Entscheidungsstichwort (Thema)

Handwerk. selbständige Ausübung in Oberschlesien (polnisch) nach 1945. Handwerkerversicherung in Polen. Fremdrentenrecht und Handwerkerversicherung in Polen

 

Leitsatz (amtlich)

Zeiten von 1946 bis 1965-06-30, in denen ein Handwerker in Oberschlesien ein Handwerk selbständig ausgeübt hat, können nicht nach FRG §§ 15, 16 auf die Wartezeit angerechnet werden.

 

Normenkette

RVO § 1249 Fassung: 1965-06-09, § 1250 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1263 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09; FRG § 15 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25, § 15 VÄndV 2 § 1 Nr. 6 Fassung: 1973-04-27

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 18. Juni 1974 wird aufgehoben. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 12. Juni 1973 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Es ist umstritten, ob die Klägerin Witwenrente beanspruchen kann.

Die Klägerin, Vertriebene, stammt aus Oberschlesien. Sie ist im Jahre 1970 in die Bundesrepublik übergesiedelt. Ihr 1883 geborener Ehemann, der Versicherte, war bis zu seinem Tod am 16. März 1968 selbständiger Uhrmachermeister in B. Beiträge des Versicherten zur Arbeiterrentenversicherung und Angestelltenversicherung als Handwerker sind nicht festgestellt. In der Auskunft der Allgemeinen Versicherungsanstalt, Abteilung B, Rentenabteilung, vom 5. Oktober 1971 heißt es, der Versicherte habe in der Zeit vom 1. Januar 1946 bis 16. März 1968 eine Uhrmachermeisterwerkstatt geführt und sei in dieser Zeit "mit dem Rentengrundsatz von 2.300 Zloty aufgenommen" gewesen. In ihrer Auskunft vom 13. März 1972 ist gesagt, er habe in der Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1965 eine gewerbliche Uhrmachermeisterei geführt; für diese Zeit sei er nach den polnischen Vorschriften "zum Erhalt des Ruhestandgeldes einbezogen"; für die Zeit vom 1. Juli 1965 bis 31. März 1968 seien wiederum Versicherungsbeiträge eingezahlt worden (wird im einzelnen aufgeführt); der Versicherte habe Ruhegeld nicht bezogen; der Klägerin sei die Familienrente nach den bestehenden Vorschriften für Handwerker zuerkannt worden.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Dezember 1970 die Gewährung von Hinterbliebenenrente ab: Die Wartezeit sei mangels eines in der Zeit von Januar 1924 bis November 1948 entrichteten Brückenbeitrags mit einer Versicherungszeit während der Lehrzeit und Gesellentätigkeit von 1900 bis 1903, gekürzt auf 5/6, und der Versicherungszeit von Juli 1965 bis März 1968 in der polnischen Handwerkerversicherung nicht erfüllt (§ 1 Nr. 6 der Verordnung über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen i. d. F. vom 23. April 1973 - BGBl I 362).

Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 12. Juni 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte zur Gewährung von Witwenrente verpflichtet; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 18. Juni 1974).

Das LSG hat im wesentlichen sinngemäß ausgeführt, mit polnischen Versicherungsbeiträgen des Versicherten für die Zeit von April 1946 bis Juni 1965 sei die Wartezeit erfüllt. Es komme nicht darauf an, ob Beiträge auf Pflicht oder Freiwilligkeit beruhten und ob der Versicherte eine sogenannte Selbstversicherung begonnen habe. Die nach dem Wortlaut von § 1 Buchst. a, §§ 14, 15 Abs. 1 Satz 1 des Fremdrentengesetzes (FRG) uneingeschränkte Gleichstellung der Beiträge sei auch mit dem Entschädigungsgedanken zu begründen. Die Betroffenen sollten, soweit sie Beiträge an eine gesetzliche Rentenversicherung gezahlt hätten, auf jeden Fall eine Gegenleistung erhalten. Der Versicherte sei nicht aus irgendeinem beliebigen Grund in die Versicherung aufgenommen worden, sondern weil er einer selbständigen Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Daraus folge zwar nicht, daß er pflichtversichert gewesen sei, aber die Versicherungsanstalt als solche sei eine Einrichtung gewesen, in die in erster Linie abhängig beschäftigte Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen seien.

Die Beklagte hat Revision eingelegt und beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Sie rügt eine Verletzung des § 15 FRG. Die polnische Allgemeine Versicherungsanstalt, Abt. Breslau, habe eine Beitragsentrichtung für die Zeit von der Einführung der polnischen Handwerkerversicherung an - vom 1. Juli 1965 bis 31. März 1968 - bestätigt. Da der Versicherte 1946 älter als 45 Jahre gewesen sei, sei er nach dem damals geltenden polnischen Sozialversicherungsrecht nicht zur freiwilligen Weiterversicherung berechtigt gewesen. Er habe in der Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1965 allenfalls Beiträge in einen Sonderfonds für selbständige Handwerker entrichtet. Ein solcher sei jedoch vom polnischen Sozialversicherungsrecht nicht erfaßt gewesen und habe deshalb kein System der sozialen Sicherheit für abhängig Beschäftigte im Sinn des § 15 Abs. 2 FRG dargestellt. Art. 7 und 8 des polnischen Gesetzes über die Sozialversicherung für Handwerker vom 29. März 1965 (Gesetzblatt der Volksrepublik Polen 1965, 101) ergäben zwar, daß auch die vor Inkrafttreten des Gesetzes zurückgelegten Zeiten der selbständigen Ausübung eines Handwerkes für die Feststellung einer Rente erheblich seien. Dabei handele es sich aber nicht um übergegangene oder gleichgestellte Beitragszeiten, sondern nur um fiktive Versicherungszeiten, die bei der Rentenberechnung berücksichtigt würden.

Die Klägerin ist nicht vertreten.

Die Revision ist zulässig und begründet.

Die Wartezeit von 60 Kalendermonaten ist nicht erfüllt (§ 1263 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Eine Versicherungszeit von 1900 bis 1903 kann nicht angerechnet werden, weil kein in der Zeit zwischen dem 1. Januar 1924 und dem 30. November 1948 entrichteter sogenannter Brückenbeitrag vorhanden und keine Gesamtversicherungszeit von 180 Kalendermonaten zurückgelegt ist (§ 1249 Satz 2 Buchst. a und b RVO). Die während der Zeit von Juli 1965 bis März 1968 zurückgelegte Versicherungszeit von 33 Kalendermonaten reicht zur Erfüllung der Wartezeit nicht aus (§ 1249 Satz 1 RVO).

Für den umstrittenen Zeitraum von Januar 1946 bis Juni 1965 sind keine nach dem Fremdrentenrecht anrechnungsfähige Beitragszeiten vorhanden (§ 15 FRG). Dies ergibt sich aus § 1 der Verordnung (VO) über die Anerkennung von Systemen und Einrichtungen der sozialen Sicherheit als gesetzliche Rentenversicherungen vom 11. November 1960 i. d. F. vom 27. April 1973 unter Berücksichtigung des polnischen Sozialversicherungsrechts.

Als das Wohngebiet des Versicherten nach dem Zweiten Weltkrieg unter polnische Verwaltung kam, galten in Polen das Sozialversicherungsgesetz vom 28. März 1933 (mit späteren Änderungen) und die VO über die Angestelltenversicherung (Geistesarbeiter) vom 24. November 1927 i. d. F. vom 15. März 1934 (vgl. Internationales Arbeitsamt, Genf, Gesetzesreihe 1933 und 1934, jeweils unter "Polen"). Danach unterlagen der Pflichtversicherung allgemein Personen, die in einem Lohnarbeits- oder Dienstverhältnis standen, sowie Angestellte und bestimmte als Angestellte geltende Personengruppen. Selbständig tätige Uhrmacher waren von dieser Pflichtversicherung nicht erfaßt. Nach Art. 12 des Gesetzes vom 28. März 1933 und Art. 4 der VO vom 24. November 1927 i. d. F. vom 15. März 1934 konnten Personen, die der Versicherungspflicht nicht unterlagen und das 45. Lebensjahr nicht überschritten hatten, unter bestimmten weiteren Voraussetzungen der Versicherung freiwillig beitreten. Der Versicherte war dazu schon zu alt.

