des gleichen Sachverhalts durch das LSG wäre nur möglich gewesen, wenn das LSG aufgrund weiterer Beweiserhebung zu neuen Erkenntnissen und Feststellungen gelangt oder die Beurteilung des Schwurgerichts erkennbar fehlerhaft gewesen wäre.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. März 1998 aufzuheben und die Berufung der Kläger gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 7. Dezember 1993 zurückzuweisen.
Die Kläger beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Sie tragen vor: Entgegen der Auffassung des Beklagten gebiete das OEG – wie auch das Bundessozialgericht ≪BSG≫ (SozR3-3800 § 1 Nr 1) entschieden habe – eine vom Straf- und Zivilverfahren unabhängige Beweiswürdigung durch die Tatsachengerichte. Infolgedessen habe das LSG im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu einem anderen Ergebnis als das Schwurgericht kommen dürfen.
II
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das LSG das Urteil des SG sowie die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Klägern ab 1. Juli 1987 Hinterbliebenenversorgung nach den Bestimmungen des OEG iVm denjenigen des BVG zu gewähren.
Die Voraussetzungen für die Ansprüche der Kläger aus abgeleitetem Recht (vgl BSGE 79, 87, 88 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5; BSGE 60, 186, 187 = SozR 3800 § 1 Nr 8) liegen vor. Das LSG hat aufgrund der von ihm getroffenen, mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffenen und damit für den Senat bindenden (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) Feststellungen angenommen, daß L. an den Folgen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG gestorben ist.
1. Ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen hat das Berufungsgericht zu Recht die gezielt auf den Brustkorb des L. gerichteten Messerstiche als einen tätlichen Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG gewertet, nämlich als eine in (rechts-)feindlicher Absicht unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung (vgl hierzu BSGE 81, 288, 289 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12; BSGE 81, 42, 43 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11; BSGE 77, 11, 13 = BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 7; SozR 3-800 § 10a Nr 1 S 3). Es durfte auch vom Tathergang auf die innere Tatseite schließen (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3 mwN) und – in Übereinstimmung mit dem Schwurgericht – annehmen, daß P. mit dolus eventualis gehandelt hat (vgl zum dolus eventualis: BSGE 81, 288, 291 = SozR 3-3800 § 1 Nr 12). Denn der gezielt auf den Brustkorb gerichtete Einsatz des 4 cm breiten, 20 cm langen Messers stellte eine äußerst gefährliche Gewaltanwendung dar, so daß davon ausgegangen werden kann, P. habe auch den Tod des L. billigend in Kauf genommen.
2. Zu Recht ist das LSG zu dem Ergebnis gekommen, daß die Tathandlung des P. – entgegen der Auffassung des Schwurgerichts – nicht durch ein Notwehrrecht geboten und damit rechtswidrig war.
a. Das LSG war – unabhängig von der strafgerichtlichen Beurteilung der Tat – aufgrund der tatsächlichen Feststellungen, die es dem Urteil des Schwurgerichts entnehmen durfte (vgl BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24; BSGE 52, 281, 284 = SozR 3800 § 2 Nr 3), befugt, eine eigenständige Würdigung vorzunehmen (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 1 S 3f; 1500 § 128 Nr 35 S 38; BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24).
b. Bei der Beurteilung der Rechtswidrigkeit des Angriffs war insbesondere zu prüfen, ob der Rechtfertigungsgrund der Notwehr iS von § 32 StGB eingreift. Das OEG knüpft an strafrechtliche Begriffe an. Sie wirken unmittelbar in das Recht der Opferentschädigung hinein, auch soweit sie die Strafrechtsdogmatik betreffen (vgl Wulfhorst, VSSR 1997, 185, 187). Dementsprechend schließt Notwehr die Rechtswidrigkeit des Angriffs iS des § 1 Abs 1 OEG aus. Der Rechtfertigungsgrund beurteilt sich nach den Rechtsmaßstäben, die in § 32 StGB festgelegt und ergänzend durch die Rechtsprechung entwickelt worden sind (vgl hierzu BSGE 60, 147, 149 = SozR 1300 § 45 Nr 24). Der Gesetzgeber des OEG hat sich zur klaren Abgrenzung der zur Entschädigung verpflichtenden Gewalttaten und zum Zwecke einer einfachen und überschaubaren Regelung eng an die Terminologie des StGB angelehnt (vgl hierzu BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 5 S 18; BT-Drucks 7/2506 S 10, 14). Strafrechtliche Vorschriften sind ein Indiz dafür, welche Tatbestände der Staat als Rechtsbruch bewertet, und damit auch ein Hinweis darauf, für welche Tatbestände der Staat den Opfern der Gewaltkriminalität – als Folge seines Versagens, den Schutz der Rechtsordnung zu gewährleisten (vgl BT-Drucks 7/2506 S 10; Wulfhorst, aaO, S 188) – Entschädigung leisten will. Geschützt und entschädigt werden sollen nur diejenigen Personen, deren Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit infolge eines Rechtsbruchs verletzt wird und die dadurch einen Schaden erleiden. Geht man hiervon aus, so entfällt die Einstandspflicht des Staates, wenn trotz des verletzten schützenswerten Rechtsguts ein objektiver Unrechtstatbestand iS einer Rechtswidrigkeit nicht gegeben ist, weil die Rechtsordnung dem Täter ein Eingriffsrecht verleiht (vgl hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl, RdNrn 54 ff vor § 13). In diesen Fällen steht die Handlung objektiv nicht im Widerspruch zur Rechtsordnung.
