Entscheidungsstichwort (Thema)

Besonderes wirtschaftliches Betroffensein durch Vertreibungsschaden

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der besondere wirtschaftliche Schaden muß ursächlich auf den Tod des Ehemannes zurückgehen. Die Gewährung der erhöhten Ausgleichsrente - gerade im Gegensatz zur gewöhnlichen Ausgleichsrente - setzt ein besonderes wirtschaftliches Betroffensein der Witwe voraus, das "durch den Verlust ihres Ehemannes" entstanden sein muß.

2. Es ist nicht zu beanstanden, daß das LSG bei dem sehr begrenzten Angebot landwirtschaftlicher Betriebe oder geeigneten Siedlungslandes es nicht als wahrscheinlich angesehen hat, daß der verstorbene Ehemann in einem Alter von 58-60 Jahren ohne eigene ins Gewicht fallende Mittel sich in der Bundesrepublik Deutschland eine neue landwirtschaftliche Existenz aufgebaut hätte.

 

Normenkette

BVG § 41 Abs. 3 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 28. Januar 1966 wird als unbegründet zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Mit Bescheid des Versorgungsamtes (VersorgA) vom 11. Juli 1962 wurde der Antrag der Klägerin auf Gewährung der erhöhten Ausgleichsrente nach § 41 Abs. 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) idF des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I, 453) - aF - abgelehnt, weil ihr verschollener Ehemann (R) als landwirtschaftlicher Verwalter kein Einkommen erzielt haben würde, das das Vierfache der Grund- und Ausgleichsrente der Klägerin von zusammen 200,- DM erreicht. Nach erfolglosem Widerspruch verpflichtete das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 30. Oktober 1964 den Beklagten, der Klägerin die erhöhte Ausgleichsrente gemäß § 41 Abs. 3 BVG aF zu gewähren. Die Berufung wurde zugelassen. Nach der überzeugenden Darstellung des Bauernverbandes der Vertriebenen in Mainz hätte R entweder als landwirtschaftlicher Verwalter oder als Melker monatlich sicherlich über 800,- DM verdient. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 28. Januar 1966 das SG-Urteil auf und wies die Klage ab. § 41 Abs. 3 BVG könne nur auf solche Fälle angewandt werden, in denen das besondere wirtschaftliche Betroffensein wesentlich durch den Verlust des Ehemannes verursacht werde, während ein auf anderen Ursachen beruhender Vermögensschaden außer Betracht bleiben müsse. Das Einkommen des R, das dieser erzielt hat (1. Alternative), habe entscheidend auf dem landwirtschaftlichen Besitz in Ostpreußen beruht, der durch die Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse von 1945 verloren gegangen sei. Hätte die Klägerin den landwirtschaftlichen Betrieb weiterführen können, würde sie etwa das gleiche Einkommen aus dem Betrieb erzielt haben. Auch nach der 2. Alternative des § 41 Abs. 3 BVG bestehe kein Anspruch, weil es nicht wahrscheinlich sei, daß R, falls er noch lebte, das Vierfache des Einkommens der Klägerin erzielt hätte. Daß R früher als die Klägerin (1957) in die Bundesrepublik gekommen wäre, sei nicht wahrscheinlich. Aber auch wenn er einige Jahre vor 1957 übergesiedelt wäre, sei es nicht wahrscheinlich, daß er im Alter von 58 - 60 Jahren ohne eigene ins Gewicht fallende finanzielle Mittel sich in der Bundesrepublik eine neue landwirtschaftliche Existenz aufgebaut oder als Melker über 800,- DM monatlich verdient hätte. Der vom Bauernverband der Vertriebenen genannte Betrag von ca. 1000,- DM könne bei den in Rheinland-Pfalz bestehenden Verhältnissen nicht zugrunde gelegt werden. Die Landwirtschaftsschule und Beratungsstelle Koblenz habe ebenso wie die Landwirtschaftskammer Rheinland-Nassau ein Einkommen von ca. 530,- DM monatlich angegeben. Dieser Bewertung müsse der Vorzug vor der des Bauernverbandes gegeben werden, zumal R 1960 - auf diesen Zeitpunkt komme es hier an, weil die erhöhte Ausgleichsrente erst durch das 1. NOG vom 27. Juni 1960 eingeführt worden sei - bereits 67 Jahre alt gewesen wäre und wahrscheinlich nicht mehr gearbeitet hätte. Über den Antrag auf Schadensausgleich nach § 40 a BVG nF sei noch kein Bescheid ergangen.

Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung des § 41 Abs. 3 BVG idF des 1. NOG und als Verfahrensmängel Verletzung der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Hinterbliebenenrente werde grundsätzlich auch dann gewährt, wenn durch den Verlust des Ehemannes bzw. Vaters überhaupt kein wirtschaftlicher Nachteil entstanden sei; eine Kausalitätsprüfung finde insoweit nicht statt. Die Witwe habe sonach Anspruch auf Ausgleichsrente, ohne daß es auf die Kausalität zwischen Tod und wirtschaftlichem Schaden ankomme; daher sollte folgerichtig auch bei § 41 Abs. 3 Satz 1 BVG aF keine weitere Kausalitätsprüfung gefordert werden. Wenn das LSG unterstelle, daß die Klägerin bei einer Weiterführung des landwirtschaftlichen Betriebes etwa das gleiche Einkommen aus dem Betrieb erzielt haben würde, so sei das eine durch keine Tatsachen belegte unzutreffende hypothetische Erwägung, da die Klägerin den Betrieb in Ostpreußen nicht allein hätte weiterführen können. Ein Betrieb von etwa 40 ha verlange den vollen körperlichen und geistigen Einsatz des Mannes, außerdem habe die Klägerin damals 5 minderjährige Kinder versorgen müssen. Die Anhörung der Klägerin und des Zeugen T (soll wohl "T" heißen), sowie Auskünfte bei der Landwirtschaftskammer und dem Bauernverband der Vertriebenen hätten ergeben, daß die Klägerin einen Verwalter einstellen oder den Betrieb hätte verpachten müssen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 30. Oktober 1964 zurückzuweisen,

hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Das LSG-Urteil sei zutreffend, die Verfahrensrügen griffen nicht durch.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG); sachlich ist sie jedoch nicht begründet.

Nach § 41 Abs. 3 BVG aF erhöht sich die volle Ausgleichsrente auf 150,- DM, wenn die Witwe durch den Verlust ihres Ehemannes wirtschaftlich besonders betroffen ist; letzteres ist der Fall, wenn ihre Einkünfte einschließlich der Grund- und Ausgleichsrente nicht ein Viertel des Einkommens ihres Ehemannes erreichen, das dieser erzielt hat (1. Alternative) oder voraussichtlich erzielt hätte (2. Alternative). Zutreffend hat das LSG die Auffassung vertreten, daß diese Vorschrift nur auf solche Fälle Anwendung findet, in denen das besondere wirtschaftliche Betroffensein durch den Verlust des Ehemannes, nicht aber durch einen auf sonstigen Ursachen beruhenden Vermögensschaden (Vertreibungsschaden) verursacht wird. In gleichem Sinne hat bereits der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) (vgl. SozR Nr. 11 zu § 41 BVG) entschieden. Hiernach deutet sowohl das Wort "durch" in Satz 1 des Abs. 3 aaO als auch der bei Ansprüchen nach dem BVG grundsätzlich vorausgesetzte ursächliche Zusammenhang mit einer Schädigung im Sinne des Gesetzes darauf hin, daß der besondere wirtschaftliche Schaden im Sinne des § 41 Abs. 3 BVG aF ursächlich auf den Tod des Ehemannes zurückgehen muß. Der Senat ist dieser Auffassung schon in seinem Urteil vom 26. April 1967 - 9 RV 620/64 - beigetreten. Er hat hier ausgesprochen, daß im Falle des § 41 Abs. 3 BVG aF nur solche Einkommensverluste zu berücksichtigen sind, bei denen der Tod im Sinne der Kausalitätsnorm eine wesentliche Bedingung der Einkommensminderung gewesen ist.

Der Einwand der Revision, es komme bei der Gewährung der Grundrente und an sich auch der Ausgleichsrente nicht auf eine Kausalität zwischen Tod und wirtschaftlichem Schaden an, weshalb auch im Falle des § 41 Abs. 3 BVG aF keine Kausalitätsprüfung erfolgen dürfe, verkennt, daß die Gewährung der erhöhten Ausgleichsrente - gerade im Gegensatz zur gewöhnlichen Ausgleichsrente - ein besonderes wirtschaftliches Betroffensein der Witwe voraussetzt, das "durch den Verlust ihres Ehemannes" entstanden sein muß. Es genügt hier daher nicht, das letzte tatsächlich erworbene oder - unabhängig von sonstigen Vermögensschäden - voraussichtlich erzielte Einkommen des Ehemannes den Einkünften der Witwe gegenüberzustellen; vielmehr muß damals durch den Tod des Ehemannes für die Witwe ein wirtschaftlicher Schaden verursacht worden sein, und dieser muß weiter fortwirken (vgl. BSG in SozR aaO). Diejenigen Mindereinkünfte der Witwe, die auf die Folgen der Vertreibung aus Ostpreußen zurückzuführen sind, müssen außer Betracht bleiben, da die Vertreibung insoweit die alleinige Ursache für den Einkommensverlust darstellt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1967 - 9 RV 620/64 -). Das LSG hat daher bei der Erörterung der 1. Alternative des § 41 Abs. 3 BVG aF zutreffend die Einkünfte aus dem landwirtschaftlichen Anwesen in Ostpreußen unberücksichtigt gelassen, da diese durch die Vertreibung aus den Ostgebieten und nicht durch den Tod des R in Wegfall kamen (vgl. auch BSG in SozR Nr. 12 zu § 41 BVG).

