Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung im nichtrevisiblen Landesgesetz auf revisibles Gesetz. Revisibilität von Landesgesetzen
Orientierungssatz
1. In den Fällen, in denen ein nichtrevisibles Landesgesetz auf ein revisibles Gesetz verweist, ist angewendetes Gesetz grundsätzlich nur das nichtrevisible Landesgesetz. Eine Ausnahme ist lediglich dann zu machen, wenn das Landesgesetz die an sich revisible Vorschrift nicht als Landesrecht qualifiziert sehen will, sondern gerade als Bundesrecht übernehmen wollte.
2. Bei der Regelung des Art 1 Abs 1 ZPflG BY liegt keine Übereinstimmung mit Bundesrecht vor, die auf einem Rahmengesetz des Bundes beruht und der bewußt angestrebten Vereinheitlichung eines Rechtsgebietes dient.
3. Die Tatsache, daß andere Länder der BRD Gesetze zu Gunsten der Zivilblinden mit ähnlichem Wortlaut erlassen haben, führt nicht zur Revisibilität der in diesen Landesgesetzen enthaltenen Normen.
Normenkette
ZPflG BY Art 1 Abs 1; ZPflG BY Art 1 Abs 2; SGG § 162
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.06.1988; Aktenzeichen L 2 J 1408/87) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 08.05.1987; Aktenzeichen S 13 J 2038/86) |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte der Klägerin Zivilblindenpflegegeld für die Zeit vom 1. April 1986 bis 31. März 1987 nach den Vorschriften des Landes Bayern zu gewähren hat.
Die 1956 geborene Klägerin, die den Beruf einer Masseurin erlernt hat, ist blind. Sie wohnt seit Juli 1983 im Blindenheim F. und ist dort mit ihrem ersten Wohnsitz gemeldet. Seit 1976 bezieht sie von dem Beigeladenen Landesblindenhilfe. Ab 20. März 1986 nahm sie auf Veranlassung des Arbeitsamtes F. an einer zunächst bis 30. September 1986 vorgesehenen "Trainingsmaßnahme für Telefonie" im Berufsförderungswerk des Süddeutschen Rehabilitationswerkes für erwachsene Blinde in V. teil. Die Förderungsmaßnahme dauerte schließlich für die Klägerin bis 1. April 1987. Sie wohnte während dieser Zeit im Internat des Berufsförderungswerkes und war in V. mit dem zweiten Wohnsitz gemeldet.
Einen auf Anregung des Beigeladenen von der Klägerin gestellten Antrag auf Gewährung von Zivilblindenpflegegeld nach dem für Bayern geltenden Landesrecht lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 15. April 1986 ab.
Die hiergegen erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 8. Mai 1987 ab. Die Berufung der Klägerin und die Anschlußberufung des Beigeladenen gegen dieses Urteil wies das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 13. Juni 1988 zurück. Zur Begründung führte das Gericht im wesentlichen näher aus, daß die Klägerin in der fraglichen Zeit vom 1. April 1986 bis 31. März 1987 in Bayern keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe und ihr deshalb kein Anspruch auf Gewährung von Zivilblindenpflegegeld nach Art 1 Abs 1 des Bayerischen Zivilblindenpflegegeldgesetzes (ZPflG) zustehe.
Die Klägerin und der Beigeladene haben dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie rügen die Verletzung materiellen Rechts und halten ihre bisher vertretene Auffassung aufrecht, daß die Klägerin in V. ihren Wohnsitz oder jedenfalls ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt habe.
Die Klägerin und der Beigeladene beantragen,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 8. Mai 1987 und das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 13. Juni 1988 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. April 1986 zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. April 1986 bis 31. März 1987 Zivilblindenpflegegeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die von der Klägerin und dem Beigeladenen eingelegten Revisionen als unbegründet zurückzuweisen.
Sie hält die von den Vorinstanzen vertretene Rechtsmeinung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die kraft Zulassung durch das LSG statthaften, form- und fristgerecht eingelegten und damit zulässigen Revisionen der Klägerin und des Beigeladenen sind nicht begründet. Sie sind nicht darauf gestützt, daß das angefochtene Urteil des LSG auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechtes oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Die Zurückweisung der Berufung durch das LSG gründet sich auf die Anwendung bayerischen Landesrechtes. Das Revisionsgericht ist daher gemäß § 162 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gehindert, zu der Rechtsanwendung durch das Berufungsgericht sachlich Stellung zu nehmen.