c. Ein Notwehrrecht nach § 32 StGB, das allein als Rechtfertigungsgrund für die tödlichen Verletzungen des L. in Betracht kommt, stand P. nicht zur Seite. Notwehr ist nach Abs 2 aaO nur diejenige Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden; die Notwehr muß darüber hinaus auch nach § 32 Abs 1 StGB „geboten” sein. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt.
aa. Zwar bestand nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG eine Notwehrlage. Es lag ein gegenwärtiger, gegen die körperliche Unversehrtheit des P. gerichteter Angriff vor, als der wesentlich jüngere, durchtrainierte L. sofort nach Öffnen der Eingangstür mit Fäusten auf den älteren, kleineren und durch einen Bandscheibenschaden beeinträchtigten P. losging. Wenngleich L. dem P. noch keine Verletzungen zugefügt hatte, war jedoch erkennbar, daß solche unmittelbar bevorstanden (vgl hierzu BGHR StGB § 32 Abs 2 Angriff 5, Wessels, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 27. Auflage, RdNr 328). Dies genügt für die Annahme eines gegenwärtigen Angriffs.
Es handelte sich auch um einen „rechtswidrigen” Angriff. L. konnte sich nicht auf den die Rechtswidrigkeit ausschließenden Nothilfetatbestand des § 32 StGB stützen. Denn eine Nothilfesituation lag nicht vor. L. nahm zwar an, daß Frau P. einem Angriff des P. ausgesetzt war. Dies beruhte jedoch auf einer Verkennung der Situation und schloß die Rechtswidrigkeit seiner Handlung nicht aus (sog Fall der Putativnothilfe). Da der Irrtum für L. aufgrund der besonderen Umstände – der Hilferufe der auf dem Boden liegenden Frau P., des mit einem Messer vor ihm stehenden P. – unvermeidbar und somit nicht vorwerfbar war, schließt dies die Annahme schuldhaften Handelns, auch der fahrlässigen Begehung einer Tat (vgl hierzu BGH NJW 1989, 3027, 3028), aus. Die durch die Rechtsgutverletzung indizierte Rechtswidrigkeit entfällt damit allerdings nicht (vgl hierzu Wessels, aaO, RdNr 352). Deshalb durfte sich P. zur Wehr setzen. Denn die Notwehr setzt lediglich einen rechtswidrigen Angriff, nicht aber schuldhaftes Verhalten des Angreifers voraus (vgl Roxin, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 3. Aufl, § 15 RdNrn 17 ff; Lenckner in Schönke/Schröder, § 32 RdNr 24).
