Orientierungssatz
Verwaltungsakte, in denen der Versicherungsträger eine Rentenleistung nach Ablauf der Verjährungsfrist des RVO § 29 Abs 3 ausschließlich wegen der Verjährung ablehnt, sind aufgrund des SGG § 79 Nr 1 vor der Klageerhebung in einem Vorverfahren nachzuprüfen (Bestätigung von BSG 1966-02-28 4 RJ 543/65 = SozR Nr 14 zu § 79 SGG).
Normenkette
RVO § 29 Abs. 3 Fassung: 1911-07-19; SGG § 79 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Main vom 14. Januar 1965 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Klägerinnen hatten im November 1949 Hinterbliebenenrenten aus der Versicherung ihres kriegsverschollenen Ehemannes und Vaters beantragt und die Frage, ob er auch in der Invalidenversicherung versichert gewesen sei, verneint. Daraufhin hatte die Landesversicherungsanstalt (LVA) Hessen, die damals die Aufgaben der Angestelltenversicherung mit wahrnahm, die Hinterbliebenenansprüche ab April 1945 aus den Beiträgen zur Angestelltenversicherung errechnet und gleichzeitig festgestellt, daß eine Leistung aus der Invalidenversicherung nicht zustehe. Der Bescheid blieb unangefochten.
Im Oktober 1963 baten die Klägerinnen um eine Überprüfung der Renten. Dabei ergab sich, daß der Verstorbene auch Beiträge zur Arbeiterrentenversicherung entrichtet hatte. Die Beklagte berechnete deshalb mit Bescheid vom 24. Januar 1964 die Hinterbliebenenrenten, allerdings erst mit Wirkung vom 1. November 1959, neu; sie lehnte es ab, die höheren Leistungen auch für die vorhergehende Zeit zu gewähren, weil die Leistungsansprüche insoweit verjährt seien. Die Klägerinnen erhoben Klage zum Sozialgericht (SG) Frankfurt/Main mit dem Antrag, den Bescheid vom 24. Januar 1964 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Witwen- und Waisenrente auch für die Zeit von April 1945 bis Oktober 1959 unter zusätzlicher Anrechnung der Beiträge zur Invalidenversicherung zu gewähren. Das SG wies die Klage durch Urteil vom 14. Januar 1965 ab. Es war der Ansicht, daß die Beklagte sich auf die eingetretene Verjährung berufen dürfe.
Mit der Sprungrevision, die die Klägerinnen anstelle der zugelassenen Berufung mit Einwilligung der Beklagten einlegten, beantragten sie,
das Urteil des SG aufzuheben und nach ihrem erstinstanzlichen Antrag zu entscheiden.
Sie rügten eine mangelhafte Sachaufklärung und die Nichtbeachtung des § 1544 g der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF.
Die Beklagte beantragte (zuletzt),
den Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen.
Alle Beteiligten erklärten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 165, 153, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Sprungrevision ist zulässig (§§ 161, 164 SGG). Sie hat die Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Folge.
Der Senat kann nicht auf die Sache eingehen, weil dies erst nach Durchführung eines Vorverfahrens vor der Widerspruchsstelle der Beklagten möglich ist. Mit Beschluß vom 28. Februar 1966 (SozR Nr. 14 zu § 79 SGG) hat der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) entschieden, daß Verwaltungsakte, in denen der Versicherungsträger eine Rentenleistung nach Ablauf der Verjährungsfrist des § 29 Abs. 3 RVO ausschließlich wegen der Verjährung ablehnt, aufgrund des § 79 Nr. 1 SGG vor der Klageerhebung in einem Vorverfahren nachzuprüfen sind. Der erkennende Senat schließt sich dem an. Der hier gegebene Sachverhalt gleicht im wesentlichen dem, der der Entscheidung des 4. Senats zugrunde lag: Hier wie dort erstrebten die Kläger eine Neufeststellung ihrer Rentenansprüche nach den §§ 1300 RVO, 79 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); der Versicherungsträger gewährte darauf zwar eine höhere Rente, berief sich aber jeweils für einen vergangenen Zeitraum auf eine nach § 29 Abs. 3 RVO eingetretene Verjährung und lehnte ausschließlich deshalb eine Rentennachzahlung für diesen Zeitraum ab. Der 4. Senat hat mit Recht ausgeführt, daß unter solchen Umständen jedenfalls aufgrund des § 79 Nr. 1 SGG ein Vorverfahren stattfinden muß. Unter diese Bestimmung fallen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG alle Verwaltungsakte, die Ermessensentschließungen der Verwaltung zum Inhalt haben. Dazu gehört die Entscheidung, ob eine nach § 29 Abs. 3 RVO (§ 205 AVG) eingetretene Verjährung geltend gemacht werden soll. Das ergibt sich daraus, daß der Versicherungsträger sich zwar auf die Verjährung berufen kann, das aber nicht tun muß. Zutreffend stellt der 4. Senat auch fest, daß seiner Rechtsauffassung frühere Entscheidungen des BSG (darunter BSG 19, 93) nicht entgegenstehen, weil damals die Frage des Vorverfahrens nicht erörtert worden ist.
Die unterbliebene Durchführung des Vorverfahrens hat indessen nicht zur Folge, daß die Klage als unzulässig abgewiesen werden müßte. Da in der Klageschrift zugleich der erforderliche Widerspruch gegen den angefochtenen Verwaltungsakt liegt, ist vielmehr den Beteiligten Gelegenheit zu geben, das Vorverfahren zu Ende zu führen (BSG 20, 199). Zu diesem Zweck ist der Rechtsstreit an die Tatsacheninstanzen zurückzuverweisen. Im Falle der Sprungrevision liegt es im Ermessen des BSG, die Sache entweder an das SG oder an das übergangene Landessozialgericht (LSG) zurückzuverweisen (§ 171 Abs. 3 SGG). Im vorliegenden Falle erscheint dem Senat die Zurückverweisung an das LSG als zweckmäßig.
Das LSG wird nunmehr die Beklagte zur Erteilung des Widerspruchsbescheides aufzufordern und dann in der Sache zu entscheiden haben. Dabei hat das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu befinden.
Fundstellen