Entscheidungsstichwort (Thema)

Beginn des Härteausgleichs. Rückwirkungsverbot. Vereinbarkeit des BVG Abs 3 mit dem GG

 

Orientierungssatz

1. BVG § 89 Abs 3 idF vom 1975-12-18 gilt auch für Übergangsfälle, in denen eine vor dem 1976-01-01 beantragte Witwenbeihilfe als Härteausgleich erst nach diesem Zeitpunkt bewilligt wird (so auch BSG vom 1978-04-25 9/10 RV 43/77).

2. BVG § 89 Abs 3 nF ist nicht verfassungswidrig (so auch BSG vom 1978-04-25 9/10 RV 43/77). Der Gewaltenteilungsgrundsatz (GG Art 20 Abs 2 und 3) wird nicht dadurch verletzt, daß die Verwaltung den Zeitpunkt ihrer Entscheidung über einen Härteausgleich und damit dessen Beginn festlegen kann. Dies ist im Rahmen des Ermessens vertretbar. Die unterschiedliche Behandlung von Übergangsfällen und von abgeschlossenen Sachverhalten ist auch mit dem Gleichbehandlungsgebot (GG Art 3 Abs 1) vereinbar.

 

Normenkette

BVG § 89 Abs. 3 Fassung: 1975-12-18; AFGHStruktG Art. 2 § 1 Nr. 6 Fassung: 1975-12-18; GG Art. 20 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23, Abs. 3 Fassung: 1949-05-23, Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23; BVG § 48 Abs. 1 Fassung: 1975-12-18

 

Verfahrensgang

SG Koblenz (Entscheidung vom 08.12.1977; Aktenzeichen S 7 V 274/74)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 8. Dezember 1977 wird aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin, deren Ehemann an einem nicht als Schädigungsfolge anerkannten Leiden verstorben ist, beantragte im Oktober 1973 eine Witwenbeihilfe (§ 48 Abs 1 Satz 4 Bundesversorgungsgesetz - BVG -). Diese Leistung lehnte das Versorgungsamt zunächst ab (Bescheid vom 20. März 1974, Widerspruchsbescheid vom 27. August 1974). Während des anschließenden Rechtsstreits gewährte es der Klägerin nach einer Beweisaufnahme durch Bescheid vom 29. Juli 1976 Witwenbeihilfe als Härteausgleich, nach § 89 Abs 3 BVG in der Fassung des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur im Geltungsbereich des Arbeitsförderungs- und des Bundesversorgungsgesetzes (HStruktG-AFG) vom 18. Dezember 1975 (BGBl I 3113) - BVG nF - beginnend mit dem 1. Juli 1976. Die Klägerin vertrat die Auffassung, diese neue Vorschrift gelte nicht rückwirkend für die vor ihrem Inkrafttreten (1. Januar 1976) gestellten Anträge, und begehrte die Versorgung ab 1. Oktober 1973. Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide teils aufgehoben, teils abgeändert und den Beklagten verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. Oktober 1973 bis zum 30. Juni 1976 Witwenbeihilfe dem Grunde nach zu gewähren (Urteil vom 8. Dezember 1977; der Urteilstenor enthält mit der Nennung des Bescheides vom 10. Mai 1977 - statt 29. Juli 1976 - einen offensichtlichen Irrtum): Die Witwenbeihilfe als Härteausgleich beginne mit dem Antragsmonat (§§ 60 und 61 BVG) und nicht erst nach § 89 Abs 3 BVG idF des HStruktG-AFG mit dem Monat, in dem der Bewilligungsbescheid für die Verwaltung bindend wird. Das HStruktG enthalte keine entsprechende Übergangsvorschrift und biete auch sonst keinen Anhalt dafür, daß diese Bestimmung, abweichend von den §§ 60 und 61 BVG, in den Fällen gelten solle, in denen der Antrag bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes gestellt wurde und das Verfahren an diesem Stichtag noch abhängig war. Der Leistungsbeginn mit dem Antragsmonat folge auch zwanglos aus Art 2 § 2 Abs 3 HStruktG-AFG, wonach die Neufassung des § 48 Abs 1 BVG nur gelten solle, wenn der Beschädigte nach dem 1. Januar 1976 verstorben ist, es sei denn, daß diese Gesetzesänderung einen neuen Anspruch begründet. Demnach solle es, so das SG, für Leistungen nach einem vor dem 1. Januar 1976 eingetretenen Tod bei den Vorschriften verbleiben, die vor dem HStruktG-AFG galten.

