Leitsatz (amtlich)
Solange der Wandergewerbeschein beim Arbeitsamt nicht hinterlegt ist, gilt der Inhaber auch dann nicht als arbeitslos, wenn er seine gewerbliche Tätigkeit nicht aufgenommen hat.
Normenkette
AVAVG § 87a Abs. 1 S. 2; AVAVG 1927 § 87a Abs. 1 S. 2; AVAVG § 75 Abs. 4 Fassung: 1957-04-03
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. September 1956 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Auf den Antrag vom 8. November 1953 bewilligte das Arbeitsamt Erkelenz dem Kläger vom 16. November 1953 an Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu). Am 21. Januar 1954 forderte es ihn auf, den Wandergewerbeschein vorzulegen, von dessen Ausstellung es inzwischen erfahren hatte. Am 23. Januar 1954 erklärte der Kläger, er sei erst von diesem Tage an als Wandergewerbetreibender tätig, habe aber nicht gewußt, daß er den Wandergewerbeschein habe abgeben müssen, um Unterstützung beziehen zu können. Nach Mitteilung des Oberkreisdirektors des Kreises Geilenkirchen-Heinsberg wurde der Wandergewerbeschein am 16. November 1953 ausgehändigt und am 8. Januar 1954 bis zum 31. Dezember 1954 verlängert. Durch Verfügung vom 31. März 1954 wurde die Alfu vom 16. November 1953 an entzogen; der Kläger besitze seit diesem Tage einen Wandergewerbeschein und sei nach § 87a des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) a.F. nicht als arbeitslos anzusehen. Gleichzeitig wurde festgestellt, die Alfu vom 16. November 1953 bis zum 13. Januar 1954 im Betrage von 434,15 DM sei zu Unrecht gewährt, jedoch nur in Höhe von 200.-- DM zu erstatten. Den Widerspruch gegen die Zahlungsaufforderung vom 31. März 1954 wies die Widerspruchsstelle des Arbeitsamtes mit Bescheid vom 29. April 1954 zurück.
Das Sozialgericht (SG.) Köln hob durch Urteil vom 25. März 1955 die Bescheide vom 31. März und 29. April 1954 auf und stellte fest, die Beklagte sei nicht berechtigt, die Alfu zurückzufordern; § 87a Abs. 1 Satz 2 AVAVG a.F. enthalte eine Vermutung; der Beweis des Gegenteils sei nach § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Verbindung mit § 292 der Zivilprozeßordnung zulässig; solange der Kläger das Wandergewerbe nicht ausgeübt habe, sei er als arbeitslos anzusehen. Berufung wurde zugelassen.
Die Beklagte legte am 9. August 1955 Berufung ein und beantragte, das Urteil des SG. Köln aufzuheben. Für die Frage, ob jemand selbständiger Gewerbetreibender und nach § 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG nicht als arbeitslos anzusehen sei, komme es auf die Ausübung des Gewerbes an; Wandergewerbetreibende gälten dagegen nach § 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG nur als arbeitslos, wenn der Wandergewerbeschein beim Arbeitsamt hinterlegt sei. Solange sie ihn besäßen, seien sie nicht als arbeitslos zu betrachten, auch wenn das Wandergewerbe nicht ausgeübt worden sei. Insoweit liege eine nicht widerlegbare Fiktion vor.
Das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen wies durch Urteil vom 13. September 1956 die Berufung zurück. Zwar enthalte § 87a Abs. 1 Satz 2 AVAVG weder eine Fiktion noch eine Rechtsvermutung. Solange der Kläger aber das Wandergewerbe nicht ausgeübt habe, sei er nicht selbständiger Gewerbetreibender geworden und deshalb als arbeitslos anzusehen. Wie bei selbständigen Gewerbetreibenden sei auch bei Wandergewerbetreibenden die Arbeitslosigkeit danach zu beurteilen, ob das Gewerbe ausgeübt werde oder nicht. Werde es nicht ausgeübt, so sei § 87a Abs. 1 Satz 2 AVAVG nicht anwendbar; Satz 1 gelte für alle selbständigen Gewerbetreibenden, möge das Gewerbe als stehendes oder im Umherziehen betrieben werden. Selbständige Gewerbetreibende könnten bis zur endgültigen Aufgabe des Gewerbebetriebes auch dann nicht als arbeitslos angesehen werden, wenn sie das Gewerbe tatsächlich nicht mehr ausüben. Wandergewerbetreibende dagegen schon dann, wenn sie ihren Wandergewerbeschein beim Arbeitsamt hinterlegen. Mit den Worten "Inhaber von Gewerbelegitimationen, Wandergewerbe- und Hausierscheinen..." sollten nur die selbständigen Gewerbetreibenden bezeichnet werden, für die diese Ausnahme gelte. Revision wurde zugelassen.