Die Rüge der Revision, das LSG hätte - ohne weitere Sachaufklärung - nicht unterstellen dürfen, daß die Klägerin, wenn sie den landwirtschaftlichen Betrieb hätte weiterführen können, etwa das gleiche Einkommen aus dem Betrieb erzielt haben würde, erscheint zwar zutreffend, diese Feststellung des LSG ist jedoch für die Entscheidung unwesentlich. Mit diesem Hinweis sollte nur näher erläutert werden, daß das frühere Einkommen "entscheidend auf dem landwirtschaftlichen Besitz in Ostpreußen" beruhte, was sicher richtig und auch von der Revision nicht angegriffen ist. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich aber, daß es im vorliegenden Fall nicht darauf ankommt, welches Einkommen die Klägerin - oder auch R - aus dem durch Vertreibung verlorenen Betrieb in Ostpreußen erzielt hat oder hätte.

Die Feststellungen des LSG zur 2. Alternative des § 41 Abs. 3 BVG aF, d. h. zu der Frage, ob R (in der Bundesrepublik) wahrscheinlich ein Einkommen von 800,- DM oder mehr erreicht hätte, sind von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen; sie lassen auch eine Gesetzesverletzung nicht erkennen. Das LSG hat es bei dem sehr begrenzten Angebot landwirtschaftlicher Betriebe oder geeigneten Siedlungslandes nicht als wahrscheinlich angesehen, daß R in einem Alter von 58 - 60 Jahren ohne eigene ins Gewicht fallende Mittel sich in der Bundesrepublik eine neue landwirtschaftliche Existenz aufgebaut hätte. Dies ist nicht zu beanstanden. Die in § 41 Abs. 3 BVG aF vorgeschriebene Beurteilung eines vermutlichen individuellen Geschehensablaufs (vgl. auch BSG, Urteil vom 26. Januar 1967 - 8 RV 323/65 -) ist mit zahlreichen Faktoren belastet, die einer sicheren Feststellung eines fiktiven Geschehens entgegenstehen. Auf Grund einer Anzahl wirklich oder nur scheinbar vergleichbarer Umstände - hierzu sei auf die Aussage des Bruders der Klägerin, T, hingewiesen - kann allenfalls ermittelt werden, was einem Teil der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen gelungen ist, nicht aber, was in der individuellen Lage des R als wahrscheinlich gelten könnte; deshalb lassen auch etwaige statistische Durchschnittsergebnisse noch keinen überzeugenden Schluß auf die Erfolgsaussichten einer Existenzneugründung im Einzelfall zu (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1967 - 9 RV 620/64 -). Zu der Frage, welche Einkünfte R als Verwalter wahrscheinlich erzielt hätte, konnte sich das LSG als ausreichende Grundlage auf die Auskünfte der Landwirtschaftsschule und Beratungsstelle K sowie der Landwirtschaftskammer R stützen und mußte nicht dem Bauernverband der Vertriebenen folgen. Es mußte auch nicht annehmen, daß R als Melker 1960 800,- DM verdient hätte, nachdem von den Behörden sogar für einen Betriebsleiter für 1960/61 nur 6.375,- DM jährlich genannt worden sind bzw. für einen Verwalter 1962 etwa 6.400,- DM jährlich (einschließlich der Naturalbezüge). Die Landwirtschaftskammer hat 1962 für Spitzenstellungen, d. h. für Verwalter und Inspektoren, die nach allgemeinen Anweisungen selbständig disponieren, als höchstes monatliches Gesamtbruttogehalt bei über 12 Berufsjahren nur 790,- DM für Verheiratete angegeben.

Schließlich begegnet auch der Hinweis des LSG, daß R 1960 bereits 67 Jahre alt gewesen wäre und wahrscheinlich nicht mehr gearbeitet hätte, keinen rechtlichen Bedenken. Auf diesen Zeitpunkt konnte das LSG im vorliegenden Fall abstellen, da § 41 Abs. 3 BVG aF erst durch das 1. NOG vom 27. Juni 1960 eingeführt worden ist. Bei Prüfung dieses Anspruchs ist auch in Betracht zu ziehen, ob der Ehemann über das 65. Lebensjahr hinaus berufstätig geblieben wäre (BSG in SozR Nr. 12 zu § 41 BVG).

Da das Urteil des LSG nach alledem nicht zu beanstanden war, mußte die Revision als unbegründet zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2291018

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