Am 1. Juli 1954 trat das Dekret über die allgemeine Pensionssicherung der Arbeitnehmer und ihrer Familien vom 25. Juni 1954 in Kraft (siehe Internationales Arbeitsamt, Genf, Legislative Series, 1954, Poland 2). Auch sie erfaßt nur Beschäftigte und einige gleichgestellte Personengruppen (Art. 1 und 4). Die VO vom 24. November 1927 mit ihren späteren Änderungen und große Teile des Gesetzes vom 28. März 1933 traten außer Kraft (Art. 99). Selbständig erwerbstätige Handwerker sind auch in dieses Dekret nicht einbezogen.

Das polnische Gesetz vom 29. März 1965 über die Sozialversicherung für Handwerker regelt die Pflichtversicherung von Handwerkern und "Personen, die mit ihnen zusammenarbeiten" (Art. 1). Handwerker im Sinne dieses Gesetzes sind Personen, welche ein selbständiges Handwerk aufgrund der erforderlichen Gewerbegenehmigung ausüben (Art. 2). Sie sind verpflichtet, Beiträge zu entrichten (Art. 6 und 36). In Art. 44 Nr. 1 sind zahlreiche Artikel des Dekrets vom 25. Juni 1954 für entsprechend anwendbar erklärt. Das Gesetz enthält aber keine Aufhebung anderer früherer Vorschriften. Es werden nur die Personen, die mit Handwerkern zusammenarbeiten und von der gesetzlichen Pflichtversicherung erfaßt sind, aus dem Anwendungsbereich des Dekrets vom 25. Juni 1954 und des Gesetzes vom 28. März 1933 (mit den späteren Änderungen) herausgenommen. Diese Übergangsvorschriften zeigen deutlich, daß vor dem Gesetz vom 29. März 1965 selbständige Handwerker nicht von polnischen Sozialversicherungsgesetzen erfaßt waren.

Die rechtliche Bedeutung der Auskünfte der Versicherungsanstalt, Abteilung Breslau, der Versicherte sei in der umstrittenen Zeit "aufgenommen" und "einbezogen" gewesen, ergibt sich aus den Vorschriften des Gesetzes vom 29. März 1965. Nach Art. 24 aaO setzt die Familienrente, die die Klägerin bezogen haben soll, voraus, daß der Verstorbene die zum Erhalt einer Altersrente oder einer Invalidenrente erforderlichen Bedingungen erfüllte. Zu diesen Bedingungen gehört u. a. eine gewisse Gesamtversicherungsdauer (Art. 16, 17, 21 aaO, Art. 38 des Dekrets vom 25. Juni 1954). Darauf werden die Kalendermonate angerechnet, in denen der Handwerker pflichtversichert war, falls dafür Beiträge entrichtet sind (Art. 7 aaO). Ferner wird die Zeit der selbständigen Ausübung des Handwerks auf dem Gebiet des polnischen Staates vor Inkrafttreten des Gesetzes angerechnet (Art. 8 aaO; vgl. ferner Art. 17, 21, 40 aaO).