Das Urteil wurde der Beklagten am 26. Januar 1957 zugestellt; am 19. Februar 1957 legte sie Revision ein. Sie beantragte, die Urteile des LSG. und des SG. aufzuheben und die Klage abzuweisen; hilfsweise beantragte sie, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Nach § 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG komme es nicht auf die Ausübung des Wandergewerbes an; Inhaber von Wandergewerbescheinen seien ohne weiteres nicht als arbeitslos anzusehen, solange sie im Besitz ihres Wandergewerbescheines seien.
II.
Die Revision ist zulässig. Das LSG. hat sie zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und die Beklagte, die beschwert ist, hat sie in der gesetzlichen Frist formgerecht eingelegt. Die Revision ist auch begründet.
Inhaber von Wandergewerbescheinen gelten, auch wenn sie das Wandergewerbe noch nicht ausgeübt haben, nur als arbeitslos, solange sie den Wandergewerbeschein beim Arbeitsamt hinterlegt haben (BSG. 3 S. 224 [229]; Hessisches LSG., SGb. 1955, S. 121, OVA Stuttgart, Breithaupt 1954, S. 237; anderer Ansicht Rohwer-Kahlmann, SGb. 1955, S. 121, Bayerisches LSG. Breithaupt 1954, S. 87).
Nach § 87 a Abs. 1 und 2 AVAVG in der hier maßgebenden Fassung der Verordnung Nr. 111 der Militärregierung der britischen Zone (Arbeitsblatt für die Britische Zone 1947, S. 382) ist in bestimmten Fällen Arbeitslosigkeit im Sinne der Arbeitslosenversicherung zu verneinen oder nur unter besonderen Voraussetzungen anzunehmen. Diese Vorschrift gilt auch für die Arbeitslosenfürsorge (Art. III der Verordnung Nr. 117 der Militärregierung über die Arbeitslosenfürsorge in der britischen Zone). So sind selbständige Gewerbetreibende nicht als arbeitslos anzusehen (§ 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG); Inhaber von Gewerbelegitimationen, Wandergewerbescheinen oder Hausierscheinen sowie die als Begleiter in solchen Scheinen eingetragenen Personen gelten bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen nur als arbeitslos, solange diese Papiere beim Arbeitsamt hinterlegt sind (§ 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG). In diesen Fällen ist die Arbeitslosigkeit nicht nur nach den allgemeinen Voraussetzungen, sondern auch nach den besonderen Merkmalen zu beurteilen, die für jede Gruppe selbständig und ausschließlich geregelt sind. Für das Merkmal "selbständiger Gewerbetreibender" ist die Ausübung eines Gewerbes entsprechenden Umfange maßgebend; selbständiger Gewerbetreibender in diesem Sinne ist nur, wer unter seinem Namen und auf seine Rechnung entweder selbst oder durch andere ein Gewerbe betreibt, das nach allgemeiner Anschauung Lebensgrundlage zu sein pflegt (BSG. 2 S. 67 [74]). Nur dann ist für selbständige Gewerbetreibende nach § 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG die Arbeitslosigkeit zu verneinen. Bei Wandergewerbetreibenden dagegen genügt es, daß sie Inhaber eines Wandergewerbescheines sind; solange sie ihn besitzen, gelten sie nicht als arbeitslos. Hier kommt es schon nach dem Wortlaut im Gegensatz zu § 87 a Abs. 1 Satz 1 AVAVG nur auf den Besitz des Wandergewerbescheines, aber nicht darauf an, ob sie die entsprechenden gewerblichen Tätigkeiten auch ausüben und ob diese nach allgemeiner Anschauung Lebensgrundlage zu sein pflegen. Nach § 55 der