bb. Das von P. gewählte Verteidigungsmittel, der gezielte Einsatz des Messers, war auch objektiv erforderlich, um den rechtswidrigen Angriff des L. abzuwehren. Erforderlich ist alles, was zu einer wirksamen Verteidigung gehört, eine möglichst sofortige Beendigung des Angriffs erwarten läßt und die endgültige Beseitigung der Gefahr am besten gewährleistet (vgl Wessels, aaO, RdNr 335); unter mehreren zur Auswahl stehenden geeigneten, gleich wirksamen Verteidigungsarten ist die mildeste, nicht mit dem unmittelbaren Risiko eigener Beeinträchtigung verbundene Abwehr zu wählen (vgl hierzu BGHR StGB § 32 Abs 2 Erforderlichkeit 5; Roxin, aaO, § 15 RdNr 42f; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNrn 34 ff). Einer Verhältnismäßigkeit zwischen angegriffenem und verletztem Rechtsgut bedarf es aber grundsätzlich nicht (vgl Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 34; Roxin, aaO, § 15 RdNr 47; Wessels, aaO, RdNr 340). Welches Verteidigungsmittel in diesem Sinne erforderlich ist, beurteilt sich nach einem objektiven Maßstab (vgl Roxin, aaO, § 15 RdNr 46; Wessels, aaO, RdNr 338; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 34). Es kommt darauf an, was ein objektiver, besonnener Dritter zum Zeitpunkt des Tatgeschehens für erforderlich halten durfte (BGH NJW 1969 S 802; Roxin, aaO, RdNr 46; Wessels, aaO, RdNr 338; aA wohl Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 34, der auch nachträglich bekannt gewordene Umstände zur Beurteilung heranziehen will). Dabei bestimmt sich der Rahmen der erforderlichen Verteidigung nach den gesamten Umständen, unter welchen sich Angriff und Abwehr abspielen; insbesondere sind von Bedeutung Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen (BGH NJW 1989 S 3027; BGHR StGB § 32 Abs 2 Erforderlichkeit 9). Ein Ausweichen ist dem Angegriffenen grundsätzlich nicht zumutbar (Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 40). Insoweit gilt der Grundsatz, daß das Recht dem Unrecht nicht zu weichen braucht (vgl Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 1; Wessels, aaO, RdNr 340). Auch derjenige, der den Prügeln des Angreifers entgehen will und diesen ersticht, handelt in Notwehr, wenn zur Abwehr einfache körperliche Gewalt (Fausthiebe) nicht ausreicht (vgl hierzu Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 36a). Geht man von diesen, von Rechtsprechung und Lehre entwickelten Grundsätzen aus, so durfte P. – nach seinen ersten vergeblichen Abwehrhandlungen – das Messer gezielt zur Abwehr einsetzen. Denn er war durch seinen Bandscheibenvorfall behindert und dem wesentlich jüngeren durchtrainierten L. körperlich weit unterlegen. Die von P. getroffene Wahl des Verteidigungsmittels ließ eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten.
cc. Obgleich die Notwehrhandlung demnach erforderlich war, war sie jedoch nicht iS von § 32 Abs 1 StGB geboten. Im Unterschied zur Erforderlichkeit der Verteidigungshandlung, die sich allein nach den tatsächlichen Gegebenheiten, insbesondere nach der Art und Stärke des Angriffs, richtet, beurteilt sich das Gebotensein der Notwehr nach normativen und sozialethischen Erwägungen (vgl hierzu Wessels, aaO, RdNr 345; Roxin, aaO, § 15 RdNr 53).
Der Gesetzgeber des Allgemeinen Teils des StGB von 1975 hat das Merkmal „geboten” eingefügt, weil das Notwehrrecht aus sozialethischen Gründen einer Begrenzung in den Fällen bedarf, die keine Rechtfertigung verdienen (vgl BT-Drucks V/4095 S 14). Diese Einschränkung ergibt sich aus den beiden Prinzipien des Notwehrrechts, das sowohl dem Schutz von Rechtsgütern des Täters bzw eines Dritten dient als auch der Erhaltung und Bewährung der Rechtsordnung (vgl BGHSt 24, 356, 359; Roxin, aaO, § 15 RdNrn 1 ff; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 47). Es ist daher legitim, das Recht auf Notwehr dort einzuschränken, wo das Bedürfnis nach Rechtsbewährung geringer ist als sonst (vgl hierzu Roxin, aaO, § 15 RdNr 54). Sozialethisch begründete Einschränkungen des Notwehrrechts kommen im Hinblick auf dessen Zweckbestimmung bei Personen mit familiären Bindungen in Betracht (vgl BGHR StGB § 33 Furcht 3; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 53) und bei provozierten Angriffen (BGHSt 26, 143, 146; BGHR StGB § 32 Abs 2 Verteidigung 10, 11; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 54) sowie – zumindest im Rahmen des OEG – bei schuldlos Handelnden, etwa bei Angriffen von Kindern, Geisteskranken, sinnlos Betrunkenen und unvermeidbar Irrenden (vgl hierzu Bay ObLG, MDR 1986, 956, 957; OLG Frankfurt, VRS 40, 424, 426; OLG Hamm, NJW 1977, 590, 592; Kunz/Zellner, OEG, 3. Aufl, § 1 RdNr 18; Roxin, aaO, § 15 RdNr 57; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNr 52). In den letztgenannten Fällen wird die Rechtsordnung im Hinblick auf den schuldlos Handelnden nicht derart schwer verletzt, so daß das Interesse an der Rechtsbewährung in den Hintergrund tritt. Als Folge davon muß der Täter dem Angriff – soweit möglich – ausweichen oder sich eines weniger gefährlichen Verteidigungsmittels bedienen (vgl BGHR StGB § 32 Abs 2 Verteidigung 10; BGHSt 42, 97, 100 f; 26, 143, 146 f).