Das Gesetz vom 29. März 1965 unterscheidet also zwischen der Zeit, in der der Handwerker nach den Vorschriften dieses Gesetzes pflichtversichert war und Beiträge entrichtet hat, einerseits und andererseits zwischen der Zeit der selbständigen Ausübung des Handwerks vor Inkrafttreten dieses Gesetzes. Demnach wurden nach den Auskünften der Versicherungsanstalt, Abteilung Breslau, auf die Gesamtversicherungsdauer des Versicherten die Beitragszeit vom 1. Juli 1965 bis 31. März 1968 als Versicherungszeit im Sinne des Art. 7 des Gesetzes und die Zeit vom 1. Januar 1946 bis 30. Juni 1965 als Zeit der Ausübung des Handwerks im Sinne des Art. 8 des Gesetzes angerechnet. Für eine Beitragsleistung in der Zeit vor dem 1. Juli 1965 während der Ausübung des Handwerks enthält das Gesetz vom 29. März 1965 nichts. Vielmehr weist Art. 41 der Übergangsvorschriften aaO, der Handwerker, die schon vor Inkrafttreten des Gesetzes mit der Ausübung des Handwerks aufhörten und Familien von verstorbenen Handwerkern betrifft, auf "Beihilfen aus den Fonds des Verbandes der Handwerkskammern" hin, die diese Personen vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 29. März 1965 empfingen. Dies zeigt, daß es außerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung eine standeseigene Handwerkerversorgung gab. Es liegt daher nahe, daß der Versicherte Beiträge an eine Handwerkskammer oder dgl. entrichtet hat.

Bei Fonds der Handwerkskammern handelt es sich nicht um ein "System der sozialen Sicherheit, in das in abhängiger Beschäftigung stehende Personen durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind" (§ 15 Abs. 2 Satz 1 FRG), denn die Handwerker standen nicht in einem Beschäftigungsverhältnis. Die Fonds des Verbandes der Handwerkskammern mit wohl vorhandenen Bestimmungen über Einzahlungen und Gewährung von Beihilfen sind auch nicht als eine "Einrichtung" im Sinne des § 15 Abs. 2 Satz 2 FRG anzusehen, denn für selbständige Handwerker bestand kein Erfordernis, einem System der sozialen Sicherheit, wie in § 15 Abs. 2 Satz 1 FRG beschrieben, anzugehören. Dies ergibt sich aus den obengenannten Gesetzen und Verordnungen aus den Jahren 1933, 1934 und 1954.

§ 15 FRG bietet keine rechtliche Grundlage, finanzielle Aufwendungen, die ein Versicherter in der Eigenschaft als selbständiger Handwerker für sein Alter und seine Hinterbliebenen erbracht hat, durch Gewährung von Rentenleistungen zu entschädigen. § 15 FRG verwirklicht zwar den Entschädigungsgedanken, während § 16 FRG das Eingliederungsprinzip für "Beschäftigte" durchführt, zu denen der Versicherte als selbständiger Handwerker nicht gehörte. Der Entschädigungsgedanke ist jedoch eng auf Beitragszeiten im Sinne des § 15 Abs. 1 und 2 FRG beschränkt. Selbst Zeiten, für die nach fremdem Recht sogenannte Anwartschaftsgebühren entrichtet wurden, um erworbene Rechte in der Sozialversicherung aufrechtzuerhalten, sind keine Beitragszeiten im Sinne des § 15 FRG. Umso weniger sieht das Fremdrentenrecht allgemein eine Entschädigung für Beiträge vor, die nicht in Systemen und zu Einrichtungen im Sinne des § 15 FRG, sondern an außerhalb der Sozialversicherung liegende Institutionen zum Zweck der Alters- und Hinterbliebenensicherung geleistet wurden.

Somit besteht kein Rechtsgrund, die Zeit der selbständigen Erwerbstätigkeit des Versicherten als Versicherungszeit auf die Wartezeit für die Hinterbliebenenrente anzurechnen. Da die Wartezeit nicht erfüllt ist, ist ein Rentenanspruch der Klägerin nicht begründet. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben und die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1649135

BSGE, 82

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