Entscheidungsstichwort (Thema)
Geschiedenenwitwenrente. tatsächliche Unterhaltsleistung. Zusammenleben früherer Eheleute. Berücksichtigung eines vermögenswerten Vorteils
Orientierungssatz
Unterhalt iS von § 1265 RVO leistet nur derjenige Versicherte, der den wirtschaftlichen Lebensbedarf des anderen früheren Ehepartner unabhängig davon befriedigt, ob dieser eine Gegenleistung erbringt (Festhalten an BSG 21.6.1963 12/4 RJ 170/60 = SozR Nr 13 zu § 1265 RVO).
Normenkette
RVO § 1265 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 29.01.1985; Aktenzeichen L 5 J 143/84) |
SG Lübeck (Entscheidung vom 05.04.1984; Aktenzeichen S 1 J 168/83) |
Tatbestand
Streitig ist eine sog Geschiedenen-Witwenrente (§ 1265 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Die 1930 geborene Klägerin ist die frühere, seit 1958 aus beiderseitigem Verschulden rechtskräftig geschiedene Ehefrau des am 8. Januar 1982 verstorbenen, bei der beklagten Landesversicherungsanstalt (LVA) versichert gewesenen Schlossers Alfred P (P.). Eine Unterhaltsvereinbarung ist im Zuge der Scheidung nicht abgeschlossen worden. Seit 1960/1961 lebten die geschiedenen Eheleute in dem der Klägerin gehörenden Einfamilienhaus wieder zusammen und führten einen gemeinsamen Haushalt. Im einzelnen hat das Landessozialgericht (LSG) hierzu festgestellt: Die Klägerin habe den Haushalt geführt. Der Versicherte habe Hausreparaturen gemacht, teilweise auch die Gartenarbeiten. Die Klägerin habe im Jahr vor dem Tode des Versicherten - 1981 - aus einer Teilzeitbeschäftigung etwas über 10.000,-- DM netto (= etwa 833,-- DM monatlich) erzielt. Der monatliche Nettoverdienst des Versicherten habe 1.500,-- DM betragen. Von seinem Konto seien die Versicherungsbeiträge, Abgaben für Strom, Wasser, Müll und Grundsteuern, Radio- und Telefonkosten, Bausparkassenbeiträge und die Kosten einer gemeinsamen Urlaubsreise beglichen worden. Außerdem habe er regelmäßig Zahlungen für Einkäufe geleistet. Auch das Auto habe er finanziert. Vermögen oder wesentliche Sparguthaben habe er nicht hinterlassen.
Mit Bescheid vom 21. März 1983 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente aus der Versicherung Alfred P.'s ab, da dieser der Klägerin keinen Unterhalt iS von § 1265 Satz 1 RVO geleistet habe.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 5. April 1984 abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG am 29. Januar 1985 das Urteil des SG sowie den angefochtenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Februar 1982 Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 RVO aus der Versicherung des Alfred P. zu gewähren: Dieser sei zwar nicht verpflichtet gewesen, der Klägerin Unterhalt zu zahlen, habe ihr jedoch im letzten Jahr vor dem Tod (1981) regelmäßig Unterhalt geleistet (§ 1265 Satz 1 "2. Alternative" RVO). Entscheidend sei, daß beide Partner annähernd gleichwertige Arbeitsleistungen erbracht, praktisch ihr gesamtes jeweiliges Einkommen in die Lebensgemeinschaft eingebracht und zur gemeinsamen Lebensführung verbraucht hätten. Dies ergebe sich vor allem aus dem Umstand, daß Alfred P. kein wesentliches Vermögen hinterlassen habe. Da sein Nettoeinkommen erheblich höher gewesen sei als das der Klägerin, habe sein Beitrag den der Klägerin deutlich übertroffen. Dafür spreche insbesondere das von Alfred P. gezahlte "Taschengeld" in Höhe von 300,-- DM monatlich. Selbst bei isolierter Betrachtung habe es sich dabei um eine Unterhaltsleistung gehandelt, die 25 vH des zeitlich und örtlich notwendigen Mindestbedarfs gemäß § 22 Abs 3 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) iVm der hier einschlägigen Regelsatzverordnung in Höhe von 81,-- DM überschritten habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 1265 RVO und der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Alfred P.'s Beiträge zur Haushaltsgemeinschaft könnten objektiv nur als Gegenleistung für die von der Klägerin eingebrachten Werte verstanden werden, es sei denn, sein Beitrag sei deutlich höher gewesen als der der Klägerin. Bei richtiger Bewertung hätten seine Leistungen die der Klägerin jedoch nicht überstiegen. Zu diesem Zweck hätte der Wert der Haushaltsführung der Klägerin bzw der der Gartenarbeiten und Hausreparaturen P.'s ermittelt und die beiderseitigen vollständigen Leistungen gegenüber gestellt werden müssen.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1985 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 5. April 1984 zurückzuweisen, hilfsweise, die Rückverweisung der Sache an das Landessozialgericht.
Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 29. Januar 1985 zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist iS der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Nach § 1265 Abs 1 Satz 1 RVO in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421) wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 ua geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (Regelung 1) oder aus sonstigen Gründen zu leisten hatte (Regelung 2) oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat (Regelung 3).
Eine Unterhaltsverpflichtung Alfred P.'s gegenüber der Klägerin zur Zeit seines Todes aufgrund des Ehegesetzes oder aus sonstigen Gründen, also die Voraussetzungen der Regelungen 1 und 2 aaO, hat das LSG bei dem von ihm festgestellten Sachverhalt verneint. Dies ist unter den Beteiligten nicht streitig. Streitig ist allein, ob P. der Klägerin im letzten Jahr vor seinem Tod im Sinne der Regelung 3 aaO tatsächlich Unterhalt geleistet hat. Diese Frage kann aus folgenden Gründen noch nicht abschließend beantwortet werden:
Das LSG hat im angefochtenen Urteil in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, daß die Klägerin und ihr früherer geschiedener Ehemann Alfred P. zur Zeit vor dessen Tod "wieder einen gemeinsamen Haushalt führten und wie Eheleute zusammenlebten" (S 7 aaO). An diese Feststellungen ist der Senat mangels eines verfahrensrechtlichen Angriffs der Beklagten hiergegen gebunden (§ 163 SGG). Einen mit diesem Sachverhalt vergleichbaren Fall hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits in seinem Urteil vom 21. Juni 1963 (BSGE 19, 185 = SozR Nr 13 zu § 1265 RVO) entschieden und ausgeführt: Die wieder zusammenlebenden geschiedenen Eheleute hätten nach der Fallage zueinander gerade nicht in einem Verhältnis von Unterhaltsberechtigtem und Unterhaltsverpflichtetem gestanden. Wenn das Gesetz in § 1265 RVO die tatsächliche Unterhaltsleistung der Unterhaltspflicht aufgrund früherer Ehe völlig gleichstelle, könne "Unterhalt leisten" - gleichgültig ob eine Verpflichtung hierzu bestehe oder nicht bestehe - nur bedeuten, den wirtschaftlichen Lebensbedarf des anderen früheren Ehepartners unabhängig davon zu befriedigen, ob dieser eine Gegenleistung erbringe. In einem nur eheähnlichen Verhältnis dagegen würden die Unterhaltsleistungen vielfach nur mit Rücksicht auf die von der früheren Ehefrau ihrerseits erbrachten Leistungen hingegeben. In einem solchen Fall sei in der Regel keine Gewähr dafür gegeben, daß der wirtschaftliche Lebensbedarf auch dann noch und weiterhin befriedigt werde, wenn die Gegenleistungen wegfielen, zB der weibliche Partner der eheähnlichen Beziehung nicht mehr den Haushalt führe oder in ihm nicht mehr mithelfe. Auch im - vom BSG seinerzeit - zu entscheidenden Fall hätten den Leistungen des Versicherten an die frühere geschiedene Frau beträchtliche Gegenleistungen von ihrer Seite in Gestalt der Versorgung des Haushalts und der Mithilfe im Geschäft gegenübergestanden. Ob der "sicherlich seltene" Ausnahmefall vorgelegen habe, in dem "erwiesen" sei, daß der Versicherte den Lebensbedarf auch ohne Gegenleistung gewährt hätte, lasse sich nicht entscheiden; es fehle an entsprechenden tatsächlichen Feststellungen.