Der Beklagte hat die vom SG zugelassene Sprungrevision eingelegt. § 89 Abs 3 BVG nF enthalte nach seinem Wortlaut und Zweck ein uneingeschränktes Verbot für rückwirkende Härteausgleichszahlungen. Das gelte auch für laufende Versorgungsleistungen, die mit allgemeiner Zustimmung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung gewährt werden. Der Leistungsbeginn sei außerdem für solche Zuwendungen als Ermessensleistungen pflichtgemäß von der Verwaltung zu bestimmen. Die Vorschrift des Art 2 § 2 Abs 3 HStruktG-AFG, auf die das SG seine Entscheidung unter anderem gestützt habe, könne hier nicht angewendet werden; sie beziehe sich allein auf die Grundvoraussetzungen des § 48 Abs 1 BVG nF, mithin nicht auf die Regelung des Leistungsbeginns.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Nach ihrer Auffassung fehlt im HStruktG-AFG eine Vorschrift über die Rückwirkung des § 89 Abs 3 BVG nF. Eine solche gesetzliche Anordnung wäre aber erforderlich gewesen, wenn diese Bestimmung auch für die vor dem 1. Januar 1976 gestellten Anträge gelten solle; denn die rückwirkende Anwendung eines Gesetzes sei eine Ausnahmeregelung. Die vom Beklagten für zutreffend erachtete Auslegung widerspreche außerdem den verfassungsrechtlichen Geboten des Art 3 Abs 1, des Art 20 Abs 1 und des Art 28 Abs 1 Grundgesetz (GG). Der Gesetzgeber könne nicht in verfassungsmäßiger Weise die Verwaltung ermächtigt haben, den Leistungsbeginn selbst beliebig und ohne Kontrollmöglichkeiten zu bestimmen, insbesondere zu entscheiden, wie sie das Verwaltungsverfahren fördere und wann sie die Ermittlungen als abgeschlossen betrachte.

Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat als Vertreter der zum Rechtsstreit beigeladenen Bundesrepublik Deutschland sich dem Vorbringen des Beklagten angeschlossen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Das SG hat zu Unrecht der Klage stattgegeben.

Der Härteausgleich, den der Beklagte der Klägerin gewährt hat (§ 89 Abs 1 und 2 BVG in der seit dem 3. Neuordnungsgesetz vom 28. Dezember 1966/20. Januar 1967 - BGBl 1967 I 141 - geltenden Fassung; Rundschreiben des BMA vom 25. August 1965, BVBl 1965, 118, Nr 79), beginnt nach § 89 Abs 3 BVG in der Fassung des Art 2 § 1 Nr 6 HStruktG-AFG frühestens mit dem Monat, in dem der Bescheid für die Verwaltungsbehörde bindend wurde, hier mit dem 1. Juli 1976.