Das LSG hat den Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte in Anwendung des Bayerischen Gesetzes über die Gewährung von Pflegegeld an Zivilblinde vom 1. Oktober 1982 - Bayer. Gesetz und Verordnungsblatt 1982 S 868; inzwischen ersetzt durch Gesetz vom 25. Januar 1989, Bayer. Gesetz und Verordnungsblatt 1989 S 21 - verneint. Die rechtlichen Voraussetzungen dieser Anspruchsablehnung können somit, da sie sich auf Landesrecht stützt, vom Revisionsgericht nicht überprüft werden. Das gilt im besonderen auch für das Tatbestandsmerkmal, mit dem das Gesetz den berechtigten Personenkreis bestimmt.
Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG beschränkt den Anspruch auf Zivilblindenpflegegeld auf Personen, die "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" in Bayern haben. Art 4 Abs 2 Bayer. ZPflG bestimmt, daß in Angelegenheiten des Gesetzes das Erste und das Zehnte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB I und SGB X) und die Vorschriften des SGG über das Vorverfahren entsprechende Anwendung finden. Die Formulierung "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" wird auch in § 30 Abs 1 SGB I gebraucht. Aus dieser Übereinstimmung ist allerdings nicht zu folgern, daß die Regelung des Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG damit ihre Qualität als nichtrevisibles Landesrecht verloren hat. Es mag zwar durchaus sein, daß ein Landesgesetzgeber dann, wenn er dieselben Worte wie in einem Bundesgesetz verwendet und zusätzlich ausdrücklich auf dieses Bundesgesetz Bezug nimmt, die wortidentische Tatbestandsfassung des Landesgesetzes inhaltlich genauso verstanden wissen will, wie sie in dem Bundesgesetz zu verstehen ist. Das besagt aber noch nicht, daß er zugleich den Willen hatte, damit Bundesrecht unter Beibehaltung seines Charakters als Bundesrecht in sein Landesgesetz aufzunehmen.
In den Fällen, in denen ein nichtrevisibles Landesgesetz auf ein revisibles Gesetz verweist, ist angewendetes Gesetz grundsätzlich nur das nichtrevisible Landesgesetz. Eine Ausnahme ist lediglich dann zu machen, wenn das Landesgesetz die an sich revisible Vorschrift nicht als Landesrecht qualifiziert sehen will, sondern gerade als Bundesrecht übernehmen wollte (s BGHZ 10, 367, 371; BVerwGE 57, 204). Von einem solchen Ausnahmefall, daß der Landesgesetzgeber bei der Setzung seines (Landes-)Rechts Bundesrecht unter Beibehaltung dessen Eigenart als Bundesrecht übernehmen wollte, ist hinsichtlich der Wendung "ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" nicht auszugehen. Diese Wendung kommt in verschiedenen Gesetzen und Rechtsgebieten vor und ist als allgemein gültiger Rechtsbegriff nicht nur durch ihre definitorische Festlegung in § 30 Abs 3 SGB I, sondern auch etwa durch § 9 der Abgabenordnung von 1977 hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthaltes und durch § 7 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) bezüglich des Wohnsitzes in einer über die verschiedenen Spezialgesetze hinausgehenden Weise festgelegt.
Freilich kann in Einzelfällen aus dem Zweck eines einzelnen Gesetzes, in dem auf Wohnsitz, auf gewöhnlichen Aufenthalt oder auf "Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt" abgestellt wird, geschlossen werden, daß dort die Worte "Wohnsitz" und "Aufenthalt" in spezifischem Sinn zu verstehen sind. Beispiele hierfür geben die Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 15. Juni 1982 - 10 RKg 26/81; BSGE 53, 294, 295 = SozR 5870 § 1 Nr 10 -, 28. Juni 1984 - 3 RK 27/83; BSGE 57, 93, 95 = SozR 2200 § 205 Nr 56 - und 14. September 1989 - 4 REg 7/88 -. Im vorliegenden Rechtsstreit leitet die Beklagte ihre Auslegung der Begriffe "Wohnsitz" oder "gewöhnlicher Aufenthalt" gerade aus dem Sinn und Zweck des hier in Frage stehenden Landesgesetzes her. Sie macht damit selbst zu Recht deutlich, daß sich auch ein allgemein gebrauchter und definierter Begriff nicht gänzlich aus dem Zusammenhang lösen läßt, in dem er verwendet wird. Für die Frage der rechtlichen Qualität des Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG ist als Zusammenhang in diesem Sinn der Umstand zu nehmen, daß es sich bei dem vom LSG zur Entscheidung über die Klage angewendeten Gesetz um ein Landesgesetz handelt. Die in ihm enthaltenen Einzelvorschriften sind daher mangels einer ausreichenden Begründung für ein anderes Ergebnis in ihrer Qualität ebenfalls nur als Landesrecht einzuordnen.