An dieser Rechtsauffassung ist festzuhalten. Sie entspricht in allen Elementen der Begründung auch der nachfolgenden ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl dazu zB SozR Nr 19 zu § 1265 RVO; BSGE 46, 11, 12 = SozR 2200 § 1265 Nr 29; BSGE 46, 16, 17 = SozR 2200 § 1265 Nr 31; SozR 2200 § 1265 Nr 45; zum Erfordernis der Berücksichtigung nicht nur von Geldleistungen vgl zB BSGE 31, 90, 97 = SozR Nr 7 zu § 1266 RVO; SozR 2200 § 1266 Nr 14 und 21; BVerfGE 17, 1, 20) sowie dem Schrifttum (vgl zB Zweng/Scheerer/Buschmann, Handbuch der Rentenversicherung, 2. Aufl, § 1265 Anm II B a) S. 15; Verbandskomm., Stand Juli 1985, Band II Anm 12 S. 13). Hinzu tritt bei der Prüfung des § 1265 Satz 1 RVO in jedem Fall das Erfordernis, daß die Leistungen des Versicherten wirtschaftlich ins Gewicht fallen und wenigstens 25 vH des nach Sozialhilfegrundsätzen - ohne Berücksichtigung der Aufwendungen für Unterkunft - zu bestimmenden Mindestbedarfs der früheren Ehefrau erreichen (BSGE 53, 256, 258f = SozR 2200 § 1265 Nr 63; SozR 2200 § 1265 Nr 65).
Für den konkreten Fall folgt hieraus:
Sieht man vorerst von dem - noch zu erörternden - fraglichen "Taschengeld" ab, so haben die im Hause der Klägerin wie Eheleute zusammenlebenden, insbesondere einen gemeinsamen Haushalt führenden geschiedenen Ehepartner nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG "in und aus einem Topf" gewirtschaftet, indem sie ihr beiderseitiges Einkommen eingebracht und auch gemeinsam verbraucht haben. Nach der vorstehend angeführten Entscheidung des BSG vom 21. Juni 1963 (aaO S 187) ist es dem LSG nicht erlaubt, aus diesem - typisch liegenden - Sachverhalt den Schluß zu ziehen, daß die zusammenlebenden früheren Eheleute ihren jeweiligen Beitrag zum gemeinsamen Haushalt nicht als Gegenleistung erbracht hätten; um solches anzunehmen bedürfte es der Darlegung der Tatumstände, die den Schluß auf einen anders liegenden "sicherlich seltenen Ausnahmefall" zuließen. Dem tritt der erkennende Senat bei. Ein geschiedenes, dh ohne Eheband zusammenlebendes Paar sieht und sucht nach der allgemeinen Lebenserfahrung regelmäßig - auch - den materiellen Vorteil, den diese gemeinsame Lebensführung für jeden der Partner offenkundig bietet. Ein solches Verhältnis ist nach bewährter Lebenserfahrung regelmäßig von den auf der Hand liegenden Vorteilen eines wechselseitigen "Gebens und Nehmens" geprägt (zur Revisibilität von Erfahrungssätzen vgl zB Albers in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 44. Aufl, § 550 Anm 2 S 1308; Thomas/Putzo, ZPO, 12. Aufl, § 284 Anm 6 b; Christel, NJW 1984, S 267; Rauscher, SGb 1986, 45, 47 mwN). Zwar hat das LSG auch ausgeführt, daß der Versicherte im Jahr vor seinem Tode deutlich mehr verdient habe als die Klägerin; es hat aber zugleich herausgestellt, daß beide Partner der gemeinsamen Haushaltsführung "gleichwertige Arbeitsleistungen erbracht" hätten. Da die Klägerin nach