Diese am 1. Januar 1976 in Kraft getretene Vorschrift erfaßt die Fälle wie den vorliegenden, die zu dem genannten Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen waren. Zur Begründung dieser Rechtsansicht des Senats wird auf die in der Sache 9/10 RV 43/77 am selben Tag ergangene Entscheidung verwiesen. Das wesentliche Ergebnis läßt sich wie folgt zusammenfassen: Da das HStruktG-AFG für Übergangsfälle nichts ausdrücklich besonders regelt, ist davon auszugehen, daß es von seinem Inkrafttreten ab für alle zukünftigen Entscheidungen gelten soll, für die es Anordnungen enthält. Die Übergangsvorschrift des Art 2 § 2 Abs 3 kann hier nicht entsprechend angewendet werden; denn sie betrifft die Witwenbeihilfe nach § 48 Abs 1 BVG (in der ab 1. Januar 1976 geltenden Fassung), die hier gerade ausgeschlossen ist, mithin das Inkrafttreten einer günstigeren Regelung. Insoweit mußte klargestellt werden, wann die Voraussetzungen gegeben sein müssen. Dagegen läßt sich allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnehmen, für welche Fälle die Verschlechterung der Rechtslage durch § 89 Abs 3 BVG nF gelten soll. Das HStruktG-AFG sollte mit sofortiger Wirkung zu nennenswerten Einsparungen führen und Übergangsfälle wie den vorliegenden erfassen. Das Verfahren über eine Witwenbeihilfe war am 1. Januar 1976 noch nicht abgeschlossen. Der Beklagte hat eine solche Leistung als Härteausgleich erst nachträglich durch einen konstitutiven Verwaltungsakt gewährt. Ohne eine solche Entscheidung kann die Ermessensleistung, die die Verwaltung mit Zustimmung des BMA bewilligen darf, wenn sich in einzelnen Fällen aus den Vorschriften dieses Gesetzes besondere Härten ergeben, wenn zB - wie hier - die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Witwenbeihilfe nicht vollständig gegeben waren, nicht verlangt werden. Schließlich waren nicht alle Umstände, die einen solchen Härteausgleich rechtfertigen, in der Vergangenheit abgeschlossen gegeben, als das HStruktG-AFG in Kraft trat. Das erforderliche wirtschaftliche Bedürfnis (Nr 2 der Verwaltungsvorschriften zu § 89 BVG) muß naturgemäß in jedem Bewilligungsmonat neu bestehen und festzustellen sein. Eine neue ungünstige Bestimmung auf einen derart "offenen" Sachverhalt anzuwenden, falls - wie hier - eine Übergangsvorschrift fehlt, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insoweit handelt es sich um eine "unechte Rückwirkung", der keine rechtlich geschützte Vertrauensstellung der Betroffenen entgegensteht. Die wechselvollen Verwaltungsvorschriften über den Beginn des Härteausgleichs rechtfertigen es nicht, daß die Empfänger einer solchen Leistung, die das gesetzliche Leistungssystem des BVG bloß ergänzen soll, sich hätten darauf verlassen können, es werde bei der erst seit 1969 geltenden Regelung bleiben, der Härteausgleich werde also stets mit dem Antragsmonat beginnen, wie dies grundsätzlich in den §§ 60 und 61 BVG angeordnet ist (Verwaltungsvorschrift zu § 61 BVG iVm Nr 5 der Verwaltungsvorschrift zu § 60 BVG idF vom 26. Juni 1969 - Beilage zum BAnz Nr 119 vom 4. Juli 1969 - iVm § 61 Buchst a und § 60 Abs 1 BVG). Hingegen ist die Anwendung des § 89 Abs 3 BVG nF auf Übergangsfälle dieser Art nicht als "echte Rückwirkung" zu werten, die durch das Gebot der Rechtsstaatlichkeit ausgeschlossen ist. Dafür hätten sämtliche Leistungsvoraussetzungen abgeschlossen in der Vergangenheit gegeben sein müssen, als das HStruktG-AFG in Kraft trat.

§ 89 Abs 3 BVG nF ist auch für sich betrachtet nicht verfassungswidrig. Daß Ermessensleistungen nicht für die Vergangenheit bewilligt werden, ist unserer Rechtsordnung nicht fremd (vgl die Rechtsprechung zur Auslandsversorgung und zur Zurückwirkung von Zugunstenbescheiden nach § 40 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung sowie § 40 Abs 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil -). Das gilt insbesondere dann, wenn - wie hier - etwas bewilligt wird, wofür die gesetzlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind, und wenn ein Bedürfnis verlangt wird, mithin eine rückwirkende Gewährung im allgemeinen zur Verrechnung mit anderen Sozialleistungen führen würde.

Der Gewaltenteilungsgrundsatz (Art 20 Abs 2 und 3 Grundgesetz) wird nicht dadurch verletzt, daß die Verwaltung den Zeitpunkt ihrer Entscheidung über einen Härteausgleich und damit dessen Beginn festlegen kann. Dies ist im Rahmen des Ermessens vertretbar. Eine willkürliche Verzögerung im Einzelfall könnte im Wege der gerichtlichen Kontrolle für rechtswidrig erklärt und vielfach durch eine Untätigkeitsklage (§ 88 SGG) verhindert werden. Die unterschiedliche Behandlung von Übergangsfällen und von abgeschlossenen Sachverhalten ist auch mit dem Gleichbehandlungsgebot (Art 3 Grundgesetz) vereinbar.

Da mithin die Entscheidung des Beklagten über den Leistungsbeginn rechtlich nicht zu beanstanden ist, muß die Klage als unbegründet abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1651820

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