Ausgehend von diesen in erster Linie von der Strafrechtslehre entwickelten (vgl Roxin, aaO, § 15 RdNrn 53 ff; Lenckner in Schönke/Schröder, aaO, § 32 RdNrn 45 ff), aber auch in der Rechtsprechung zum Ausdruck gekommenen Grundsätzen (vgl Bay ObLG, MDR 1986, 956, 957; OLG Hamm, NJW 1977, 590, 592) war das Notwehrrecht des P. gegenüber L. eingeschränkt, der irrtümlich eine Nothilfesituation annahm und dem insoweit, weil dieser Irrtum unvermeidbar war, kein Schuldvorwurf gemacht werden kann. Zur Beurteilung der Frage, welche Notwehrhandlung in diesem Fall geboten gewesen wäre, ist im Interesse eines effektiven Opferschutzes ebenfalls auf die Sicht eines objektiven Dritten abzustellen (vgl hierzu entsprechend BSGE 81, 42, 44 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11). Denn allein diese Betrachtungsweise, die auch die konkrete Situation berücksichtigt, gibt Aufschluß darüber, ob die Handlung den für jedermann geltenden Sollensanforderungen entspricht. In der Person des Handelnden begründete individuelle Besonderheiten und Zufälligkeiten bleiben dabei außer Betracht. Für einen objektiven, besonnenen Beobachter zum Zeitpunkt des Tatgeschehens wäre erkennbar gewesen, daß L. sich in einem Irrtum über die Nothilfesituation befand. Hierfür spricht, daß er erst Einlaß begehrte, nachdem er Hilferufe gehört hatte und daß P. ihm mit dem Messer in der Hand die Tür öffnete, während Frau P. im Flur auf dem Boden lag. In dieser Situation wäre P. zuzumuten gewesen, sich so zu verhalten, daß L. seinen Irrtum hätte erkennen können, oder das Messer nicht gezielt auf den Brustkorb, sondern zur Abwehr auf Arme oder Beine des L. zu richten. P. hätte aber auch in die Küche oder in den hinteren Flurbereich, wo sich Frau P. befand, ausweichen können.
Falls sich P. über das Gebotensein der Notwehrhandlung geirrt haben sollte, würde dies, unabhängig davon, wie ein solcher Irrtum strafrechtlich einzuordnen ist, den natürlichen, auf die Angriffshandlung gerichteten Vorsatz, den § 1 Abs 1 Satz 1 OEG voraussetzt, nicht entfallen lassen. Nach § 1 Abs 1 Satz 2 OEG wird die Versorgung nach dem OEG – insofern korrespondierend zu Satz 1 aaO – nämlich nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer irrtümlich die Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes annimmt. Denn der Entschädigungsanspruch nach § 1 OEG knüpft allein an ein vorsätzliches, objektiv rechtswidriges, rechtsfeindliches Verhalten; ein nach der jeweiligen Schuld des Täters nach individuellem Maßstab zu bewertendes Handeln und eine strafrechtliche Verantwortlichkeit wird hingegen vom OEG nicht verlangt.