Bei der Regelung des Art 1 Abs 1 Bayer. ZPflG liegt auch keine Übereinstimmung mit Bundesrecht vor, die auf einem Rahmengesetz des Bundes beruht und der bewußt angestrebten Vereinheitlichung eines Rechtsgebietes dient. In einem solchen Fall wäre es abweichend von dem oben Dargelegten möglich, Revisibilität anzunehmen (so BGH in VersR 1961, 471, 472; 1967, 902, 903).
Schließlich führt auch die Tatsache, daß andere Länder der Bundesrepublik Deutschland Gesetze zu Gunsten der Zivilblinden mit ähnlichem Wortlaut erlassen haben, nicht zur Revisibilität der in diesen Landesgesetzen enthaltenen Normen, s Gesetz über Landesblindenhilfe vom 8. Februar 1972, Baden-Württembergisches GBl 1972 S 56; Gesetz über die Gewährung von Leistungen an Zivilblinde, Gehörlose und Hilflose idF vom 12. Februar 1982, GVBl für Berlin 1982 S 535; Bremisches Gesetz über die Gewährung von Pflegegeld an Blinde und Schwerstbehinderte (Landespflegegeldgesetz) vom 31. Oktober 1972, Brem. GBl 1972 S 235; Gesetz über die Gewährung von Blindengeld idF vom 22. Dezember 1983, Hamburgisches GVBl 1983 S 343; Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde (Landesblindengeldgesetz) vom 25. Oktober 1977, Hess. GVBl 1977 I S 414; Gesetz über das Landesblindengeld für Zivilblinde idF vom 21. April 1975, Niedersächs. GVBl 1975 S 115; Landesblindengeldgesetz vom 16. Juni 1970, GV Nordrhein-Westfalen 1970 S 435; Landesgesetz über die Leistung von Pflegegeld an Schwerbehinderte (Landespflegegeldgesetz) vom 31. Oktober 1974, GVBl Rheinland-Pfalz 1974 S 466; Gesetz Nr. 761 über die Gewährung einer Blindheitshilfe idF vom 20. April 1982, Amtsbl. d. Saarlandes 1982 S 391; Gesetz über Landesblindengeld (Landesblindengeldgesetz) idF vom 5. August 1976, GVBl f. Schleswig-Holstein 1976 S 205. Zwischen den angeführten Landesgesetzen ist keine inhaltliche Übereinstimmung von der Art gegeben, daß trotz der gesetzesformal verschiedenen Vorschriften von einer gehaltlich deckungsgleichen Regelung - gewissermaßen von "gemeinsamen/gemeinen" Recht - gesprochen werden kann und muß. Die landesrechtlichen Vorschriften über Leistungsvoraussetzungen, -umfang und -berechtigte weisen zahlreiche, von Land zu Land wechselnde Verschiedenheiten auf und lassen nicht den Schluß zu, daß mit ihnen überall ein identisch verstandenes und gehandhabtes rechtliches Mittel zur sozialen Sicherung von Blinden normiert sein soll.
Da somit das Verständnis, das das LSG bei der Anwendung des Bayer. ZPflG in seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, revisionsgerichtlich nicht überprüft werden kann, muß es vom erkennenden Senat ohne materiell-rechtliche Stellungnahme dazu übernommen werden. Die von der Klägerin und dem Beigeladenen eingelegten Revisionen sind damit unbegründet und infolgedessen gemäß § 170 Abs 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen