Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Dienstverpflichtung

 

Orientierungssatz

1. Die zwangsweise Dienstverpflichtung eines Belgiers nach Deutschland während des 2. Weltkriegs ist nicht dem Beschäftigungsverhältnis zuzurechnen und kann als arbeitspolitische Maßnahme des Staates nicht ohne weiteres den Unfallversicherungsschutz auf den gesamten Aufenthalt des Beschäftigten erstrecken (vgl BSG 1972-01-21 2 RU 32/71 = SozR Nr 32 zu § 548 RVO).

2. Tätigkeiten eines Lagerinsassen, die auf Weisung der Leitung eines Ausländerlagers für Zwecke der Lagerverwaltung ausgeführt werden, können nach § 537 Nr 10 RVO aF unter Versicherungsschutz stehen. Zu solchen Tätigkeiten ist auch die Beseitigung des im Lager anfallenden Mülls zu rechnen.

 

Normenkette

RVO §§ 542-543, 537 Nr. 10; SozSichAbk BEL; SozSichAbkZVbg BEL 3

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.05.1970)

SG Düsseldorf (Entscheidung vom 20.07.1966)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 1970 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der Kläger zu 2) ist belgischer Staatsangehöriger. Er war während des zweiten Weltkrieges als dienstverpflichteter Arbeiter bei der Firma R in S beschäftigt, die ihn in ihrer Zweigniederlassung in W, W-straße, einsetzte. Dort wohnte der Kläger zu 2) in einem zum Betrieb gehörenden Fremdarbeiterlager. Das Wohnlager befand sich auf dem Betriebsgelände. Es bestand aus zwei Holzbaracken, in denen etwa 70-80 ausländische Arbeitskräfte untergebracht waren. Bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen am 17./18. April 1945 arbeitete der Kläger zu 2) für die Firma R. In einer Karteikarte der früheren Arbeitgeberin ist über den Kläger zu 2) vermerkt: "Entlassen 16.4.1945; Heimat zurück". Der Kläger zu 2) gelangte aber nach der faktischen Beendigung seiner Tätigkeit in dem Rüstungsbetrieb R nicht nach Belgien, sondern wohnte auch nach der Besetzung Wuppertals durch die alliierten Truppen auf deren Weisung zusammen mit anderen ausländischen Arbeitskräften zunächst weiter in seiner bisherigen Unterkunft. Die Besatzungstruppen stellten nach Angaben des Klägers zu 2) für die Lagerbewohner nunmehr einen Teil der Verpflegung und wiesen die Fremdarbeiter an, das Lager sauberzuhalten. Am 26. April 1945 gegen 14.00 Uhr war der Kläger zu 2) damit beschäftigt, den Akkumulator eines zum Betrieb der Firma R gehörenden Elektrokarrens aufzuladen. Er wollte mit diesem Fahrzeug anschließend den Lagermüll abfahren. Dabei verunglückte er und zog sich einen komplizierten Oberschenkelbruch rechts zu.

Wegen der Folgen des Unfalls erhält der Kläger zu 2) vom Königreich Belgien eine Rente nach den belgischen Rechtsvorschriften über Entschädigungsrenten für zivile Opfer des Krieges 1940 bis 1945 und ihre Hinterbliebenen vom 15. März 1954.

Im Januar 1959 beantragte das belgische Ministerium für Volksgesundheit und Familie bei der Beklagten unter Bezugnahme auf das deutsch-belgische Sozialversicherungsabkommen, eine Rente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Mit dem an den Kläger zu 2) gerichteten Bescheid vom 28. Oktober 1963 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, der Verletzte sei am Unfalltag nicht mehr für die Firma R tätig gewesen und der Unfall habe sich nicht während der versicherten Tätigkeit ereignet.

Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage des Klägers zu 2), der sich der Kläger zu 1) im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens unter Hinweis auf Art. 7 Abs. 3 der Dritten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 über die Zahlung von Renten für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Abkommens (BGBl II 1963, 404 ff, 438 ff - 3. ZV -) angeschlossen hat, durch Urteil vom 20. Juli 1966 abgewiesen: Ein Arbeitsunfall nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei nicht gegeben. Der Kläger zu 2) habe im Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis zur Firma R gestanden. Der Unfall habe sich bei der Verrichtung einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit ereignet.

Die Berufung der Kläger hat das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen durch Urteil vom 14. Mai 1970 zurückgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Gegenstand des Verfahrens sei der vom Kläger zu 2) und für ihn zugleich vom Kläger zu 1) geltend gemachte Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung wegen der Folgen der erlittenen Verletzung, soweit er nicht auf den Kläger zu 1) übergegangen sei, und der Anspruch des Klägers zu 1) aus übergegangenem Recht nach Art. 7 Abs. 3 3. ZV. Grundlage des geltend gemachten Anspruchs sei die Verordnung Nr. 3 des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft über die Soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer vom 25. September 1958 (BGBl II 1959, 473 ff - EWG-VO Nr. 3). Danach habe der Kläger zu 2) keinen Anspruch auf Gewährung von Entschädigungsleistungen aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung, weil es sich bei dem schädigenden Ereignis nicht um einen Arbeitsunfall i.S. der §§ 542 RVO aF, 548 RVO nF gehandelt habe. Der Kläger zu 2) sei verunglückt, als er den Akkumulator eines zum Betrieb gehörenden Elektrokarrens, der im Unfallzeitpunkt zum Abtransport des Lagermülls benutzt worden sei, habe aufladen wollen. Das schädigende Ereignis habe den Kläger zu 2) nicht bei der Verrichtung einer nach §§ 537 Nr. 1 RVO aF, 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO nF versicherten Beschäftigung betroffen. Im Unfallzeitpunkt habe der Kläger zu 2) nicht mehr in einem Beschäftigungsverhältnis zu der Firma R gestanden. Er habe auch keine Tätigkeiten im Rahmen des früher bestehenden Beschäftigungsverhältnisses für diese Firma durchgeführt oder durchführen wollen. Der Kläger zu 2) sei von seiner früheren Arbeitgeberin am 16. April 1945 entlassen worden. Mit der nachfolgenden Besetzung W durch amerikanische Truppen am 17./18. April 1945 sei der Betrieb der Firma R, in deren Zweigwerk in Barmen wegen Bombenschäden ohnehin seit Januar/Februar 1945 nicht gearbeitet worden sei, eingestellt worden. Allein der Umstand, daß sich der Unfall beim Hantieren mit einem der Firma R gehörenden Elektrokarren ereignet habe, vermöge keinen Unfallversicherungsschutz zu begründen. Durch die außerbetriebliche Benutzung eines Betriebsgerätes werde die notwendige innere Verknüpfung mit der versicherten Tätigkeit nicht hergestellt. Auch die Dienstverpflichtung ausländischer Arbeitskräfte rechtfertige es nicht, diesem Personenkreis einen über den Schutz während der Arbeit und auf dem Weg von und zur Arbeitsstätte hinausgehenden Versicherungsschutz zu gewähren. Das Verbleiben des Klägers zu 2) im Wohnlager seiner früheren Arbeitgeberin könne mit der bis zum Einmarsch der alliierten Truppen verrichteten versicherten Beschäftigung bei der Firma R nicht in einen rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang gebracht werden. Ein betriebliches Interesse der Firma R an dem weiteren Aufenthalt des Klägers zu 2) im früheren Betriebslager habe nach der Besetzung Wuppertals nicht mehr bestanden. Eine Wiederaufnahme der Arbeit sei nach Lage der Dinge nicht zu erwarten gewesen. Ausschlaggebend für den weiteren Aufenthalt der ausländischen Arbeitskräfte in ihren bisherigen Unterkünften sei das Interesse der Besatzungsmächte gewesen, bei den noch andauernden Kampfhandlungen für die vorrückenden Truppen und den Nachschub in den besetzten Gebieten freie Straßen und geordnete Verhältnisse zu schaffen. Aus dieser Interessenlage heraus hätten die alliierten Truppen im Rahmen allgemeiner Ordnungsmaßnahmen die heimkehrwilligen Fremdarbeiter in ihren bisherigen Lagerunterkünften belassen oder sie dorthin zurückgeführt. Der weitere Aufenthalt des Klägers zu 2) in dem Wohnlager auf dem Betriebsgelände seiner früheren Arbeitgeberin sei dem Aufenthalt von Privatpersonen in ihren Wohnungen gleichzustellen. Die Müllbeseitigung mit den dazugehörenden Vor- und Nebenarbeiten sei als Verrichtung im Rahmen der Fürsorge für die eigene Wohnung oder Unterkunft zu werten. Hierfür bestehe kein Versicherungsschutz. Die Anordnung der Besatzungstruppen, das Lager sauberzuhalten, sei mit einer allgemeinen Haus- oder Lagerordnung zu vergleichen. Durch sie werde eine rechtserhebliche Beziehung zur Firma R oder zu anderen Unternehmen nicht hergestellt, so daß auch keine Ansprüche aus §§ 537 Nr. 10 RVO aF, 539 Abs. 2 RVO nF hergeleitet werden könnten und die Beiladung eines anderen Versicherungsträgers nicht notwendig sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt und es wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des LSG sei nicht die EWG-VO Nr. 3 anzuwenden, sondern das Allgemeine Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien über Soziale Sicherheit vom 7. Dezember 1957 (BGBl II 1963, 404, 406 ff - Allgemeines Abkommen) sowie die 3. ZV. Das Allgemeine Abkommen regele die Wiedergutmachungsansprüche der bei ihrem Arbeitseinsatz während des Krieges in Deutschland verletzten belgischen Arbeitnehmer. Ein Versicherungsschutz ergebe sich aber auch nach den Bestimmungen der RVO. Die Beziehungen des Klägers zu 2) aus seinem Beschäftigungsverhältnis zur Firma R seien mit der Einstellung der Betriebstätigkeit nach dem Einmarsch der alliierten Truppen nicht beendet gewesen. Da die Firma R dem Kläger zu 2) das Wohnlager weiterhin zum Verbleib überlassen habe und die in dem Lager untergebrachten Fremdarbeiter aus der Küche der früheren Arbeitgeberin verpflegt worden seien, sei der weitere Aufenthalt des Klägers zu 2) in der Unterkunft auf dem Werksgelände als Nachwirkung seiner versicherten Tätigkeit anzusehen. Das LSG habe im übrigen nicht geprüft, ob ein Wegeunfall i.S. der §§ 543 Abs. 1 RVO aF, 550 RVO nF vorliege. Der Kläger zu 2) sei infolge der damaligen schwierigen Verhältnisse an der Rückkehr nach Belgien gehindert worden. Sein Ziel sei es nach seiner Entlassung am 16. April 1945 gewesen, die Familienwohnung in Belgien zu erreichen. Nach den Ermittlungen der Beklagten habe ein großer Teil der bei der Firma R beschäftigten Fremdarbeiter sogar versucht, sich in Richtung Belgien durchzuschlagen. Die Arbeiter seien jedoch von den Besatzungstruppen auf ihre alten Plätze zurückverwiesen worden. Private Interessen seien auch für den weiteren Aufenthalt des Klägers zu 2) im Lager nicht maßgebend gewesen. Die Verzögerung des Antritts der Heimfahrt sei - für ihn unabwendbar - auf die damalige verworrene Lage zurückzuführen. In der kurzen Zeit des Lageraufenthalts zwischen der Beendigung der versicherten Tätigkeit und dem Unfall sei der betriebliche Zusammenhang nicht gelöst worden. Jedenfalls sei Versicherungsschutz nach §§ 537 Nr. 10 RVO aF, 539 Abs. 2 RVO nF gegeben. Der Kläger zu 2) sei im Unfallzeitpunkt "wie ein Versicherter" tätig gewesen. Es müsse beachtet werden, daß nach den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung jeder Arbeitnehmer bei der Verrichtung aller Tätigkeiten, die er in einem Abhängigkeitsverhältnis ausübe, gegen Unfallgefahren versichert sein solle. Der Abtransport des Lagermülls sei nicht als eigenwirtschaftliche Verrichtung anzusehen. Die Sauberhaltung der im Eigentum der Firma R stehenden Baracken sei diesem Betrieb anzurechnen. Sonst komme aber ein anderer Versicherungsträger als leistungspflichtig in Betracht, etwa die Bundesrepublik Deutschland, die für die Folgen aus den Anordnungen der Besatzungsmächte einzustehen habe, oder der gemeindliche Versicherungsträger, weil der Unfall nach § 657 Abs. 1 Nr. 3 RVO zu entschädigen sei. Das LSG habe es zu Unrecht unterlassen, den zuständigen Versicherungsträger beizuladen.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 14. Mai 1970 und des Urteils des SG Düsseldorf vom 20. Juli 1966 sowie des Bescheides der Beklagten vom 28. Oktober 1963 zu verurteilen, an den Verletzten für die Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. April 1945 ab diesem Zeitpunkt eine dem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit angemessene Verletztenrente zu gewähren, soweit der Anspruch nicht auf das Königreich Belgien übergegangen ist, und der Beklagten aufzuerlegen, dem Verletzten die außergerichtlichen Kosten für drei Instanzen zu erstatten,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuverweisen.

Sie hält die Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend und macht geltend: Die Unfälle der belgischen Fremdarbeiter im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland während des zweiten Weltkrieges seien vom Königreich Belgien und der Bundesrepublik Deutschland in ihren internationalen Vereinbarungen übereinstimmend den Regeln der seinerzeitigen deutschen gesetzlichen Unfallversicherung unterstellt worden. Die belgischen Fremdarbeiter seien somit unfallversicherungsrechtlich nicht anders zu behandeln als deutsche und sonstige inländische Unfallverletzte nach der RVO. Dagegen habe man den verunglückten belgischen Arbeitnehmern nicht schlechthin eine Wiedergutmachung zukommen lassen wollen. Der Schutz der deutschen Unfallversicherung trete nur ein, wenn ein Unfall in einer rechtlich wesentlichen Beziehung zu dem versicherten Betrieb stehe. Unfälle bei eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten, insbesondere während der Freizeit und außerhalb der Betriebsstätte, seien immer unversichert gewesen. Wenn von diesem Grundsatz zugunsten der belgischen Fremdarbeiter mit Rücksicht auf ihr Zwangsarbeitsverhältnis eine Ausnahme gemacht werde, so käme man zu dem Ergebnis, daß die deutschen Unfallversicherungsträger letztlich keine Unfallentschädigung, sondern reine Wiedergutmachung zu gewähren hätten. Das sei aber nicht beabsichtigt gewesen. Die belgischen Opfer der nationalsozialistischen Zwangsherrschaft seien auch nicht nur vorübergehend außerhalb ihres gewöhnlichen Wohnsitzes tätig gewesen, sondern zu einem lange dauernden Aufenthalt an ihrem neuen Arbeitsort in Deutschland verbracht worden, so daß auch die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zum Unfallversicherungsschutz bei Dienst- und Geschäftsreisen nicht zu einer anderen Beurteilung führen könnten.

II

Die Revisionen sind zulässig und auch insoweit begründet, als die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.

Die Berechtigung des Königreiches Belgien zur Einlegung der Revision hinsichtlich der Ansprüche des Klägers zu 2) ergibt sich aus Art. 7 Abs. 3 2. Halbsatz 3. ZV idF des Artikels 5 des Zusatzprotokolls vom 10. November 1960 (abgedruckt bei Plöger/Wortmann, Deutsche Sozialversicherungsabkommen mit ausländischen Staaten, Teil X - Belgien - S. 46, 48 - vgl. auch Urteil des 2. Senats vom 21. Januar 1972 - 2 RU 32/71 -).

Die Klagen sind jedoch - soweit sie sich gegen die Beklagte richten - unbegründet. Dem Kläger zu 2) steht ein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente aus der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung gegen die Beklagte nicht zu.

Wie der Senat bereits in dem Urteil vom 21. Januar 1972 - 2 RU 32/71 - ausgeführt hat, beurteilen sich die Voraussetzungen für den geltend gemachten Anspruch unabhängig davon, ob im vorliegenden Fall die EWG-VO Nr. 3 mit der in ihren Anhang D aufgenommenen 3. ZV (vgl. Art. 6 Abs. 2 Buchst. e EWG-VO Nr. 3) oder ob das deutsch-belgische Allgemeine Abkommen i.V.m. der 3. ZV anzuwenden ist, nach den deutschen Rechtsvorschriften, die im Unfallzeitpunkt in Kraft waren. Es kann deshalb auch hier auf sich beruhen, ob der Kläger zu 2) zu dem in Art. 4 Abs. 1 EWG-VO Nr. 3 aufgeführten Personenkreis gehört oder gehört hat und daher diese Verordnung maßgebend ist (vgl. Art. 5 Buchst. a EWG-VO Nr. 3), oder ob das Allgemeine Abkommen gilt, das für die belgischen (und deutschen) Staatsangehörigen weiter anzuwenden ist, die nicht unter die EWG-VO Nr. 3 fallen (vgl. Beschluß Nr. 8 der EWG-Kommission vom 18. September 1959, abgedruckt bei Plöger/Wortmann, aaO, Teil XVIII - EWG -, Art. 5 EWG-VO Nr. 3, S. 8,9).

Die Voraussetzungen für eine Unfallentschädigung durch die Beklagte nach den §§ 537-541, 542 RVO idF des 6. Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. März 1942 (6. ÄndG) - RGBl I 1942, 107 - (RVO aF) sind nicht gegeben.

Der Kläger zu 2) gehörte allerdings als Arbeitnehmer der Firma R zu dem in der deutschen gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personenkreis, da er in einem Beschäftigungsverhältnis i.S. des § 537 Nr. 1 RVO aF zu dieser Firma gestanden hat. In diesem Zusammenhang kann dahinstehen, ob der Kläger zu 2) auf Grund der NotdienstVO vom 15. Oktober 1938 - RGBl I 1441 - in ein Notdienstverhältnis mit Beschäftigungsverhältnis (§ 3 der 2. Durchführungs-VO zur NotdienstVO vom 10. Oktober 1939 - RGBl 2018) einberufen oder ob er nach der Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung vom 13. Februar 1939 (KräftebedarfsVO) - RGBl I 206 ff - zur Arbeit in der Rüstungsindustrie dienstverpflichtet wurde (vgl. Urteile des 2. Senats vom 21. Januar 1972 - 2 RU 32/71 und 2 RU 109/70 -). § 1 Abs. 4 der NotdienstVO und § 1 Abs. 2 der KräftebedarfsVO, die eine Dienstverpflichtung ausländischer Arbeitskräfte ausschlossen), sind durch die Anordnung Nr. 10 des Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz vom 22. August 1942 (RABl 1942, 382) i.V.m. der 6. VO des Militärbefehlshabers in Belgien und Nordfrankreich vom 6. Oktober 1942 (VOBl MBN 1942, 1059) außer Kraft gesetzt worden.