Gewerbeordnung (GewO) bedarf eines Wandergewerbescheins, wer "ohne Begründung einer gewerblichen Niederlassung und ohne vorhergehende Bestellung in eigener Person" gewerbliche Tätigkeiten der in § 55 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 bezeichneten Art betreibt; er kann es für eigene oder fremde Rechnung tun. Der Inhaber eines Wandergewerbescheines braucht nicht selbständiger Gewerbetreibender zu sein; er kann auch als Arbeitnehmer für einen bestimmten Arbeitgeber tätig sein (§ 60 d Abs. 2 GewO, Grundsätzliche Entscheidung des Reichsversicherungsamts Nr. 4746, AN S. 67). In jedem Falle ist die Arbeitslosigkeit von Inhabern eines Wandergewerbescheines nach dem strengen Maßstab des § 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG zu beurteilen. Sie dürfen auch dann nicht als arbeitslos angesehen werden, wenn sie das Gewerbe im Umherziehen noch nicht begonnen haben.
Dies ergibt sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 87 a Abs. 1 AVAVG. Diese Vorschrift geht zurück auf § 89 a Abs. 1 und 3 AVAVG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des AVAVG vom 12. Oktober 1929 (RGBl. I S. 162). Nach § 89 a Abs. 1 AVAVG ist u.a. nicht arbeitslos gewesen, wer den erforderlichen Lebensunterhalt durch selbständige Arbeit, insbesondere auch als Gewerbetreibender, hat erwerben oder im Betriebe von Verwandten oder des Ehegatten hat miterwerben können; Inhaber von Wandergewerbescheinen sind in keinem Fall als arbeitslos anzusehen gewesen (§ 89 a Abs. 3 AVAVG). Für diese Gruppe ist die Arbeitslosigkeit ausnahmslos verneint worden. Zum Unterschied von den Fällen des § 89 a Abs. 1 ist es nicht darauf angekommen, in welchem Umfange das Wandergewerbe ausgeübt und welcher Verdienst daraus erzielt worden ist (Grundsätzliche Entscheidung des Reichsversicherungsamts Nr. 3905, AN 1930, S. 484). Nicht anders ist die Rechtslage, wenn die Arbeitslosigkeit von Inhabern eines Wandergewerbescheines nach § 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG zu beurteilen ist, der insoweit an den Besitz des Wandergewerbescheins die gleiche Folge knüpft wie der alte § 89 a AVAVG. Solange der Wandergewerbeschein beim Arbeitsamt nicht hinterlegt ist, gilt der Inhaber auch dann nicht als arbeitslos, wenn er seine gewerbliche Tätigkeit nicht ausgeübt hat.
Der Kläger ist vom 16. November 1953 an Inhaber eines Wandergewerbescheines gewesen; er hat den Wandergewerbeschein nicht hinterlegt. Von diesem Zeitpunkt an gilt er deshalb nicht mehr als arbeitslos und hat keinen Anspruch auf Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (§§ 87, 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG). Das auf einer unrichtigen Anwendung des § 87 a Abs. 1 Satz 2 AVAVG beruhende Urteil des LSG. ist daher aufzuheben.
Soweit der Kläger nicht mehr arbeitslos ist, ist die Alfu zu entziehen und festzustellen, ob und inwieweit die zu Unrecht geleisteten Beträge zu erstatten sind. Soweit die Rückforderung angefochten ist, hat das LSG. keine Feststellungen getroffen; von seinem Rechtsstandpunkt hat es dazu auch keinen Anlaß gehabt. Die hierzu notwendigen Feststellungen darf aber das Bundessozialgericht nicht selbst treffen. Die Sache ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten ist dem Schlußurteil vorzubehalten.
Fundstellen