den bindenden Feststellungen im angefochtenen Urteil im Verhältnis zu dem vollschichtig erwerbstätig gewesenen Versicherten aber nur Teilzeitarbeit geleistet und den Haushalt allein geführt hat, lassen die Ausführungen des LSG nicht erkennen, daß der Beitrag des Ehemannes zum gemeinsamen Haushalt überwogen hätte. Soweit das LSG auf das höhere Netto-Bareinkommen des Versicherten Bezug genommen hat, stand dem der offensichtlich größere Umfang der Arbeitsleistung der Klägerin in Haus und Garten gegenüber, ferner die - im angefochtenen Urteil im Gesamtzusammenhang schlüssig festgestellte - Tatsache, daß diese den früheren Mann in ihrem Einfamilienhaus miet- und entschädigungsfrei hat wohnen lassen, - ein vermögenswerter Vorteil von sicher erheblichem Umfang. Insgesamt ist bei der vom LSG eindrucksvoll herausgestellten typischen Fallage des "aus und in einen Topf Wirtschaftens" nichts festzustellen, was die dargestellten Erfahrungssätze widerlegen und den Schluß auf einen atypischen "seltenen Ausnahmefall" rechtfertigen könnte.
Offen ist insbesondere noch die Bewertung des Umstands, daß Alfred P. der Klägerin monatlich regelmäßig einen Betrag von 300,-- DM unter der Bezeichnung "Taschengeld" gezahlt hat (vgl hierzu auch BSG in SozR Nr 16 zu § 1265 RVO). Den - knappen - Ausführungen des LSG zu diesem Punkt ist nicht zu entnehmen, daß es sich hierbei um eine von einer Gegenleistung der Klägerin unabhängige Zuwendung zur Abdeckung allein von deren laufenden Lebensbedarf handeln könnte. Im Widerspruch zu einer solchen Annahme stehen die Feststellungen des Berufungsgerichts, daß die Klägerin und ihr früherer Mann wie Eheleute praktisch in und aus einem Topf gewirtschaftet hätten und "ihr beiderseitiges Einkommen in die gemeinsame Lebensführung eingebracht und auch gemeinsam verbraucht" hätten; auch habe P. kein Vermögen hinterlassen (S 10 aaO). Ungeklärt bleibt insbesondere, wie P. bei dieser Sachlage hätte in der Lage und veranlaßt sein können, der Klägerin rund 20 vH seines monatlichen Netto-Bareinkommens ohne Gegenleistung zur Deckung ihres persönlichen Bedarfs zur Verfügung zu stellen. Der vom LSG festgestellte Sachverhalt könnte zB aber Anlaß zu der Annahme bieten, unter dem "Taschengeld" einen Betrag zu verstehen, den die Klägerin von dem Versicherten für die Führung des gemeinsamen Haushalts, aber ohne besondere Auflagen und Zweckbindung erhalten hat.
Der Annahme des LSG, bei dem monatlichen "Taschengeld" habe es sich um Unterhalt an die Klägerin gehandelt, liegen nach allem keine widerspruchsfreien, ausreichend klaren Tatsachenfeststellungen vor, an die der Senat gebunden sein könnte.
Diese Feststellungen hat das LSG demgemäß noch zu treffen; zu diesem Zweck mußte der Senat das angefochtene Urteil aufheben und die Sache an die Vorinstanz zurückverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der abschließenden Entscheidung in der Sache vorbehalten.
Fundstellen