Die unfallbringende Tätigkeit steht jedoch mit der versicherten Tätigkeit bei der Firma R nicht in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die nicht von dem zu berücksichtigenden Wiedergutmachungssachverhalt nach Art. 6 Satz 1 3. ZV abweichen und von der Revision mit Verfahrensrügen nicht angegriffen worden sind, ist der Kläger zu 2) verunglückt, als er den Akkumulator eines Elektrokarrens der Firma R aufladen wollte. Der Elektrokarren sollte zum Abtransport des Lagermülls benutzt werden. Diese Tätigkeit gehörte im Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr zu dem Aufgabenkreis des Klägers zu 2) als Arbeitnehmer der Firma R. Der Aufenthalt im Lager nach Einstellung der Betriebstätigkeit und nach der Entlassung des Klägers zu 2) durch die Firma R diente nicht mehr deren betrieblichen Belangen. Die weitere Unterbringung der ausländischen Arbeitskräfte auf dem Werksgelände lag vielmehr im Interesse der Besatzungstruppen und ist - nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - auch von diesen veranlaßt worden. Es braucht deshalb nicht entschieden zu werden, ob der Transport von Müll durch Elektrokarren zu den Besonderheiten des Wohnlagers gehört. Bei der Bewertung der Unfallursachen ist unter Berücksichtigung dieses Sachverhalts die Beziehung zur Firma R durch die frühere Tätigkeit des Klägers zu 2) im Betrieb und durch Benutzung eines Betriebsgerätes auf dem Gelände der früheren Arbeitgeberin als rechtlich unwesentlich anzusehen. Die zwangsweise Dienstverpflichtung des Klägers zu 2) rechtfertigt keine andere Beurteilung. Sie ist nicht dem Beschäftigungsverhältnis zuzurechnen und kann als arbeitspolitische Maßnahme des Staates nicht ohne weiteres den Unfallversicherungsschutz auf den gesamten Aufenthalt des Beschäftigten erstrecken (vgl. Urteil vom 21. Januar 1972 - 2 RU 32/71 -).

Der Kläger zu 2) stand im Unfallzeitpunkt auch nicht nach § 543 Abs. 1 RVO aF oder nach dem Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) vom 26. September 1942 (AN 1942, 512) unter Versicherungsschutz. Ein sog. Wegeunfall setzt begrifflich ein Sichfortbewegen auf einer Strecke, die durch einen Ausgangs- und Zielpunkt begrenzt ist, voraus (BSG 11, 156, 157). Der Kläger zu 2) befand sich zur Zeit des Unfalls aber nicht auf dem Rückweg in seine Heimat Belgien oder zur Familienwohnung, sondern er wohnte weiterhin am Ort seiner früheren Tätigkeit.

Hat das LSG somit zu Recht einen Entschädigungsanspruch gegen die Beklagte verneint, stimmt ihm der Senat jedoch darin nicht zu, daß auch kein anderer Versicherungsträger als leistungspflichtig in Betracht kommen kann.

Nach den Feststellungen des LSG blieben die bei der Firma R tätig gewesenen ausländischen Arbeitnehmer auf Weisung der alliierten Truppen weiterhin im Lager ihres Betriebes. Nach Angaben des Klägers zu 2) sollen diese Truppen auch einen Teil der Verpflegung gestellt und angeordnet haben, das Lager sauber zu halten. Ein möglicher Versicherungsschutz des Klägers zu 2) bei der zum Unfall führenden Tätigkeit hängt davon ab, wer die Verwaltung des Betriebslagers nach der Besetzung W durch die alliierten Truppen übernommen oder eingesetzt hat. Wie der Senat bereits entschieden hat (BSG 22, 49), können Tätigkeiten eines Lagerinsassen, die auf Weisung der Leitung eines Ausländerlagers für Zwecke der Lagerverwaltung ausgeführt werden, nach § 537 Nr. 10 RVO aF unter Versicherungsschutz stehen. Zu solchen Tätigkeiten ist auch die Beseitigung des im Lager anfallenden Mülls zu rechnen. Welcher Versicherungsträger für die Entschädigung eines bei dieser Tätigkeit erlittenen Unfalls in Betracht kommt, hängt davon ab, wer im Zeitpunkt des Unfalls Unternehmer des Lagers gewesen ist, ob dies noch die Besatzungstruppe oder schon eine von dieser beauftragte deutsche Stelle war. Nach den gegebenen Umständen ist allerdings auch nicht ausgeschlossen, daß die Lagerinsassen ihr Lager in gesellschaftsähnlicher Form selbst verwalteten.

Der vom LSG festgestellte Sachverhalt reicht zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus. Die Sache war daher nach § 170 Abs. 2 SGG an das LSG zurückzuverweisen. Von ihm wird insbesondere zu klären sein, wie die Verwaltung des Lagers geregelt war und welcher Versicherungsträger als zuständiger Versicherungsträger in Betracht kommt und beizuladen ist.

Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1649864

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