3. Der Anspruch auf Versorgung wird hier nicht durch § 2 OEG ausgeschlossen. Nach der genannten Vorschrift sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung (mit)verursacht hat (1. Alternative), oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in seinem eigenen Verhalten liegenden Gründen unbillig wäre (2. Alternative), Entschädigung zu gewähren. Keine der beiden Alternativen ist im vorliegenden Falle gegeben.
a. Wesentlich mitverursacht iS des § 2 Abs 1 OEG (Sonderfall der Unbilligkeit) hat das Opfer die Schädigung, wenn sein Verhalten in etwa dem Tatbeitrag des Schädigers gleichwertig ist. Bei der Beurteilung sind die Einzelursachen zu werten und in ihrer Bedeutung zu gewichten; dabei dürfen im Opferentschädigungsrecht subjektive Gesichtspunkte nicht außer Betracht gelassen werden (vgl BSGE 78, 270, 271 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 4). Ein Leistungsausschluß ist nur dann gerechtfertigt, wenn das Verhalten des Tatopfers von der Rechtsordnung in gleicher Weise wie dasjenige des Angreifers mißbilligt wird.
Im Falle eines in Putativnotwehr Handelnden hat das BSG bereits ausgeführt (BSGE 78, 270, 273 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 4): Handeln beide am Geschehensablauf Beteiligte rechtswidrig, so schließt die Rechtswidrigkeit des vom Opfer geleisteten Tatbeitrags einen Entschädigungsanspruch nach dem OEG nicht schlechthin aus. Es ist abzuwägen, ob der Tatbeitrag des Opfers als wesentlich anzusehen ist. Für die Beurteilung dieser Frage verbleiben in der Regel nur subjektive Gesichtspunkte. Entscheidend ist dann, ob das Opfer in rechtsfeindlicher Absicht (vorsätzlich) gehandelt hat. Sprechen die Umstände der am Opfer begangenen Gewalttat nicht gegen ein wenigstens subjektiv rechtstreues, den strafrechtlichen Vorsatz ausschließendes Verhalten des Opfers bei der Mitverursachung der Gewalttat, so ist zu seinen Gunsten davon auszugehen, daß es die Gewalttat und damit die Schädigung nicht wesentlich mitverursacht hat.
Das ist hier der Fall. Denn L. wollte sich gerade nicht rechtsfeindlich verhalten, sondern der Ehefrau des P. zu Hilfe kommen. Darüber hinaus stehen sich auch die beiden Tatbeiträge nicht in etwa gleichwertig gegenüber. Der Beitrag des P., die Abwehr durch gezielte Messerstiche in den Brustkorb des L., wiegt schwerer, als der Tatbeitrag des L., der mit Faustschlägen auf den P. losging.
b. Der Anspruch auf Hinterbliebenenversorgung ist auch nicht etwa wegen Unbilligkeit gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 2. Alternative OEG zu versagen. Dieser Versagungsgrund liegt nur vor, wenn es nicht wegen einer die Schwelle der Mitverursachung erreichenden Tatbeteiligung des Opfers, sondern aus sonstigen, insbesondere in seinem eigenen Verhalten liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren (vgl BSGE 79, 87, 88 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5). Hat der Tatbeitrag die Schwelle der Mitverursachung – wie hier – nicht erreicht, so kann er demnach im Rahmen der 2. Alternative nicht allein aus diesem Grund, sondern nur aus sonstigen zusätzlichen Gründen zur Unbilligkeit von Versorgungsleistungen führen (BSGE 79, 87, 91 = SozR 3-3800 § 2 Nr 5). Solche liegen hier ersichtlich nicht vor.
4. Das LSG hat somit zu Recht den Klägern dem Grunde nach Versorgungsleistungen nach dem OEG gemäß § 1 Abs 8 iVm § 3 sowie §§ 38, 45 BVG iVm § 65 Abs 1 und 4 BVG ab 1. Juli 1987 (§ 61 Buchst a BVG) zuerkannt. Ebenso zutreffend ist es davon ausgegangen, daß gemäß § 65 BVG diese Ansprüche in Höhe der Bezüge aus der gesetzlichen Unfallversicherung ruhen, da beide Ansprüche auf derselben Ursache, demselben Schadensereignis, beruhen. Dieser Sachverhalt läßt den zugrundeliegenden Anspruch auf Leistungen nach dem OEG bestehen, schränkt aber seine Verwirklichung zu Lasten des anderen Sicherungssystems bis zur Höhe der Leistungen aus diesem System, hier: der gesetzlichen Unfallversicherung, ein (vgl hierzu BSGE 52, 281, 290 = SozR 3800 § 2 Nr 3; SozR 3-3100 § 65 Nr 3 S 14).
Die Revision hat nach alledem keinen Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
BSGE, 54 |
NJW 1999, 2301 |
JZ 2000, 96 |
SGb 1999, 357 |
Breith. 1999, 880 |
JURAtelegramm 2000, 202 |